Jean Jaurès 1914 – Pazifist, „Verräter“, Märtyrer

Auf Einladung des Frankreich-Schwerpunkts der Uni Innsbruck hielt Prof. Michel Cullin, Politologe an der Diplomatischen Akademie Wien, einen Vortrag über den französische Sozialistenführer Jean Jaurès im Rahmen der UNESCO Chair for Peace Studies von Prof. Wolfgang Dietrich.
Prof. Michel Cullin und seine Übersetzerin Dr. Carmen Konzett
Prof. Michel Cullin und seine Übersetzerin Dr. Carmen Konzett

Der französische Sozialistenführer Jean Jaurès wurde am 31. Juli 1914 – am Vorabend der Kriegserklärung – ermordet, weil er versucht hatte, den Weltkrieg zu verhindern. Nach Kriegsende wurde sein Mörder freigesprochen, weil Jaurès als Verräter betrachtet wurde, und seine Witwe musste die Prozesskosten bezahlen. Erst 1924 wurde Jaurès als Nationalheld im Panthéon beigesetzt. Der Vortrag über die faszinierende Gestalt, an deren Schicksal sich die französische Geschichte des beginnenden 20. Jahrhunderts festmachen lässt, fand am Bildungsinstitut Grillhof, dem Sitz des UNESCO Chairs, statt.

Die sehr internationalen Studierenden des Friedenslehrgangs, die sich auf Einsätze in Krisengebieten vorbereiten, lauschten gespannt und ergriffen der Vorstellung eines Pazifisten, der bis zuletzt darauf hingearbeitet hatte, dass zwischen Frankreich und Deutschland/Österreich andererseits ein Krieg verhindert werden sollte, und der diesen Einsatz schließlich mit seinem Leben bezahlt hatte. Nur wenige Intellektuelle– in Frankreich (Romain Rolland) wie auch in Deutschland (Rosa Luxenburg) und Österreich (Bertha von Suttner) – hatten damals die Verhinderung des sinnlosen Massenschlachtens vor nationalpolitische Interessen gestellt. In Frankreich schwenkten die Sozialisten unmittelbar nach Jaurès‘ Tod auf den Regierungskurs ein, der die „Union Sacrée“, die nationale Einheit aller Parteien gegen den äußeren Feind, vorgab.

Jaurès betrieb den Frieden im Sinne der Solidarität der Arbeiterklasse, er sagte in einer seiner letzten Reden: „Jenes gemeinsame Ideal, das die Proletarier aller Länder vereint und begeistert, macht sie jeden Tag unzugänglicher für die Kriegstrunkenheit, die nationalen Machtkämpfe und den Hass der Nationen.“ „Es gibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt, wo wir von Schlachten und Morden bedroht sind, nur eine einzige Chance für den Erhalt des Friedens und die Rettung der Kultur: dass das Proletariat all seine Kräfte versammelt, all seine zahlreichen Brüder – Franzosen, Engländer, Deutsche, Österreicher, Italiener, Russen – und dass wir diese Tausenden Menschen dazu bringen, den schrecklichen Albtraum zu verhindern.“ Die von ihm gegründete Zeitung L’Humanité, in der er bis zuletzt gegen den drohenden Kriegsausbruch angeschrieben hatte, wurde später von der Kommunistischen Partei Frankreichs übernommen, deren Organ sie auch heute noch ist. Auch das Gedenken an ihn wurde von den verschiedensten Kräften – allen voran den Kommunisten – vereinnahmt und diente u.a. auch als Vorwand, als die französische Linksregierung Front populaire 1936 beschloss, die Republikaner im spanischen Bürgerkrieg militärisch nicht zu unterstüzen.

Michel Cullin hat sein Leben als Diplomat und Hochschullehrer wie auch als politischer Mensch ganz den Beziehungen zwischen Frankreich und Österreich sowie zwischen Frankreich und Deutschland gewidmet. Er war ORF-Korrespondent in Frankreich, wirkte als Professor und Gastprofessor in Wien, München, Heidelberg, Leipzig, Jena und Orléans, war Direktor des französischen Kulturinstituts in Wien und französischer Kulturattaché in Berlin und engagierte sich im Deutsch-Französischen Jugendwerk. Heute lehrt er an der Universität Nizza und an der Diplomantischen Akademie in Wien, unterstützt den Gedenkdienst von jungen Österreichern in Holocaust-Gedenkstätten und ist Vizeobmann des Weltmenschenvereins (Verein zur Förderung des Friedens unter den Menschen).

(Eva Lavric)