Gastkommentar zum heutigen „Welthungertag“ von Josef Nussbaumer: "Hunger ist eine globale Schande"

Manche stehen vor vollen Regalen und können den heutigen 16. Oktober als Welternährungstag begehen. Für viele ist er aber – wie jeder Tag – ein Hungertag.
Symbolbild Welthungertag
Symbolbild

Stellen Sie sich die Welt als ein Dorf von 1.000 Einwohnern vor, das wir „Globo“ nennen wollen. Es gibt viele Unterschiede in Globo, in den Nationalitäten und Religionen, in den Weltanschauungen, im Zugang zu Ressourcen, im Bildungsstand, und in der Lebenserwartung. Manche Menschen leben luxuriös hinter Mauern, um sich von denen „da draußen“ zu schützen, manche in Häusern, die meisten in Hütten und viele einfach auf der Straße. In einigen Teilen von Globo herrschen Gewalt, Krieg und Kriminalität, in anderen geht es vergleichsweise partnerschaftlich zu.

Ein Unterschied beherrscht aber die anderen. Einer ist im wahrsten Sinne des Wortes existentiell. Es ist der Unterschied zwischen jenen, die darüber nachdenken können, was sie heute essen wollen, und denjenigen, die nicht wissen, ob sie heute überhaupt etwas zu Essen haben. Während die einen sich teilweise damit plagen, endlich etwas überflüssiges Gewicht zu verlieren, drohen die anderen, an den Folgen des oft jahrelangen Abmagerns zu sterben. Etwa fünf Menschen in Globo (das ist die Hälfte aller Todesfälle) sterben an Ursachen, die eng mit zu wenig oder zu schlechter Ernährung zu tun haben, zumindest ein Kind verhungert jedes Jahr.

Die 200 Reichen in Globo, überwiegend Männer, könnten von dem luftigen Hügel aus, auf dem sie wahrscheinlich wohnen, in den stickigen Niederungen der Siedlung das Leben der ungefähr 500 Armen beobachten, die alle gerade das Nötigste haben und von denen 135 ihr Leben lang täglich Hunger leiden. „Reich“ in Globo, das ist übrigens nicht der eine Millionär, sondern das sind die Menschen, die zumindest 5.000 Euro im Jahr verdienen, und „arm“ sind alle, denen pro Tag weniger als 2 Euro zur Verfügung stehen.

 

Öffentlichkeit um die stille Katastrophe Hunger

In Globo könnte man die Armut sehen, doch generell ist Hunger eine stille Katastrophe, die vom Wegschauen geprägt ist. Anders als Erdbeben oder Wirbelstürme, die sich relativ leicht ihren Weg in die Abendnachrichten bahnen, kommt er – abgesehen von seltenen, besonders dramatischen Hungerkrisen – kaum an die Öffentlichkeit. Die absolute Opferzahl des Massenmörders Hunger ist aber beträchtlich. Weltweit verhungern jährlich mehr als sechs Millionen, und weitere 30 Millionen sterben an den Folgen von Mangelernährung. Hunger ist damit eine permanente, strukturelle Katastrophe, die vor allem die schwächeren Mitglieder einer Gesellschaft betrifft. Kinder, Alte, Kranke und sozial Diskriminierte zählen immer zu den ersten und zahlreichsten Opfern.

Zumindest einmal im Jahr, am 16. Oktober, denkt die Welt aber an die Welternährung. Dieses Datum markiert den Gründungstag der Food an Agricultural Organisation (FAO) vor inzwischen 61 Jahren und er soll die Weltöffentlichkeit an die Hungertragödie erinnern. Angesichts der Zahlen ist er wohl mindestens so sehr ein „Welthungertag“ wie ein „Welternährungstag“.

 

Was bedeutet Hunger?

In diesem Unterschied zwischen Hungernden und Satten besteht der wohl existentiellste unter den Menschen. Es ist der Unterschied zwischen Apathie und Aktivität, zwischen einem Leben, das in Gedanken an die Nahrungssuche verbracht ist, und einem Leben, das sich anderen Herausforderungen stellen kann. Manche mögen sich vielleicht auch durch Zahlen verdeutlichen können, was dieser psychologisch so gravierende Unterschied bedeutet. So gibt die FAO den Mindestbedarf an Nahrungsenergie mit 1.900 Kilokalorien pro Kopf und Tag für einen erwachsenen, leicht arbeitenden Menschen an. Das absolute, medizinisch nötige Minimum liegt für Erwachsene bei etwa 1.400 bis 1.500, für Kinder je nach Alter entsprechend niedriger. In den USA, dem bestversorgten Land der Welt, stehen jedem Menschen mehr als 3.800 Kilokalorien zur Verfügung, also etwa das Doppelte des produktiven Mindestbedarfs. Der Durchschnittswert in Eritrea in Ostafrika liegt unter 1.500, also selbst unter der medizinischen Schwelle. Während den Menschen in den ärmsten Ländern der Welt daher praktisch nichts an Nahrungsenergie zur Verfügung steht, um mehr als das nackte Überleben zu sichern, können die Menschen in den reichsten Ländern (Platz 2 in der Nahrungshitliste nimmt übrigens Österreich ein) einen riesigen Überschuss in produktive Tätigkeit umwandeln. Das ist nicht nur ein Spiegelbild der globalen Einkommensverteilung und des so genannten Entwicklungsstandes, es ist auch eine der Ursachen für diese Differenzen.

Freilich gibt es Initiativen, die sich dem Problem widmen. Nicht nur die FAO, sondern auch private Vereinigungen oder Stiftungen arbeiten an einer Verbesserung der Lage, wie neuerdings auch die Gates und die Rockefeller Foundation. Zudem wurde die Hungerbekämpfung zum ersten der Millenniumsentwicklungsziele gemacht. Bis zum Jahr 2015 (gemessen am Wert von 1990) soll demnach die Zahl der Hungernden halbiert werden. Die Zwischenberichte über die Fortschritte in diesem Kampf fallen aber ernüchternd aus. In den letzten fünf Jahren gab es – abgesehen vor allem von China – kaum nachhaltige Erfolge. In manchen Ländern gilt heute unverändert mehr als die Hälfte der Bevölkerung als „unterernährt“ und die Zahl der Hungernden steigt eher, als dass sie abnimmt.

 

Das Verteilungsproblem Hunger

Ein Grund für diese Bilanz liegt auch darin, dass unverändert am eigentlichen Problem vorbei agiert wird. Natürlich sind Naturkatastrophen, vor allem Dürre und Überschwemmungen, immer wieder Auslöser für Hungersnöte. Genauso sind Kriege und die Überlastung der natürlichen Ressourcen ein sehr wesentliches Problem, und ebenso die Erderwärmung. Damit daraus aber Ursachen werden, die sich in Hungersnöte oder strukturelle Unterernährung übersetzen, braucht es den Menschen als „Störfaktor“. Technologisch ist heute weder die Produktion von ausreichend Nahrungsmitteln ein unüberwindliches Problem, noch ihr Transport in betroffene Gebiete. Das eigentliche Problem ist die Ungleichheit im Zugang zu Nahrung.

Damit sind wir bei des Pudels Kern: Hunger ist ein Verteilungsproblem. In den seltensten Fällen war und ist globales Hungern eine Folge unzureichender Produktionskapazität unserer Erde, die selbst angesichts des zuletzt überdurchschnittlichen Bevölkerungswachstums nicht erschöpft ist (die Pro-Kopf-Produktion stieg seit dem ersten Welthungertag erheblich). Hingegen löst in einer Welt, in der die Verteilung schief liegt, auch eine noch so große Mehrproduktion das Knappheitsproblem nicht. Das gilt insbesondere für aktuelle Initiativen, die auf High-Tech-Landwirtschaft setzen. Abgesehen von möglichen gesundheitlichen Folgen, steigt damit der Kapitalbedarf für Bäuerinnen und Bauern, die Anzahl der für die Produktion verwendeten Sorten sinkt und es droht eine Monopolisierung einzelner Zuliefersparten durch kapitalkräftige Konzerne. Seit Jahrzehnten sinken zwar die Preise für Nahrung, was freilich angesichts dieses Wandels nicht so bleiben muss. Außerdem haben die Menschen in armen Ländern unverändert auch für billiges Essen nicht genug Kaufkraft, während sich ihr Einkommen, das sie zu einem beträchtlichen Teil aus dem Verkauf von Nahrungsmitteln erzielen, durch Preissenkungen noch verringert (daher sind die ärmsten Länder der Welt heute überwiegend Nahrungsimporteure). Das wiederum verschärft die Schieflage in der Verteilung und die Katze beißt sich in den Schwanz.

 

Hunger ist eine Schande

Um daran nachhaltig etwas zu ändern, bräuchte es ein Umdenken im großen Stil. Um den Willen dazu zu schaffen, der heute zweifellos noch unterentwickelt ist, könnte das Gefühl der Schande helfen, wie das etwa von Jean Ziegler betont wurde, dem UN-Sonderbotschafter für das Recht auf Nahrung. Sofern immer mehr Menschen es als Schande begreifen, dass täglich Tausende verhungern, wird die Bereitschaft steigen, etwas dagegen zu unternehmen. Wenn uns (wir alle zählen zu den Reichen in Globo) dies zu einem Paradigmenwechsel animiert,  ist ein erster wichtiger Schritt für eine hungerfreiere Welt in Sicht. Er wäre bitter nötig, denn angesichts des historisch beispiellosen Reichtums unserer heutigen Welt, kann man es nur eine Schande für den Homo oeconomicus, den Homo politicus und erst recht für den Homo sapiens nennen, dass wir im Kampf gegen den Hunger erst so wenige Fortschritte erreicht haben.

 

Angaben zum Autor:

Josef Nussbaumer ist Ao.Univ.-Prof. für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte am Institut für Wirtschaftstheorie, -politik und -geschichte. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur Katastrophengeschichte und leitet das OeNB-Jubiläumsfondsprojekt „Hunger und Globalisierung“.