Geschichte von Scham und Stigmatisierung

Die Geschichte der Psychiatrie in Tirol wurde bisher nicht ausreichend wahrgenommen, geschweige denn wissenschaftlich erarbeitet. Das interdisziplinäre Interreg-IV-Projekt „Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol–Südtirol von 1830 bis zur Gegenwart“ hat in 3-jähriger Arbeit daran etwas geändert und fünf Ziele realisiert.
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Die Ausstellung „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten“ ist eines von insgesamt fünf Vermittlungs- und Forschungsprojekten des Interreg-IV-Projekts.

Eine Grenze zwischen Normalität und psychischer Erkrankung zu ziehen, ist ein Drahtseilakt. Die Beziehung zwischen psychisch Gesunden und psychisch Kranken ist seit jeher ambivalent. Auf der einen Seite stand und steht das Bedürfnis, zu helfen, auf der anderen die Versuchung, die Augen zu verschließen, auszugrenzen oder sich lustig zu machen. Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen galten lange Zeit als Gebrandmarkte, Irre,  als die Anderen der Gesellschaft. Die Geschichte der Psychiatrie ist in vielerlei Hinsicht eine Geschichte von Scham und Stigmatisierung, von Angst und Ausgrenzung.  Das Interreg IV Projekt (Italien-Österreich) „Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol – Südtirol von 1830 bis zur Gegenwart/L'assistenza psichiatrica istituzionale e territoriale nell'area del Tirolo storico (secoli XIX-XXI) beabsichtigt gleichermaßen, historisch fundiertes Wissen zur Verfügung zu stellen wie einen Beitrag zur Entstigmatisierung psychischen Krankseins zu leisten. Das auf drei Jahre angelegte Projekt, das eine Kooperation zwischen den Instituten für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie sowie für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck darstellt, wurde im Herbst diesen Jahres erfolgreich abgeschlossen. Projektpartner der Universität waren das Südtiroler Landesarchiv in Kooperation mit dem Verein Geschichte und Region, das Tiroler Landeskrankenhaus Hall (Primar Christian Haring), die Dienste für psychische Gesundheit Meran (Primar Lorenzo Toresini) und die Universitätsklinik für Psychiatrie an der Medizinischen Universität Innsbruck (ehem. Primar Hartmann Hinterhuber).

Bewusstsein schaffen

Die Ausstellung „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten“, die noch bis zum 29. Februar 2012 im Zentrum für Alte Kulturen der Universität Innsbruck zu sehen ist, ist eines von insgesamt fünf Vermittlungs- und Forschungsprojekten des Interreg-IV-Projekts. Der Ausgangspunkt für das groß angelegte Projekt war der Mangel an Wissen und das fehlende Bewusstsein hinsichtlich der Geschichte der Psychiatrie von Tirol, Südtirol und dem Trentino. Dem wollten die InitiatorInnen und LeiterInnen des Projekts Elisabeth Dietrich-Daum, Hermann Kuprian, Maria Heidegger, Michaela Ralser und Siglinde Clementi mit ihrem MitarbeiterInnenteam entgegenwirken. Die zweisprachige Wanderausstellung, die von Lisa Noggler-Gürtler und Celia Di Pauli kuratiert wurde, rückt in ihrer Darstellung die PatientInnen in den Mittelpunkt. Ausgehend von den Krankenakten und Fallgeschichten berichtet die Ausstellung von medizinischer Behandlung ebenso wie vom Alltagsleben in der Psychiatrie. Dabei integriert sie persönliche Aufzeichnungen wie Briefe und Tagebücher der PatientInnen. Damit wird auch die Geschichte Tirols beleuchtet. Denn die Psychiatriegeschichte repräsentiert nicht nur einen Teilbereich der Medizingeschichte, sondern auch die Kulturgeschichte des Landes. Der Sinn eines derartigen Projektes ist es, nicht nur die Geschichte der Psychiatrie zu rekonstruieren und die Öffentlichkeit darüber zu informieren, sondern vielmehr auch zu sensibilisieren und Entstigmatisierungsarbeit zu leisten. Es geht um eine Begegnung mit den Geschichten der PatientInnen und um eine respektvolle Begegnung mit den PatientInnen selbst, die über sogenannte Ego-Dokumente zu den Besucherinnen sprechen.

Vermittlung im großen Rahmen

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit von MedizinerInnen, Pflegekräften, HistorikerInnen und PädagogInnen hat neben der Entwicklung einer Ausstellung die Realisierung von vier weiteren Projektzielen ermöglicht. Eines davon ist das Konzept für die Errichtung eines Forschungs-, Lern- und Gedenkortes im Landeskrankenhaus Hall. Das Konzept bildet die Grundlage für eine Erweiterung des bestehenden Historischen Archivs, welches für eine möglichst breite Zielgruppe zugänglich sein soll. Ein weiteres Projektergebnis ist eine Online-Dokumentation in Form einer deutsch- und italienischsprachigen Website. Dabei handelt es sich um ein Themenportal zur Tiroler Psychiatriegeschichte, das eine Sammlung von Materialien wie Bildern, Quellen, Tabellen dokumentiert und für die Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Die Website wurde im Oktober 2009 online gestellt. (http://psychiatrische-landschaften.net; http://www.psichiatria-confini.net)

Der Lehr- und Lernfilm „Die (un)sichtbare Arbeit. Zur Geschichte der psychiatrischen Pflege im historischen Tirol von 1830 bis zur Gegenwart“ / “Lavoro [in]visibile. La storia dell’assistenza psichiatrica nel Tirolo storico dal 1830 a oggi“ ist das Ergebnis eines weiteren Vermittlungsziels. Der Film behandelt die psychiatrische Pflegegeschichte und erschließt dieses bisher noch kaum beachtete Thema für Unterrichts- und Fortbildungszwecke im Bereich der Gesundheits- und Krankenpflege. In diesem Sinn erzählt der Film ein weiteres Stück Tiroler Psychiatriegeschichte.

Psychiatrische Landschaften

Eine Publikation in deutscher und italienischer Sprache mit dem Titel „Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830“ bzw. „Ambienti psichiatrici. La psichiatria e i suoi pazienti nell'area del Tirolo dal 1830 a oggi” ist das fünfte Teilprojekt. Das Buch soll möglichst viele LeserInnengruppen ansprechen und auf die Vielfältigkeit der Untersuchungsebenen und -felder moderner Psychiatriegeschichtsforschung aufmerksam machen.  Die deutsche Ausgabe, die erst seit kurzem druckfrisch vorliegt, kann beim Verlag Innsbrucker University Press gegen einen geringen Selbstkostenpreis für Abwicklung und Versand erworben werden.

(Nina Hausmeister)