Gastkommentar Stefanie Gartlacher: … lost in translation

Stefanie Gartlacher hat im Februar ihr Studium der Internationalen Wirtschaftswissenschaften an der Universität Innsbruck abgeschlossen. Jetzt befindet sie sich für ein fünfmonatiges Berufspraktikum in China und liefert von dort regelmäßige Berichte an Josef Nussbaumer und Andreas Exenberger von der Fakultät für Volkswirtschaft und Statistik.
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Ein Sonnenuntergang über Wuxi neben den rasch wachsenden Hochhaustürmen.

Der folgende Text ist zweifellos sehr subjektiv und daher an manchen Stellen sicher überzogen. Nach einem Monat Aufenthalt in China befinde ich mich immer noch in einem Zustand zwischen absolutem Kulturschock, Staunen, Unverständnis und Verlorenheit, was hier durchaus auch zum Ausdruck kommen soll. Ich hoffe aber, dass ich mit meinem Kommentar niemanden zu nahe trete, denn das wäre nicht sein Sinn.

 

Atemberaubendes Wachstum

So bin ich nun seit rund einem Monat in Wuxi, einer chinesischen Kleinstadt (d.h. etwa fünf Millionen Einwohner) ca. 150 Kilometer nord-westlich von Shanghai. Noch nie davon gehört? Keine Sorge, dabei handelt es sich nicht um eine Wissenslücke, sondern es liegt wohl daran, dass Wuxi bis vor ein paar Jahren noch nicht wirklich existierte. Natürlich gibt es diese Stadt schon seit drei Jahrtausenden, aber wirklich an „Bedeutung“ gewonnen hat sie erst in den letzten Jahren und mit dem wirtschaftlichen Aufschwung kamen auch die „global players“. Sony, Bosch, General Electric, Siemens, Panasonic, AGFA und sehr viele mehr reihen sich an den hübschen, neu angelegten, breiten Straßen von Wuxi aneinander.

Nun, ich persönlich bevorzuge es ja, für die Stadt den Namen „Disneyland“ zu verwenden. Dieser spiegelt nämlich meinen Gesamteindruck am besten wider. Ein Beispiel: neben der Anlage, in der ich wohne, wird gerade ein neuer Wohnkomplex errichtet. An und für sich ja nicht wirklich etwas Außergewöhnliches. Nur der Umfang dieses Projektes erstaunt mich immer wieder. Es stehen dort etwa 20 Türme, jeder mit mindestens 30 Stockwerken. Die gesamte Innsbrucker Stadtbevölkerung, wenn nicht gleich halb Tirol könnte dort eine neue Bleibe finden. Was mich aber neben dem Umfang dieses Komplexes noch fasziniert, ist die Baugeschwindigkeit. Fast jeden Morgen, wenn ich aufstehe und aus dem Fenster sehe, kommt ein neuer Turm (oder zumindest ein paar Stockwerke) dazu! Wie das geht? Es wird einfach die ganze Nacht durchgearbeitet. Kein Problem, denn potenzielle Arbeiter gibt es in diesem Land ja genug und Beschwerden sind absolut unüblich. So baut man fleißig in Wuxi, wo überall neue Straßen, Brücken, Wohnungen, Hotels, Supermärkte und Unterhaltungszentren entstehen. Und wenn nichts Neues ansteht, wird eben etwas Altes niedergerissen und neu aufgebaut. Auch eine Art, die Menschen zu beschäftigen …

Es erinnert aber noch mehr an „Disneyland“. Vor allem die schönen bunten Lichter, die die Stadt jeden Abend hell erleuchten. Das Stadtzentrum erinnert dann sehr an Bilder, wie man sie von Las Vegas kennt. Diese Lichter sind auch ein guter Orientierungspunkt. „Wo treffen wir uns denn heute? Dort am grün-gelb leuchtenden „Empire State Building“, bei McDonald’s, Starbucks oder KFC? Ok, KFC klingt gut. Aber welcher? Der neben der Bank of China, oder der 20 Meter weiter links?“

 

Eine Risikogesellschaft der besonderen Art

Wenn es mit der Orientierung gar nicht mehr klappt, dann springe ich einfach ins nächste Taxi und drücke dem Fahrer eine der hunderten, mit chinesischen Schriftzeichen verzierten Visitenkarten, die ich immer bei mir trage, in die Hand und hoffe, dass er mich auch am richtigen Platz abliefert. Visitenkarten sind hier essentiell, sichern mein Überleben und bewahren mich vor der kompletten Verlorenheit. Darum hüte ich sie auch wie meinen eigenen Augapfel. Ich werd immer ganz nervös, wenn der Taxifahrer die Karte mit diesem „where-the-hell-is-that?“ Blick betrachtet. Aber ich kann ihm auch wirklich nicht böse sein, denn vielleicht hat dieses Lokal, wo ich hin will, vor drei Wochen noch gar nicht existiert.

Das bringt mich gleich zum nächsten Thema: Verkehr. Die richtige Kurzbeschreibung dafür ist wohl das Wort „beängstigend“. So hat die Polizei von Wuxi etwa ein Propaganda-Video zum Thema „Sicherheit im Straßenverkehr“ veröffentlicht. Damit sollen die Leute darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie doch bitte vorsichtiger fahren und die Verkehrsregeln respektieren: rote Ampel bedeutet stehen bleiben, grünes Licht weiterfahren und bei doppelten Sperrlinien darf nicht überholt werden. Und: Nein, das Nicht-Beachten der Leuchtsignale kann nicht durch Hupen kompensiert werden, weil ein Verkehrsteilnehmer das Geräusch im lauten Hupkonzert vielleicht nicht genau zuordnen kann. Besonders gefährdet bei diesen Fahrmanövern sind die kleinen Elektroroller, die zu Tausenden auf den Straßen von „Disneyland“ anzutreffen sind. Natürlich, sie sind manchmal schon wie ein Kamikazeflieger unterwegs: eingeschaltetes Licht in der Nacht braucht man nicht zwangsläufig, die Straßenlaternen bieten ja genügend Sicht; Helm: „wozu?“; und dass die Dinger noch dazu nicht zu hören sind, weil es sich ja um Elektroroller handelt, ist für ihre Sicherheit natürlich auch nicht besonders förderlich. Das etwa 15 Minuten lange Video widmet sich daher besonders diesem Thema. Es zeigt Unfälle – sehr heftige –, die auf den Straßen von Wuxi live aufgenommen wurden. Zwei Minuten Zuschauen war möglich, dann war es zu viel der Realität für eine Mitteleuropäerin. Denn wenn z.B. ein kleiner Elektroroller frontal von einem Truck gerammt wird, dann werden dem Mopedfahrer nicht nur im übertragenen Sinne des Wortes Flügel verliehen.

Das Teilnehmen am Verkehr ist also gefährlich, auch in stabileren Fahrzeugen. Vor allem die Taxis (Marke VW Santana) sind geradezu zum Fürchten. Der Zustand der meisten dieser fahrbaren Untersätze lässt auf ein Baujahr weit vor meinem Geburtsjahr schließen. Jedoch werden sie auch heute noch in China produziert. Offensichtlich altern sie schnell …

 

Eine kulinarische Reise ins Ungewisse

Kommen wir jetzt aber zu etwas Appetitlicherem, zumindest graduell. Zu Mittag gibt es gratis Essen in der Kantine, was jeden Tag ein kleines Abenteuer ist. Es gibt dort vier Stationen, an jeder kann man eines aus vier Gerichten in kleinen Schälchen verteilt auswählen. An der ersten husch ich immer recht schnell vorbei, da die dort angebotenen Speisen noch Augen, Füße und viele Knochen beinhalten. Der Rest ist zumindest genießbar, wenn auch meist für den Laien unidentifizierbar, und zum Glück gibt es immer Reis. Nur leider kann der Verzehr der Speisen manchmal ungemütlich ausfallen und es kann durchaus vorkommen, dass ein ausgespuckter Hühnerfuß des Tischnachbarn nicht weit weg vom eigenen Teller landet.

Die Restaurantbesuche fallen aber meist sehr lustig aus. Mein Lieblingsbeispiel aus der chinesischen Küche ist dabei der „Hot Pot“. Das funktioniert folgendermaßen: Man sitzt um einen großen Tisch herum und in der Mitte befindet sich ein Topf voll mit heißer Suppe. Man kann dann alles Mögliche, von Fleisch bis Fisch und Tofu bis hin zu Nudeln und Gemüse hineinwerfen und nach ein paar Minuten Kochzeit wieder herausfischen. An und für sich ja ganz lecker, nur einmal bekam ich einen Teller mit Deckel serviert. Wozu der Deckel, hab ich mich verwundert gefragt? Antwort: Weil lebendige, zappelnde Schrimps leicht vom Tellerrand fallen! Nun, da vergisst man wenigstens nicht, wo das Essen eigentlich herkommt …

Auch das Einkaufen von Lebensmitteln stellt mich immer wieder vor Herausforderungen. In den Supermärkten findet man zwar fast immer eine Abteilung mit importierten Speisen, die chinesischen Produkte dort sind mir jedoch noch immer zu ca. 70% unbekannt. Während es bei lebendigen Aalen und Schildkröten, die dort in großen Wasserkübeln angeboten werden (und das sicher nicht für das Heimaquarium), noch eindeutig ist, hilft die bebilderte Verpackung von Fertignudeln zumindest beim Erahnen der Geschmacksrichtung.

 

Das Land der roten Sonnenuntergänge und lächelnden Menschen

So langsam aber sicher hält auch hier in Wuxi der Frühling Einkehr. Es wird wärmer und die Tage werden sonniger. Jedoch ist es immer irgendwie neblig. Zuerst ist mir das gar nicht so wirklich aufgefallen, nach einiger Zeit wurde mir die Sache aber etwas suspekt. Ich hab dann, naiv wie ich bin, einfach nachgefragt. Die lachende Antwort einer Arbeitskollegin: „That's no fog, that's smog“.   Aha, danke für die Aufklärung, deshalb erscheint die Sonne, wenn man das Glück hat, sie durch den „Nebel" einmal zu sehen, auch immer so unecht rot. Alles klar, was für eine dumme Frage auch …

Die Chinesen sehen diese Sache noch eher gelassen und begegnen einem auch sonst mit der üblichen Freundlichkeit. In der Früh, wenn ich das Großraumbüro betrete, in dem ich meiner Arbeit nachgehe, werde ich von meinen neun chinesischen Kolleginnen und Kollegen immer mit einem Lächeln begrüßt. Sie gehen brav ihrer Arbeit nach und wenn ich eine Frage habe, wird mir diese auch meist recht ausführlich erklärt. Nur meine Nichtkenntnisse der chinesischen Sprache stellen mich oft vor große Probleme, am Bahnhof beispielsweise, wenn ich den Zug verpasse, dessen Nummer ich zum Glück lesen kann. Die hübschen Zeichen an der Anzeigetafel helfen einem da leider auch nicht wirklich weiter. Das Anstellen an einer der langen Schlangen in der Schalterhalle nützt selten was, da man ja nicht wirklich miteinander kommunizieren kann. Da erntet man dann auch meist ein nettes Lächeln von den Menschen um einen herum. Das erinnert mich an die Chinesen die im Bus von Innsbruck nach Schwaz sitzen, ganz aufgeregt aus dem Fenster schauen und an jeder Haltestelle nachfragen, ob sie schon bei den Kristallwelten angekommen sind. Ich muss zugeben, diese Szenen finde ich auch immer recht amüsant.

Was kann ich noch mehr sagen? Meine Erfahrungen hier rufen oft Bilder von Beiträgen in TV-Journalsendungen ins Gedächtnis. Der Unterschied liegt nur darin, dass ich nach zehn Minuten des Staunens nicht einfach den Fernseher ausschalte und in meine gewohnte Umgebung zurückkehre. Nein, ich bin mitten drin, statt nur dabei …