Festgesetzt im Feindesland!? Ein Einblick in das Phänomen der Kriegsgefangenschaft

Als vierten Vortragenden in der Ringvorlesungs-Reihe zum Ersten Weltkrieg konnten Gunda Barth-Scalmani und Hermann Kuprian am 6. Mai Matthias Egger begrüßen. Er schilderte vor zahlreichem Publikum eindrücklich die Lebensumstände jener Soldaten, die im Verlauf des Ersten Weltkriegs in feindliche Gefangenschaft geraten sind.
blog_ringvorlesung_egger
Matthias Egger bei seinem Vortrag.

Matthias Egger ist ein weiterer Nachwuchshistoriker aus dem Raum Innsbruck, der im Rahmen dieser Vortragsreihe der Universität Innsbruck einen Teilaspekt seiner Dissertation präsentierte. Mit anschaulichem Quellenmaterial, Daten und Fakten gelang es ihm bei seinem Vortrag mit dem Titel „Kriegsgefangene – Voennoplennye – Prigionieri di Guerra: Kriegsgefangenschaft 1914-1918 aus internationaler, österreichisch-ungarischer und Tiroler Perspektive“, sich die Aufmerksamkeit der breiten Zuhörerschaft zu sichern und in der abschließenden Diskussion die vermittelten Inhalte noch weiter zu vertiefen.

In neuen Dimensionen – Kriegsgefangenschaft als Massenphänomen

Der Erste Weltkrieg markierte zum ersten Mal in der Geschichte einen internationalen Konflikt, bei dem die Zahl der gefangengenommenen Soldaten bis in die Millionenhöhe stieg. Schätzungsweise 8,5 Millionen Männer befanden sich in Kriegsgefangenschaft, dies entspricht ungefähr jedem achten mobilisierten Soldaten. Nicht jede kriegsteilnehmende Nation war von diesem Phänomen aber gleichermaßen betroffen, so unterschieden sich die Zahlen der Gefangenen an der West- und Ostfront signifikant voneinander. Der Großteil der österreich-ungarischen Soldaten, welche in Kriegsgefangenschaft gerieten, befand sich in Russland, gefolgt von Italien und Serbien. Als wesentliche Gründe dafür nannte Egger einerseits den strukturellen Charakter der Kriegsführung. Während sich das Kriegsgeschehen an der Westfront in einem Stellungskrieg festfuhr, war jenes im Osten durch mehr Bewegung charakterisiert. Offensiven und Frontdurchbrüche waren keine Seltenheit, was sich folglich auch in der hohen Anzahl an Kriegsgefangenen widerspiegelte. Neben der Art der Kriegsführung spielten Probleme und Mängel bezüglich der Kriegsausbildung und Ausrüstung eine weitere wesentliche Rolle. Die Soldaten waren an der Ostfront krisenhaften Situationen ausgesetzt, auf welche sie weder psychisch noch physisch vorbereitet wurden. Dazu zählten die extremen klimatischen Bedingungen, die in Sibirien vorherrschen. Somit befanden sich 1914 bereits 278.000 österreich-ungarische Männer in Kriegsgefangenschaft in Russland und Serbien. Solche Menschenmassen überforderten die russische Verwaltung maßlos. Der Auf- und Ausbau von Kriegsgefangenlager fand erst im Laufe der Zeit statt und so wurden die Gefangenen zunächst in Schulen und Kasernen untergebracht.

Ein Leben fernab der Heimat – Bedingungen der Kriegsgefangenschaft in Russland

Matthias Egger (Mitte) mit den beiden OrganisatorInnen Gunda Barth-Scalmani und Hermann Kuprian. (Foto: Ricarda Hofer)

Matthias Egger (Mitte) mit den beiden OrganisatorInnen Gunda Barth-Scalmani und Hermann Kuprian. (Foto: Ricarda Hofer)

Matthias Egger erläuterte sieben Parameter, welche die Lebensumstände der gefangenen Soldaten beschrieben und den Zuhörern einen detaillierten Einblick in die vorherrschenden Begebenheiten ermöglichten. Die unterschiedliche Behandlung von „einfachen“ Soldaten und privilegierten Offizieren, die Krankheiten und Seuchen, wie beispielsweise Typhus, von denen zahlreiche Männer betroffen waren und die Arbeitseinsätze, die unter anderem an der Murmanbahn zu absolvieren waren, beeinflussten das Leben der Kriegsgefangenen in beträchtlichem Maße. Des weiteren wirkte sich die russische Nationalitätenpolitik, welche eine „Pro-Entente“-Gesinnung mit mehr Freiraum „belohnte“ und auch auf die Rekrutierung von Freiwilligen-Verbänden auf russischer Seite abzielte sowie die unsichere politische und soziale Lage, hervorgerufen durch die beiden Revolutionen 1917 und den ausbrechenden Bürgerkrieg, auf die Situation der Gefangenen aus. Externe Maßnahmen in Form von diplomatischen Beziehungen, hier vor allem formelle Proteste, Repressalien und materielle Hilfeleistungen wie auch die verzögerte Heimkehr der Soldaten, die unter anderem durch die beträchtliche wirtschaftliche Bedeutung der Kriegsgefangenen zu erklären war, markierten die letzten beiden Parameter, auf welche sich Egger näher bezog.

360.000 auf einen Schlag – Kriegsgefangenschaft in Italien

Die Zahl der österreich-ungarischen Soldaten, die in italienische Gefangenschaft gerieten, stieg von 1916 bis 1918 sukzessive an. Während im Sommer 1916 noch von 63.000 Kriegsgefangenen die Rede war, so multiplizierte sich jene Anzahl im Mai und im November 1918 mit dem zweieinhalbfachen beziehungsweise nahezu sechsfachen Faktor. Im Gegensatz zur russischen Kriegsgefangenschaft zeichnete sich die italienische Lagerorganisation und Verwaltung durch kleinere und überschaulichere Einheiten zu 100 bis 1000 Mann aus. Obwohl die Bedingungen in den Lagern stark hinsichtlich der medizinischen Versorgung oder der Verpflegung variierte, erreichte die Sterberate mit 7 Prozent lange nicht jene Ausmaße, die in Russland mit 18 bis 20 Prozent vorherrschten. Im Frühjahr 1916 begann Italien mit dem Einsatz der Kriegsgefangenen in Landwirtschaft, Industrie, Ausbau der Infrastruktur und Bergbau. Nationalitätenpolitik stand auch auf der italienischen Agenda und so wurden im Zuge dessen auch die neu dazugewonnen Trentiner Landsleute aus der Kriegsgefangenschaft eher entlassen als die breite Masse der Soldaten und auch Teile der übrigen Gefangenen für den Einsatz in Freiwilligen-Verbänden rekrutiert.

Ein Russe in der Tiroler Stube – Kriegsgefangene in Tirol

Ein wesentlicher Unterschied in der Organisation der Tiroler Kriegsgefangenenschaft ist, dass die Gefangenen für die Arbeitseinsätze vor allem aus Stammlagern in Oberösterreich und Salzburg nach Tirol kamen. Der Arbeitseinsatz der gefangenen Soldaten begann gleich wie in Italien bereits im Jahr 1915 und erstreckte sich von landwirtschaftlichen Aufgaben über die Regulierung von Gewässern, militärischen Arbeiten im Front- und Etappenraum bis hin zum Bau der Grödner Bahn. Die Lebensumstände der fremden Soldaten unterschieden sich stark voneinander, je nachdem, ob der Betroffene als Knecht an einem Tiroler Hof aufgenommen und verpflegt wurde oder völkerrechtswidrig an der Gebirgsfront zum Einsatz kam.

Matthias Egger schloss seinen Vortrag mit der Charakterisierung der Kriegsgefangenschaft als ein nie da gewesenes Massenphänomen, aber dennoch zentralen Bestandteil der Kriegserfahrung, ab und eröffnete die Möglichkeit der Diskussion, welche von der Zuhörerschaft rege angenommen wurde.

Blick in den Hörsaal beim Vortrag von Matthias Egger. (Foto: Ricarda Hofer)

Blick in den Hörsaal beim Vortrag von Matthias Egger. (Foto: Ricarda Hofer)

 (Linus Konzett und Stefanie Lutz)


Der Vortrag auf Youtube:

(Direktlink: http://youtu.be/Y1AoeJnLXYE)