Witiko

H17



["Ich weiß es nicht," antwortete das Mädchen, "ich werde sie genommen haben, weil ich sie öfter nahm.

"Hast du an vielen Sonntagen Rosen?" fragte er.

"Selten," erwiederte sie.

"Und ist es nicht ein Wunder, daß jezt in dieser späten Zeit noch Waldrosen sind?" sagte er.

"Bei uns reifen die Blumen und Ähren um vierzig Tage später als unten an der Donau," erwiederte sie, "und diese Rosen stammen von einem Waldschatten, in [dem] welchem die Zweige erst gestern die verspäteten Blumen gebracht haben.

"Nun, Bertha," sagte er, "weil es dein Wesen ist, Rosen zu nehmen, weil du sie gerade heute genommen hast, weil sie gestern in dem Waldschatten aufgegangen sind, weil du nicht weißt, weßhalb du sie genommen hast, und weil du mit ihnen auf meinem Wege standest zu der Zeit, da ich kam, so ist mir dies ein günstig Zeichen."

"So mag es ein Zeichen sein, Witiko," sagte Bertha, "und möget ihr vieles Glük erfahren. Weil ich mit euch hier gesprochen habe, so werde ich euch auch zu meinem Vater führen. Der wird euch einen Mann geben, welcher die Wege [des] und Stege des Waldes sehr genau kennt. Dieser weiset euch den Pfad zu den drei Sesseln und zurük, damit auch die Zeit ersezt werde, die ihr mit mir verbracht habt."

"Ich folge dir recht gerne zu deinem Vater," sagte der Reiter, "aber wirst du mir mit deinem rothen Munde noch einmal etwas singen?"

"Vielleicht, wenn Worte dabei sind," antwortete sie.
"Aber, wie du früher gesungen hast, ohne Worte nicht?" fragte er.

"Nein, weil ich meine Gespannin nicht habe," erwiederte sie.

"Und singst du nicht allein? fragte er.

"Ich singe diesen Gesang nur mit meiner Gespannin," antwortete sie.

"Und wo ist diese?<"> fragte er.

"Unter den Bäumen dort," entgegnete sie.

"Wird sie noch dort sein?" fragte er.

"Freilich," antwortete sie, "aber sie wird nicht singen."

"Warum denn nicht?" fragte Witiko.

"Weil sie nicht will, und weil sie euch nicht kennt," antwortete Bertha.

"Ich habe euch aber doch früher singen gehört, sagte er.

"Dieser Gesang gehört in freie Luft," erwiederte sie, "und wenn uns da jemand hört, so hört er uns von der Ferne, und weiß nicht, was der Gesang bedeutet."

"Wir wollen doch Truda suchen," sagte er.

"So suchen wir sie," entgegnete Bertha.]
Alle Vorgänger des alten Witiko, welche in die Zeiten hinauf reichten, da noch gar kein Christ auf der ganzen Welt war, hatten [rothe] Waldrosen gepflanzt, weil noch keine anderen waren, und alle Nachfolger haben Waldrosen gepflanzt."

"Es wird doch eine Eingebung gewesen sein, daß ich die Rosen genommen habe" sagte Bertha.

"Nimmst du oft Rosen," fragte Witiko.

"Ich nehme sie zuweilen," sagte Bertha.

"Und daß in dieser Jahreszeit noch Rosen gibt, ist schon ein Wunder," sagte Witiko.

"Ich habe diese auch nur heute im Waldschatten gefunden, und in meinen Ring gestekt," entgegnete Bertha.

"Siehst du!" sagte Witiko.

"So mögen sie euch ein Zeichen sein," erwiederte Bertha, "und möget ihr recht viel Glük haben. Ich werde euch zu meinem Vater führen, daß er euch einen Mann zu den drei Sesseln mit gibt, der euch den kürzesten Pfad weist."

"So führe mich zu deinem Vater, Bertha," sagte Witiko.

"Wollt ihr?" fragte sie.

"Ich will," antwortet er.

"So kommt," sagte sie.

Bei diesen Worten erhob sie sich, der Reiter sezte seine[n] [Helm] Lederhaube auf den Kopf, und stand gleichfalls auf.

Sie gingen nun an dem Waldsaume bis zu der Stelle, an welcher die Mädchen heraus gekommen waren. Dort traten sie unter die Stämme, und
[nach einigen Schritten fanden sie Truda. Sie saß auf einem Steine unter den Bäumen in solcher Art, daß sie auf die Beiden hatte hinaus sehen können, ohne daß sie von ihnen gesehen wurde. Als sie hinzu kamen, stand sie auf, und blieb stehen. Der Reiter sagte zu ihr: "Deine Freundin hat mir gesagt, daß du Truda heißest, und daß du ihre Singgespannin bist. Ich habe durch meine Ankunft euren Gesang unterbrochen, wollt ihr ihn nicht fortsezen, wenn ich ihn auch höre?"

Truda blieb vor ihm stehen, und antworte nichts.

"Wirst du nicht singen, Truda?" fragte er.

"Ich werde nicht singen," antworte das Mädchen.

"Du wirst einer freundlichen Bitte doch nicht unfreundlich sein?" sagte er.

Sie erröthete auf diese Worte, und schüttelte sanft das Haupt.]1
in kleiner Tiefe des Waldes stand das andere Mädchen, das mit Bertha gesungen hatte. Als Bertha und Witiko sich ihr näherten, nahm sie die Flucht, und lief vor ihnen her. Witiko sah nun, daß ihre Zöpfe, die auf das dunkle Kleid hinab gingen, eine lichte fast weißgelbe Farbe hatten, während die Berthas braun waren. Sie lief aber so, daß sie bald nicht mehr gesehen werden konnte. Witiko und Bertha gingen unter den hohen Tannen des Waldes und zwischen bemoosten Steinen dahin. Sie gingen aufwärts.
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1 Fortsetzung des gestrichenen Textes auf H/S.18