„Krieg in den Alpen“: Ein Schritt zu einer transnationalen Geschichtsaufarbeitung des Ersten Weltkrieges

Die Ringvorlesungsreihe anlässlich des 100-jährigen Gedenkjahres des Ersten Weltkrieges lud am 10. Juni in den Claudiasaal in der Innsbrucker Altstadt. Zu Gast waren Werner Suppanz, Oswald Überegger und Nicola Labanca. Inhalt der Vorträge war die Vorstellung des Bands „Krieg in den Alpen. Österreich-Ungarn und Italien im Ersten Weltkrieg (1914-1918)“.
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Die drei Vortragenden des Abends (von links): Werner Suppanz, Oswald Überegger und Nicola Labanca. (Foto: Universität Innsbruck)

Vizerektor Wolfgang Meixner begrüßte die zahlreich erschienene Zuhörerschaft und strich unter Verweis auf die Kooperatoren des Abends, nämlich das Italien-Zentrum und das Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck sowie das Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen, die vielfältigen Aktivitäten der EUREGIO Tirol – Südtirol – Trentino hervor. Gunda Barth-Scalmani, die moderierende Ko-Organisatorin und, gemeinsam mit Hermann Kuprian, Gastgeberin, hob die österreichisch-italienische Zusammenarbeit der zwölf Autoren hervor. Denn bis dato gebe es nur wenige Versuche, in der Historiographie beider Länder beide Sichtweisen zu verbinden. Den Anfang machten Adam Wandruszka und Silvio Furlani (Österreich und Italien: ein bilaterales Geschichsbuch/Austria e l´Italia: Storia a due voci 1973/74), gefolgt 1999 von einem konsequent zweisprachigen Tagungsband von Brigitte Mazohl (Österreichisches Italien – italienisches Österreich? Interkulturelle Gemeinsamkeiten und nationale Differenzen vom 18. Jahrhundert bis zum Ende des Weltkriegs). Enger fokussiert auf den Ersten Weltkrieg war die Publikation einer binationalen Tagung, die jeweils auf Italienisch (2003) und Deutsch (2005) herausgegeben wurden (Hg. für die dt. Ausgabe Gunda Barth-Scalmani/Brigitte Mazohl-Wallnig/Hermann Kuprian, Ein Krieg – Zwei Schützengräben, Österreich – Italien und der Erste Weltkrieg in den Dolomiten 1915 – 1918). Doch rückblickend ist dieser Band der Phase der einsetzenden gegenseitigen Wahrnehmung zuzuordnen und war noch nicht ein Arbeiten an den gleichen Fragestellungen. Als Beginn einer transnationalen Historiographie zum Ersten Weltkrieg könnte man, wie die Moderatorin unterstrich, das aus einer Zusammenarbeit von einem französischen und deutschen Historiker, Jean-Jacques Becker und Gerd Krumeich, 2008 (frz.) bzw. 2010 (dt.) erschienene Werk „Der Große Krieg. Deutschland im Ersten Weltkrieg 1914-1918“ nennen. Wenn man an die vielen Fronten zwischen 1914 und 1918 und die oft regional weiterlodernden gewaltsamen Auseinandersetzungen denkt, dann besteht für das gegenseitige Verstehen der national unterschiedlichen Sichtweisen im und über den Ersten Weltkrieg noch Aufholbedarf. Zumindest für Österreich und Italien stellt das präsentierte Buch einen weiteren entscheidenden Schritt dar.

Ein Sammelband nach einem langen Aufbäumen zweier „unterschiedlicher Gleichen“

Die drei Vortragenden mit den OrganisatorInnen (von links): Nicola Labanca, Werner Suppanz, Gunda Barth-Scalmani, Oswald Überegger und Hermann Kuprian. (Foto: Universität Innsbruck)

Die drei Vortragenden mit den OrganisatorInnen (von links): Nicola Labanca, Werner Suppanz, Gunda Barth-Scalmani, Oswald Überegger und Hermann Kuprian. (Foto: Universität Innsbruck)

Oswald Überegger, Direktor des Kompetenzzentrums für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen, betonte das in den letzten 20 Jahren wieder angestiegene Interesse am Ersten Weltkrieg und erläuterte die Differenzen zwischen den beiden Staaten Österreich und Italien, die ein Zusammenarbeiten für Jahrzehnte verhindert hatten. Der älteste Stolperstein für eine Kooperation stammte aus der Zeit des Weltkriegs selbst. Der langjährige Dreibundpartner Italien erklärte am 23. Mai 1915 Österreich-Ungarn den Krieg. Damit wurde das Bild eines „feigen Erbfeindes“ geprägt, das von der Habsburger-Monarchie bis in die Zwischenkriegszeit und darüber hinaus noch wirkmächtig blieb.

In den folgenden Jahren gab es viele abweichende Geschichtsbilder zwischen den Staaten; den emotionalsten Brennpunkt bildete Südtirol, das nach dem Ende des Ersten Weltkrieges Teil des italienischen Nationalstaats wurde. Die beiden Staaten waren gezeichnet durch zwei voneinander unabhängige nationale Geschichtsschreibungen. Erst Ende des 20. Jahrhunderts kam es in Italien zu einem Abschmelzen von Risorgimento-geprägten Weltkriegs-Deutungen. Die Ergebnisse der Wissenschaftskulturen wurden allmählich gegenseitig wahrgenommen, jedoch weiterhin einzeln präsentiert.

Der von Labanca und Überegger herausgegebene Sammelband bildet nun den nächsten Schritt zu einer bilateralen Geschichtsaufarbeitung des Ersten Weltkriegs. Denn die Forschungsergebnisse werden in einer systematischen Darstellung anhand von wissenschaftlichen Paralleltexten präsentiert, die sich einer transnationalen Sicht annähern. In sechs thematischen Schwerpunkten werden Regierung und Politik, militärische Kriegsführung, die Sicht der Soldaten aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive, Gesellschaft und Mobilisierung, kulturelle Mobilisierung und Propaganda sowie Erinnerung und Geschichtsschreibung behandelt. Die ausgewiesenen Historiker Daniele Ceschin, Martin Moll, Fortunato Minniti, Günther Kronenbitter, Federico Mazzini, Christa Hämmerle, Giovanna Procacci, Hermann J. W. Kuprian, Fabio Todero und die drei anwesenden Wissenschaftler bei der Buchvorstellung verfassten zu jedem dieser Themen Aufsätze aus der Sicht von Italien und Österreich-Ungarn, die nicht nur gegenübergestellt werden, sondern auch parallel zum Vergleich herangezogen werden können. Bevor repräsentativ ein Themenschwerpunkt der beiden Perspektiven vorgestellt wurde, erklärte Überegger, dass es trotz der Differenzen zwischen dem damaligen jungen Nationalstaat Italien und dem multiethnischen Imperium Österreich-Ungarn auch eine Vielzahl an Parallelen gab, die dann zum Vorschein treten, wenn der Blick von der Diplomatiegeschichte zwischen Staaten weg und auf die Erfahrungsgeschichte des Einzelnen hingeleitet wird.

Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Österreich und Italien

Nicola Labanca, Professor an der Universität Siena, stellte die Erinnerungskultur an den „grande guerra“ aus italienischer Perspektive vor. Dabei betonte er, dass es nicht nur eine, sondern mehrere Erinnerungen im Laufe des 20. Jahrhunderts gab. Nach dem Ersten Weltkrieg spalteten sich die Meinungen, ob denn nun die Ereignisse und Entwicklungen 1915 bis 1918 als positiv oder negativ angesehen werden sollten.

Dafür stellte der Verfasser anhand der Schnappschusstechnik – wie er es nannte – fünf Entwicklungsphasen vor. In der ersten Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit konzentrierte sich die Geschichtsschreibung Italiens auf eine einzige Front, nämlich die italienisch-österreichische. Das Bestehen einer einzigen Front im Ersten Weltkrieg unterscheidet Italien von den übrigen europäischen Ländern. Die Anfänge dieser Aufarbeitung der Erlebnisse mündeten in tausenden Erinnerungszeichen wie etwa Gedenktafeln, Weihestätten oder Grabdenkmalen und zahlreiche Ausstellungen. Während des Faschismus wurde der Fokus mittels Propaganda verstärkt auf die heroische Seite des Krieges gelegt. Neben dieser offiziellen Geschichtsauffassung gab es noch zahlreiche persönliche Erinnerungen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges geriet der Erste Weltkrieg in Vergessenheit, denn es setzte vorrangig die Aufarbeitung des Zweiten ein. Das Jahr 1968 bildete dann in der Geschichtsschreibung einen Wendepunkt: Es begann nun die Fokussierung auf die Erfahrungen der nicht mehr so sehr als heroisch umschriebenen Soldaten, die bis heute anhielt. Labanca reflektierte dabei kritisch die Erinnerungskultur seines Landes und erwähnte, dieser Sammelband diene als Auftakt einer solchen Betrachtung.

Werner Suppanz von der Universität Graz rundete den Vortrag mit der österreichischen Perspektive auf die italienische Front ab. Ebenfalls in schnappschussartiger Weise präsentierte er fünf Punkte, die einen umfassenden geschichtlichen Kontext aus österreichisch-ungarischer Perspektive gegenüber Italien geben sollen. Er erwähnte, dass Italien nicht erst seit dem 23. Mai 1915 der Erbfeind war, sondern die Differenzen tiefer in der Vergangenheit resultieren. Aufgrund dieses Negativbildes wurde die italienisch-österreichische Grenze als emotionale Grenze umgedeutet, denn die Ereignisse dort wurden als Verlust des Gesamtdeutschtums aufgefasst. Aufgrund dieser Verlustgeschichte kam es zu österreichweiten Umbenennung zahlreicher Plätze und Straßen, wie heute noch Südtirolerplätze bezeugen und im Tiroler Raum auch Meraner-, Brunecker und Brixnerstraßen ausdrücken. Diese Entwicklung setzte sich während des Austrofaschismus fort. Ebenso waren Kriegsdenkmäler wie in ganz Europa in den österreichischen Gemeinden präsent. Wie auf italienischer Seite erlosch auch in Österreich das Interesse für den Zeitraum des Ersten Weltkrieges. Seit den 60er Jahren setzte der Massentourismus gen Italien ein und das Bild des ehemaligen Erbfeindes verschwand aus dem kollektiven Gedächtnis der österreichischen Bevölkerung. 

Die drei Gastvortragenden beantworteten anschließend die Fragen aus dem Publikum. Der Sammelband Krieg in den Alpen. Österreich-Ungarn und Italien im Ersten Weltkrieg (1914-1918) erschien 2015 im Böhlau-Verlag in Wien. Die italienische Ausgabe trägt den Titel La guerra italo-austriaca (1915-18) und erschien im Jahr 2014 im Verlag „Il Mulino“ in Mailand.

Der Claudiasaal war trotz strahlenden Sommerwetters voll – hier Vizerektor Wolfgang Meixner bei seiner Begrüßung. (Foto: Universität Innsbruck)

Der Claudiasaal war trotz strahlenden Sommerwetters voll – hier Vizerektor Wolfgang Meixner bei seiner Begrüßung. (Foto: Universität Innsbruck)

(Kathrin Dasser, Florian Pichler, Stefan Premstaller)


Die Vorträge auf Youtube:

(Direktlink: http://youtu.be/Xnvp0Mz8lJA)