Gastkommentar Robert Rebitsch: Zypern – Eine historische Analyse

Die Europäische Union hat vor einigen Tagen die Türkei aufgefordert, den Verpflichtungen gegenüber der Insel Zypern, seit 2004 Mitglied der EU, nachzukommen. Die Konsequenz einer Nichtbeachtung dieser Aufforderung könnte das einstweilige Aussetzen der Aufnahmegespräche mit der Türkei sein.
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Südseite des Kyrenia-Gebirgszuges mit der türkisch-zypriotischen Flagge, die eine permanente Provokation für den Süden darstellt.

Der ungelöste Konflikt um die drittgrößte Mittelmeerinsel ist eines der hart diskutierten Themen zwischen Brüssel und dem Beitrittskandidaten Türkei.

Die Geschichte Zyperns ist eine Geschichte wechselnder Herrschaftsverhältnisse

Die immer wieder konfliktreiche Geschichte der Insel der Aphrodite mag so gar nicht zum touristisch sorgsam gepflegten Bild der Göttin der Liebe passen. Die Grundlagen des Zypernkonflikts wurden nicht erst im Jahre 1960, als die Insel vom britischen Empire endlich die Unabhängigkeit bekam, gelegt. 1570/71 wurde der östlichste Vorposten der Venezianer von den Türken erobert. Damit erweiterte sich die ohnehin schon überlange Liste an Besatzern auf Zypern. Mykener, Griechen, Perser, Ägypter, Römer, Araber, Byzantiner, der englische König Richard Löwenherz, die Templer, fränkische Kreuzfahrer, Genuesen und Venezianer hinterließen dort ihre Spuren. Keine Kraft jedoch prägte diese Insel so nachhaltig wie die byzantinische, griechisch-orthodoxe Kultur und Religion. Weder der verhassten fränkisch-lateinischen Herrschaftselite im Mittelalter, noch den Venezianern gelang es, die autokephale orthodoxe Kirche maßgeblich in ihrem Einfluss zu beschränken. Die Osmanen versuchten es nicht einmal und setzten wie auch anderswo keine Zwangskonvertierung der autochthonen Bevölkerung durch. Die türkische Verwaltung implementierte den orthodoxen Erzbischof als Ethnarchen, als politisches Oberhaupt der Zyperngriechen. Erst die griechischen Unabhängigkeitsbestrebungen im 19. Jahrhundert brachten schwere Zerwürfnisse mit sich.

 

Unter britischer Herrschaft

Die einst handelsstrategisch so wichtige Insel sank im osmanischen Riesenreich zur unbedeutenden Provinz herab. London erkannte jedoch den geostrategischen Wert der drittgrößten Mittelmeerinsel, schließlich hatte das Handelsimperium seine life line durch das Mittelmeer zu schützen und das östliche Mittelmeer gewann durch die Eröffnung des Suez-Kanals im Jahre 1869 enorm an Bedeutung. Im Vorfeld des Berliner Kongresses übertrug das Osmanische Reich 1878 in einem Pachtvertrag Zypern an das britische Empire. London sollte dafür den „kranken Mann am Bosporus“ gegen die expansiven Ambitionen des Zarenreiches unterstützen. Mit dem Ende der Herrschaft der türkischen Minderheit verbanden die Zyperngriechen große Hoffnungen, die allerdings schnell enttäuscht wurden, denn die britische Herrschaftsübernahme brachte für die nächsten Jahrzehnte keine großartigen Verbesserungen. Mit Beginn des I. Weltkrieges wurde Zypern annektiert und 1925 als Kronkolonie dem Empire einverleibt. Erst langsam kam es unter den Engländern zu Reformen, doch auch diese wollten nicht so richtig greifen. Trotz des leichten wirtschaftlichen Aufschwungs konnten die politischen Differenzen zwischen Zyperngriechen und Briten nicht überbrückt werden. Die Zyperngriechen strebten nach „Enosis“, nach der schon lange gewünschten Angliederung an das vermeintliche Mutterland Griechenland. Der weit verbreitete Wunschgedanke der Enosis wurde aktiv von der griechisch-orthodoxen Kirche unterstützt. Den zypriotischen Türken war mehrheitlich nicht unbedingt nach einem Anschluss an die mittlerweile republikanische Türkei zumute, geschweige denn in einem griechischen Staat zu leben. Ihr Zukunftsideal stellte viel mehr „taksim“ dar, die Teilung der Insel. Vorerst aber wurden sie loyale Untertanen des britischen Empires. Während relativ mehr Türken für die britische Verwaltung tätig waren, dominierten die Zyperngriechen Handel und Gewerbe. Eine Polarisierung der beiden Ethnien auf Zypern wurde von der britischen Verwaltung durchaus in Kauf genommen.

 

Der Kampf für die Unabhängigkeit

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs machte sich vor allem bei den Zyperngriechen wiederum große Enttäuschung breit. Zypern durfte sich nicht in den Prozess der Dekolonisation einreihen, sondern sollte nach den Vorstellungen Londons im Empire verbleiben. Die Atlantik-Charta, in der das Selbstbestimmungsrecht der Völker angesprochen wurde, galt nach einer Erklärung des britischen Premierministers für die eigenen Kolonien nicht. Der Ruf nach Enosis wurde indes immer lauter. Protagonisten des Kampfes gegen die britische Verwaltung waren der politisch versierte, aber auch wendige Erzbischof Makarios, mit bürgerlichem Namen Michail Mouskos, und der ehemalige Oberst und gebürtige Zypriot Georgios Grivas, ein fanatischer extremer Nationalist, der den Konflikt maßgeblich verschärfte. Die von Grivas gegründete EOKA (Nationale Organisation zypriotischer Kämpfer) führte zwischen 1955 und 1959 einen teilweise terroristischen Partisanenkrieg. Erzbischof Makarios trug diesen gewalttätigen Kampf ohne Zweifel mit. Zuerst richteten sich die Sprengstoffanschläge, Sabotageakte, Entführungen, Exekutionen und sonstige Gewalttaten gegen britische Einrichtungen und Soldaten, später wurden jedoch auch unschuldige Zivilisten von Grivas’ Anhängern getötet. Zum Schutz der eigenen Landsleute gründeten Zyperntürken die TMT, die sogenannte „Türkische Verteidigungsorganisation“. Die Insel war auf dem besten Weg zum Bürgerkrieg. Die beiden „Mutterländer“ Griechenland und Türkei, alle beide seit 1952 NATO-Mitglieder, verfolgten die Eskalation auf der Insel mit Argusaugen, sogar gegenseitige Kriegsdrohungen wurden ausgesprochen. Mit den Abmachungen von Zürich und London im Jahre 1959 wurde der Konflikt vorläufig beigelegt. Die Lösung hieß weder Enosis noch Taksim. Das Land wurde von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen, aber ein Anschluss an Griechenland definitiv ausgeschlossen. Großbritannien, Griechenland und die Türkei fungierten laut Vertrag als Garantiemächte der jungen Republik. Alle drei Signatarmächte stationierten Truppen auf der Insel. Mit Dhekelia und Akrotiri sicherte sich die ehemalige Kolonialmacht zwei Militärstützpunkte auf der militärstrategisch wichtigen Insel. Natürlich zeigten auch die USA ein vitales Interesse an dieser Krisenregion.

 

Die Teilung der Insel

Die Verfassung, des neuen Staates jedoch wies enorme Bruchstellen auf. Die 18%ige türkische Minderheit hatte zum Beispiel 30% der Sitze und Zuständigkeiten in Politik und Verwaltung, 40% in der Armee und Polizei. Weiters wurde dem türkischzypriotischen Vizepräsidenten ein weitreichendes Vetorecht eingeräumt. Die Zyprioten konnten die Unabhängigkeit nicht allzu lange friedlich genießen. Die von Makarios ausgehende Verfassungsänderung zu ungunsten der türkischen Bevölkerung und deren Ablehnung durch die Zyperntürken initiierte mörderische Anschläge zyperngriechischer Extremisten auf die türkische Volksgruppe und löste 1963/64 einen bürgerkriegsähnlichen Zustand auf der Insel aus. Die Inseltürken flüchteten Größtenteils in ländliche Enklaven oder fanden sich in städtischen Ghettos wieder. Die von Grivas wiederum ins Leben gerufene EOKA, EOKA B genannt, terrorisierte die Minorität. Auch die wieder reaktivierte zyperntürkische TMT griff zur Gewalt. Nur durch den Einsatz von UN-Truppen konnte der blutige Bürgerkrieg beendet werden. UNFICYP (United Nations Peacekeeping Force in Cyprus) überwacht seither die politische und militärische Lage auf der Insel. Noch immer ist die Insel geteilt.

Die Lage entspannte sich nur oberflächlich. Der radikale Grivas wollte nach wie vor nicht von der Idee  der Enosis loslassen. Der unter den Zyperngriechen äußerst populäre Makarios hingegen stand nun für die Unabhängigkeit und Blockfreiheit Zyperns. Dieser neutralistischen Einstellung des Geistlichen standen jedoch die USA äußerst skeptisch gegenüber. Die US-Administration wäre einer Aufteilung der Insel auf zwei NATO-Partner wesentlich offener gegenübergestanden als dem blockfreien Status. Die Teilung kam, wenn auch anders als von der US-Administration erwünscht. Griechische und griechischzypriotische Militärs stürzten Makarios. Nur knapp gelang dem Erzbischof die Flucht. Der aus den Tagen des Bürgerkrieges berüchtigte Nikos Sampson, ein Türkenhasser, wurde von den Putschisten zum Präsidenten ausgerufen. Nun schritt die Türkei als „Schutzmacht“ in einer äußerst fragwürdigen Auslegung der Züricher und Londoner Abmachungen ein. Am 20. Juli 1974 landeten türkische Invasionstruppen auf Zypern. Das Putschistenregime in Nikosia wie auch die Militärjunta in Athen brach daraufhin zusammen. Bis Mitte August 1974 hatte die trotz Waffenstillstandsvereinbarungen unaufhaltsam vordringende türkische Armee 37% des zypriotischen Territoriums unter Kontrolle. Die von ihr gezogene sogenannte Attila-Linie, die sich in etwa mit früheren US-Teilungsplänen deckte, entspricht bis heute dem Grenzverlauf zwischen Norden und Süden. Nicht Enosis, sondern Taksim wurde verwirklicht. Sowohl während des griechischen Militärputsches als auch während der türkischen Invasion kam es zu brutalen Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung beider Volksgruppen. Etwa 170.000 vielleicht auch mehr Zyperngriechen traten die Flucht in den Süden an, ca. 40.000 Zyperntürken wurden in den Norden vertrieben. Einige tausend Menschen verloren ihr Leben, nach zyperngriechischen Angaben werden über 1.600 Menschen vermisst. Die Zyperngriechen mussten riesige Vermögenswerte im Norden zurücklassen. Die ehemals florierende Hotelstadt Varosha im Süden Famagustas ist heute eine abbruchreife Geisterstadt. Die wenigen übrig gebliebenen gemischtsprachigen Dörfer, wie Pyla unweit von Larnaka, werden seit der Invasion von UN-Truppen überwacht. Die Soldaten und Polizisten der UN treten bei Problemen immer wieder als Mittler zwischen den beiden Ethnien auf. Nur einige kleine ethnische Enklaven, die von der UN betreut werden, gibt es noch. Nikosia ist seit 1974 eine durch Mauern, Stacheldraht und Sandsäcke geteilte Stadt – natürlich die einzig militärisch geteilte Stadt der EU. Der ehemalige Führer der Zyperntürken, Rauf Denktasch, holte keineswegs zur Freude der alteingesessenen Türken Siedler aus Anatolien auf die Insel, um einen demographischen Ausgleich gegenüber dem Süden zu erreichen und der permanenten Abwanderung der Inselbevölkerung entgegenzuwirken. 1975 rief Denktasch den „Türkischen Bundesstaat Zypern“ aus, 1983 proklamierte er als Präsident die „Türkische Republik Nordzypern“. Dieser selbst proklamierte und nun wirtschaftlich danieder liegende Staat wird bis heute jedoch nur von der Türkei anerkannt. Die griechischen Zyprioten verhängten zudem ein Wirtschaftsembargo über den Norden. Der Süden hingegen schaffte ohne Zweifel ein Wirtschaftswunder, obwohl man an die 170.000 Flüchtlinge integrieren musste. Die Insel wurde ein Handels- und Finanzzentrum und konnte vor allem auch auf dem touristischen Sektor unerhört aufholen. Die Diskrepanz zwischen Norden und Süden könnte wohl größer nicht sein.

 

Verfehlte Bemühungen der Internationalen Staatengemeinschaft

Seit dem Krieg wurden von der internationalen Staatengemeinschaft, allen voran die UN, mehrmals Versuche zur Wiedervereinigung der beiden Teile unternommen. UNFICYP stellte immer wieder „neutralisierte“ Treffpunkte für Verhandlungen zur Verfügung. Innerhalb der UN-Pufferzone wurden Konzerte mit türkischer und griechischer Beteiligung veranstaltet. Diese Events sollten der interkulturellen Völkerverständigung dienen und wurden vor allem von jungen Menschen angenommen. Die Gräben scheinen jedoch trotz allen Bemühungen noch sehr tief. Vor allem eine Mehrheit der griechischen Volksgruppe auf Zypern will von einer Wiedervereinigung nichts wissen. Am 24. April 2004 lehnten 75,8% der Griechen den Friedensplan des UN-Generalsekretärs Kofi Annan ab, 64,9% der Zyperntürken hingegen entschieden sich im selben Referendum für eine Wiedervereinigung. Natürlich darf neben den historischen Ressentiments die wirtschaftliche Perspektive nicht übersehen werden. Der reiche Süden müsste immerhin eine alles andere als prosperierende Wirtschaft schlucken. Das negative Ergebnis im Süden löste weltweit Enttäuschung aus, der UN-Generalsekretär resignierte mit seinen Bemühungen schon vor dem Referendum und das Vorgehen der UN schien keineswegs optimal mit der EU koordiniert gewesen zu sein. Dennoch wurde die Republik Zypern einige Tage nach der unerfreulichen Abstimmung Vollmitglied der Europäischen Union. Die entsprechenden Verträge wurden zuvor unterschrieben. Außerdem einigte man sich bereits 1999 in Helsinki, dass die Lösung des Problems keine condition sine qua non für die Aufnahme der Republik Zypern in die EU darstellen sollte. Es ist nun mühsam zu spekulieren, ob es der Brüsseler Diplomatie durch eine andere Verhandlungstaktik und ein anderes Timing möglich gewesen wäre, die Zypernfrage zumindest völkerrechtlich einer Lösung zuzuführen. Die mentale Bewältigung des Traumas aus dem Jahre 1974 und der Abbau aller Vorurteile wird ohnehin noch genügend Zeit in Anspruch nehmen. Faktum ist, dass gut ein Drittel eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union von fremden Truppen (mehr als 35.000 Mann) besetzt ist und dass es in der EU wiederum eine geteilte Hauptstadt gibt. Ankara will nach wie vor die Republik Zypern nicht als legitimen Staat anerkennen und, wie eingangs angedeutet, die Häfen und Flughäfen für zypriotische Verkehrs- und Transportmittel nicht öffnen. Die Lösung der Zypernfrage wird der europäischen Staatengemeinschaft noch einiges an Überzeugungsarbeit abverlangen und sie stellt eine beachtliche Hürde für den Beitritt der Türkei dar.

 

Zur Person:

Dr. Robert Rebitsch ist Mitarbeiter des projekt.service.büros an der Leopold-Franzens-Universität und Lehrbeauftragter am Institut für Geschichte und Ethnologie. Er war 1988/89 und 1997/98 für die Vereinten Nationen auf Zypern im Einsatz.