Gastkommentar: Große Koalition – ein Gefangenendilemma

Prof. Ferdinand Karlhofer, Leiters des Instituts für Politikwissenschaft der Uni Innsbruck, über die aktuelle politische Situation in Österreich und das Dilemma der Großen Koalition.
Prof. Ferdinand Karlhofer
Prof. Ferdinand Karlhofer

In einer der bekanntesten Versionen der sozialwissenschaftlichen Spieltheorie – dem Gefangenendilemma – geht man von zwei Beteiligten aus, die sowohl Partner als auch Kontrahenten sind. Sie sind Partner, weil sie ein Problem lösen müssen, das sie zum beiderseitigen Nutzen am besten gemeinsam angehen sollten. Zugleich sind sie aber Gegner, weil beide davon ausgehen, dass der jeweils eine sich einen Vorteil auf Kosten des anderen zu verschaffen versucht. Am besten funktioniert die Partnerschaft, wenn die beiden Akteure ungleich groß sind; am größten ist die Rivalität, wenn sie gleich groß sind. Übertragen auf das Thema dieses Beitrags heißt das: eine Kleine Koalition ist deutlich weniger konfliktanfällig als eine Große.

 

Situation wie in Deutschland

Nicht nur Österreich hat eine Große Koalition (seit Februar 2006), auch Deutschland hat eine (seit November 2005). In beiden Ländern war schon allein die Regierungsbildung eine mühsame Angelegenheit. In beiden Fällen war der Abstand zwischen stärkster und zweitstärkster Partei äußerst knapp, so knapp, dass die bisherigen Kanzler – hier Schüssel, dort Schröder – in ihren ersten Stellungnahmen am Wahlergebnis herum interpretierten, es als eine Art Unfall darstellten und sich erst nach einiger Zeit in die neue Situation fügten.

Schon gar nicht dachte man daran, eine Koalition der beiden größten Parteien zu bilden. In Deutschland führte die Suche nach einem geeigneten Bündnis zu nach Flaggenfarben benannten Kuriositäten. Beispielsweise stand Jamaica für die einigermaßen unrealistische Kombination Schwarz-Grün-Gelb. Am Ende führte kein Weg an der Großen Koalition vorbei, einziger Ausweg wären Neuwahlen gewesen, die aber niemand riskieren wollte. Nicht anders war es in Österreich: Rot-Grün und Schwarz-Grün hatten keine Mehrheit, Schwarz-Blau/Orange war wegen der Spaltung der FPÖ kein Thema. Unvermeidlich fanden sich SPÖ und ÖVP in einem Verhandlungskorridor, der nur einen Ausgang hatte – eben die Bildung einer Großen Koalition. Keine Koalition der Zweiten Republik kam mit derart offen bekundetem Widerwillen zustande wie die 2006/07 gebildete.

 

Ein Jahr voller Dissonanzen und Querschüssen

Dass die ÖVP der SPÖ nur widerstrebend die Legitimität für den Kanzler-Anspruch zubilligte, war schon allein daran abzulesen, dass der Noch-Kanzler die ÖVP-Delegation in den Regierungsverhandlungen leitete und Schlüsselministerien (Inneres, Finanzen, Wirtschaft) für seine Partei beanspruchte. Die SPÖ übernahm Ressorts mit stärker gesellschaftspolitischem Bezug; das hat eine gewisse Logik, allerdings nur solange man die Vetoposition des Regierungspartners bei legislativen Initiativen außer Acht lässt. Dass gerade die Ministerien für Soziales, für Unterricht und für Justiz die bevorzugten Austragungsorte für den Austausch von „Unfreundlichkeiten“ sind, wird es der SPÖ jedenfalls nicht leicht machen, am Ende der Periode mit herzeigbaren Erfolgen zu bilanzieren.

 

Große Koalition – sinnvoll nur in Ausnahmesituationen

Im Langzeitverlauf seit 1945 hat es sich bei der Mehrzahl der Regierungen um Große Koalitionen gehandelt. Höhepunkt waren die Regierungen 1945-1966. Ein Bezugspunkt für heute können diese aber nicht sein, zu spezifisch waren die historischen Bedingungen. Schon die Jahre 1986-2000 waren nicht vergleichbar damit, denn es war die Zeit des Aufstiegs des Rechtspopulismus und der Defensive des Proporzsystems von SPÖ und ÖVP. Erinnert man sich aber der Wegbereitung für den EU-Beitritt 1995, dann konnte nur eine große Koalition das leisten. Das ist denn auch der zentrale Punkt: Eine Große Koalition ist sinnvoll, wenn Aufgaben anstehen, für die es eine Zweidrittel-Mehrheit braucht. Mit einer Maßnahme – der Verfassungsbereinigung im Dezember 2007 – hat die amtierende Koalition sich durchaus bewährt. Das „Herzstück“ der Regierungsarbeit dagegen – die seit dem Ö-Konvent längst überfällige Staatsreform – ist gerade wieder einmal gescheitert. Ein unangreifbares Argument ist die Verfassungsmehrheit ohnedies nicht, namentlich wenn der Wille fehlt, sie konstruktiv einzusetzen.

Weder SPÖ noch ÖVP wollten und wollen diese Koalition. Dass es schlicht keine Alternative gab und sie sich in einem Dilemma befinden, wie eingangs beschrieben, ist nicht ihre Schuld. Wie sie damit umgehen, freilich schon. Ein Blick nach Deutschland zeigt, dass man bei allen Differenzen eine Große Koalition auch anders gestalten kann.

 

Mehrheitswahlrecht als Ausweg?

Die aktuellen Turbulenzen der österreichischen Bundesregierung sind ohne den 4. Februar 2000 nicht zu erklären. Die damals antretende Koalition aus ÖVP und FPÖ veränderte das Land ebenso abrupt wie nachhaltig. Mit einer scharfen Zäsur wandelte sich die für die Zweite Republik prägende Konsensdemokratie zu einer Konfliktdemokratie, und nicht von ungefähr wurde der Politikstil mit den postdemokratischen Zügen der Regierung Berlusconi verglichen.

Für die kommende Wahl zeichnet sich ein weiterer Bruch ab. Die Regierungsbilanz wird nicht positiv ausfallen, weil das dafür nötige Minimum an Synergien fehlt. Aller Voraussicht nach werden beide Großparteien Stimmen einbüßen; gleichzeitig wird der fast schon notorisch mit demokratischen Grundsätzen in Konflikt stehende rechte Rand wieder zulegen. Die Regierungsbildung könnte wieder genauso schwierig werden wie 2006. Ein Ausweg könnte das inzwischen immer breiter diskutierte Mehrheitswahlrecht sein. Das wieder hätte tiefgreifende Auswirkungen auf das Parteiensystem und die politische Kultur insgesamt. Wer würde – nur ein Beispiel – Grün wählen, wenn die Partei auch bei 15 Prozent Stimmenanteil mit kaum mehr als einer Handvoll Abgeordneter rechnen kann?