Witiko

H64, S. 71b

Nachdem diese Handlungen vorüber waren, entstand wieder eine Unterbrechung in der Versammlung. Mancherlei Gespräche wurden angefangen, man gesellte sich zusammen, manche verließen ihre Size, durch die Thüren wurde aus und eingegangen, ja sogar ein Trunk wurde hie und da gereicht. Auch zu Witiko kam aus den hinteren Reihen Welislaw hervor, reichte ihm die Hand, und sagte: "Erinnerst du dich meiner noch?"

"Du bist Welislaw," antwortete Witiko.

"Ja," erwiederte Welislaw, "wir werden wohl in unsern Meinungen Gegner sein; aber du bist wieder so gerade gegangen wie bei Chynow, und das freut mich."

"Ich weiß nicht, ob wir in unsern Meinungen Gegner sein werden," antwortete Witiko, "ich habe gar keine Meinung, sondern ich sehe Sachen."

Auch der Sohn des Nacerat kam zu Witiko hervor. Er war in himmelblauen Sammet gekleidet, und hatte auf der schwarzen Haube wieder eine weiße Feder wie bei Chynow. Er sprach zu Witiko: "Ich habe dir ja gesagt, daß wir wieder zusammen kommen werden, und nun wird dieses noch weit öfter der Fall sein; denn heute wird etwas geschehen, das eine große Wirkung hervor bringen muß."

"Ich bin nur zum Hören da," entgegnete Witiko.

"Ich sehe, daß du in deinen Vorsäzen nicht nachgibst," sagte der Sohn des Nacerat.

"Thust du das?" fragte Witiko.

"Wenn es sein muß, thut es jeder Mensch," entgegnete der andere.

Auch Casta kam herzu, und sagte: "Sei mir gegrüßt, Witiko."

"Ich entsinne mich deiner nicht mehr," antwortete Witiko.

"Ich bin Casta," sagte der andere, "und bin im Zuge bei Chynow zu weit zurük gewesen, als daß du meiner noch gedenken könntest. Mögest du in allen Sachen so glüklich sein wie hier."

"Wie es ist, eines geht, ein anderes geht nicht," sagte Witiko.

Als die Unterbrechung oder Erholung der Versammlung eine geraume Weile gedauert hatte, geschah wieder das dreifache Zeichen mit der Gloke, und als die Thüren geschlossen waren, die Reihen sich geordneten hatten, und Stille eingetreten war, trat Zdik langsam vor, richtete sein Angesicht gegen die Versammlung, sah sie eine kurze Zeit an, und sprach dann: "Liebe, Ehrwürdige, Treue! Es ist der Augenblik gekommen, in dem wir die große Frage über die Ruhe und das Heil des Landes entscheiden sollen. Möge der Segen des allerhöchsten Herrn des Himmels über diesen Häuptern sein, daß beschlossen wird, was gerecht und heilsam ist. Unser erlauchter edler und umsichtiger Herzog Sobeslaw welcher 15 Jahre ist so schwer erkrankt, daß das Ende seines irdischen Lebens
Randnotiz: |(Erdenlebens)|
nahe bevor zu stehen scheint. Die Heilkundigen sagen, daß er in kurzer Frist die Erde verlassen werde. Nun ist, wie uns der ehrwürdige Leche Bolemil deutlich zu Gemüthe geführt hat, in den eben vergangenen Zeiten, wenn ein Wechsel in den Herrschern statt gefunden hat, so Schweres eingetreten, daß wir sehnlich wünschen müssen, solches jezt zu vermeiden. Aber die Herrschertage der lezten zwei Herzoge des gütigen Wladislaw und des klugen und gerechten Sobeslaw haben aufgezeigt, daß nicht blos Kriege und Blutvergießen bei einem Wechsel der Herrschaft ferne bleiben sollen, sondern daß [sich] auch in der Dauer ¢der Herrschaft¢
Randnotiz: derselben1 (deren Dauer)
der Saamen des Glükes der Menschen, die unter dem Schirme des Herrschers wohnen, aufgehen, und sich entwikeln möge, und daß
(1) die [Thaten derer],
(2) [die] Menschen,
(3) Menschen,2
welche nur ihren Trieben und Begierden folgen, und welche einzeln oder vereint Macht haben können, nicht im Stande sind, das Reich zu erschüttern oder aufzulösen und zu zerstören. Für diejenigen, welche aus verschiedenen Theilen des Landes herein gekommen sind, und in großer Zahl nur der heutigen lezten Versammlung beiwohnen, sage ich: Es sind während der gefährlichen Krankheit des Herzoges von [Einzelnen] Einigen und mehreren Männern Zusammenkünfte über diesen Gegenstand gehalten worden. Es ist erkannt worden, daß Zwiste bei dem Übergange der Herrschaft und bei dem Bestehen derselben nur dann ausbrechen, wenn jeder der zwei

1 Mit ? versehen

2 Mit (??)versehen