Der Europäische Traum und die Wirklichkeit

Am 11. November fand die Auftaktveranstaltung der Vortragsreihe „Ein anderes Europa: konkrete Utopien und gesellschaftliche Praxen“ statt. Veranstaltet wird die Reihe vom Büro für Gleichstellung und Gender Studies in Kooperation mit der Arbeiterkammer Tirol, dem Verein Gewerkschaftliche Bildung Tirol und dem Arbeitsmarktservice Tirol.
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Andreas Wehr, Hans Ofner, Alexandra Weiss, Eva Lichtenberger, Heinrich Neisser, Hannes Swoboda (v.l.n.r.). Foto: Christine Mandl, AK-Tirol

Als Vortragender wurde der Jurist und Buchautor Dr. Andreas Wehr eingeladen, mit ihm diskutierten Dr. Eva Lichtenberger, Prof. Heinrich Neisser und Dr. Hannes Swoboda. In seinem Referat ging Andreas Wehr auf Legitimationsproblematiken der Europäischen Union ein. Eine geringe Wahlbeteiligung korreliert dabei mit sinkenden Sympathiewerten der EU und einem Stimmenzuwachs der rechtspopulistischen Parteien in Europa. Vor allem seit der Euro-Krise kam es in allen EU-Ländern zu einem Vertrauensverlust gegenüber der EU.

Als zentrale Legitimationsfiguren des Europäischen Einigungsprozesses nannte Wehr das Projekt der Friedenssicherung, da damit die ehemalige Feindschaft zwischen den großen europäischen Mächten (v.a. Frankreich und Deutschland) beendet werden konnte. An dieser Kernbotschaft der europäischen Integration wachsen allerdings angesichts des fortschreitenden Ausbaus der Außen- und Sicherheitspolitik der EU und mit der damit verbundenen Militarisierung Zweifel, so Wehr.

Als neuere Legitimationsfigur rückt die Bewahrung einer Vormachtstellung der EU im Kontext der Globalisierung in den Vordergrund. Angesichts von mächtigen Global Players oder dem Aufstieg der sogenannten Schwellenländer, insbesondere Chinas, warnen viele PolitikerInnen und WissenschafterInnen vor einem drohenden Bedeutungsverlust Europas – von Jeremy Rifkin, Jürgen Habermas, Ulrich Beck bis hin zu Daniel Cohn-Bendit, Guy Verhofstadt oder Martin Schulz. Die Warnungen vor einem drohenden Niedergang Europas sind aber nicht neu, so Wehr, sie haben eine lange Tradition, die mindestens bis zum Beginn der 20. Jahrhunderts zurückreichen. Im Gegensatz dazu verwies er darauf, dass diese Bedrohungsszenarien nicht die Realität der weltpolitischen Stellung Europas widerspiegeln, sondern vielmehr eine Politik der Angst forcieren würden. Schreckensszenarien vom Abstieg Europas dienten heute vor allem dazu die zentralen sozialen Konflikte und demokratiepolitische Probleme in der Europäischen Union zu verschleiern und politische Lösung dafür hintanzustellen.

In der Diskussion betonte Eva Lichtenberger, dass der Einfluss der Nationalstaaten gegenüber den Global Players zu gering sei und es deshalb eine weiter und vertiefte europäische Integration brauche. Heinrich Neisser teilte manche Punkte der Kritik von Wehr an der Europäischen Integration, hielt aber fest, dass die Kritik an der EU nicht damit einherginge, dass sich Mitgliedsländer vom Integrationsprozess abkoppeln möchten. Darüber hinaus habe der Prozess der Regionalisierung in der EU auch eine Schutzfunktion gegenüber der Globalisierung. Auch Hannes Swoboda teilte manche Kritikpunkte, betonte aber das Problem, dass Nationalstaaten viele europäische Initiativen torpedieren würden – so etwa die Finanztransaktionssteuer. Grundsätzlich müsse die europäische Integration als Chance verstanden werden, die zum Teil verwirklicht wird, zum Teil aber auch nicht.

Abschließend hielt Andreas Wehr fest, dass die Problematik einer weiteren politischen Integration darin liegt, dass ein Machtungleichgewicht zwischen den Interessengruppen der Wirtschaft und jenen der ArbeitnehmerInnen herrsche. Gerade die Vertretungen der abhängig Beschäftigten seien auf europäischer Ebene schwach verankert und wenn es um Lobbying gehe, den Interessengruppen von Wirtschaft und Finanzwelt weit unterlegen. Auch essentielle Fragen, wie die der Steuerharmonisierung, seien im Rahmen des Vertrags von Lissabon kaum durchsetzbar. Harmonisierung finde nur dort statt, wo der Binnenmarkt beeinträchtigt werden könne, z.B. bei den indirekten Steuern. Eine Demokratisierung und eine stärkere sozialpolitische Ausrichtung der Europäischen Union sei für eine weitere politische Integration eine grundlegende Voraussetzung.

(Alexandra Weiss)