mehrsprachigkeit-workshop-935x561

Mehrsprachigkeit. Ein multidisziplinärer Workshop

Der Workshop mit den diesjährigen FSP-Stipendiatinnen, internationalen Gästen und Innsbrucker Nachwuchswissenschaftler*innen bietet Gelegenheit, Fragen der Mehrsprachigkeit in Forschung und Alltag in unterschiedlichen Kontexten und Konstellationen zu diskutieren.

Mehrsprachigkeit als Thema der Forschung hat sich in den letzten Jahren in vielen geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen deutlich intensiviert, verdichtet und ausdifferenziert und spielt nicht zuletzt im Forschungsschwerpunkt eine wichtige Rolle. Die wahrgenommene Beschleunigung von Globalisierung durch Urbanität, Migration und mediale Vernetzung sowie die damit einhergehende zunehmende Flexibilität und Pluralität sozialer Zugehörigkeiten sind zentrale gesellschaftliche Auslöser des steigenden Forschungsinteresses. Mehrsprachigkeit als beobachtbares Phänomen in religiösen, politischen, administrativen, wissenschaftlichen und literarischen Texten und anderen kulturellen Zeugnissen hingegen hat eine lange Geschichte. Entsprechend notwendig ist es, Fragen der Mehrsprachigkeit über Disziplinengrenzen hinweg zu diskutieren.

Der Workshop ist Teil der Veranstaltungsreihe  Mehrsprachigkeitsmai“.

27. Mai 2019
Universität Innsbruck, Innrain 52d, 4. Stock, Raum 40406

Das Programm des Workshops finden Sie  hier zum Download.


9:00–9:15 | Begrüßung und Einführung

9:15–10:45 | Schule als Verhandlungsort von Mehrsprachigkeit

Moderation: Carmen Konzett-Firth

Benjamin Fliri
Sprachliche Diversität in der Ausbildung und Schule? Mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze aus der Sicht zukünftiger Fremdsprachenlehrpersonen

» Abstract

In Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Mobilität und Migrationsbewegungen bezeichnet der Begriff der Diversität ein Hauptanliegen aktueller Forschungsdiskurse im Bildungskontext. Österreichische SchülerInnen sind in großem Maße divers, wobei ihre sprachlichen und kulturellen Hintergründe nur ein Teil eines zu beachtenden Faktorenkomplexes im Umfeld der Schule sind. Eine besondere Rolle kommt hier der Lehrperson zu, die die Diversität der SchülerInnen als Ressource nutzen kann, um diese nicht zu einem Auslöser für Chancenungleichheit werden zu lassen. Aktuelle Forschungsarbeiten zeigen aber deutlich, dass diese Diversitätskategorien in der Schulrealität und auch in der Ausbildung zukünftiger Lehrpersonen nicht adäquat berücksichtigt werden (vgl. u.a. Dirim 2015; Krumm 2015; Warga 2009). PädagogInnen fühlen sich damit für die Anforderungen sprachlicher Diversität nicht vorbereitet (vgl. u.a. Acquah et al. 2015). Notwendig sind Ausbildungsansätze, die die Arbeit an und mit Mehrsprachigkeit im Sinne eines chancenorientierten Ansatzes ermöglichen. Ein Paradigmenwechsel hin zu einer Pädagogik, die sich direkt mit der (sprachlichen) Diversität der SchülerInnen schon in der Ausbildung zukünftiger Lehrperson beschäftigt, soll dabei erreicht werden (vgl. Holzbrecher 2017).

Das vorliegende Forschungsprojekt versucht daher im Sinne des design-based research-Ansatzes (vgl. u.a. Amiel/Reeves 2008) angesprochene Desiderate der Lehramtsausbildung in eben dieser zu berücksichtigen. Dafür wurde eine Lehrveranstaltung konzipiert und in mehreren Zyklen erprobt, die sich auf (sprachliche) Diversität konzentriert und versucht, diese in den Professionalisierungsprozess zukünftiger Lehrpersonen zu integrieren. Im Zuge dessen wurden sowohl qualitative als auch quantitative Daten in Form von Leitfadeninterviews und Fragebögen erhoben, die Aufschluss über die Einstellung (beliefs) der Studierenden zur Rolle der Mehrsprachigkeit im Schulkontext vor und nach Besuch der Lehrveranstaltung geben und aufzeigen, welche Anforderungen sie aus NovizInnenperspektive an eine diversitätsbewusste Professionalisierung in der Ausbildung stellen. Es kann auf Basis der Forschungsergebnisse und theoretischer Erkenntnisse gezeigt werden, wie die Einstellungen der zukünftigen Lehrpersonen das pädagogische Handeln und damit die Wahrnehmung von Diversität beeinflussen und wie auf diesen Umstand in der Ausbildung auf Basis von mehrsprachigkeitsdidaktischen Prinzipien reagiert werden kann (vgl. Hu 2013). Die sprachlich diverse Schulrealität kann somit auch im Kontext der LehrerInnenausbildung abgebildet und aus studentischer Perspektive beleuchtet werden.

Literatur

Acquah, Emmanuel O./Tandon, Madhavi/Lempinen, Sonia (2015): Teacher diversity awareness in the context of changing demographics. In: European Educational Research Journal 15 (2), S. 218–235.
Amiel, Tel/Reeves, Thomas C. (2008): Design-Based Research and Educational Technology: Rethinking Technology and the Research Agenda. In: Educational Technology & Society 11 (4), S. 29–40.
Dirim, İnci (2015): Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit in der schulischen Bildung. In: Leiprecht, Rudolf/Steinbach, Anja (Hrsg.): Schule in der Migrationsgesellschaft: Bd. II: Sprache – Rassismus – Professionalität. Schwalbach: Debus, S. 25–48.
Holzbrecher, Alfred (2017): Pädagogische Professionalität in der diversitätsbewussten Schule entwickeln. In: Sebastian Barsch/Nina Glutsch/Mona Massumi (Hrsg.): LehrerInnenbildung gestalten: Band 9. Diversity in der LehrerInnenbildung: Internationale Dimensionen der Vielfalt in Forschung und Praxis. Münster, New York: Waxmann. S. 17–33.
Hu, Adelheid (2003): Schulischer Fremdsprachenunterricht und migrationsbedingte Mehrsprachigkeit. Tübingen: Narr (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik).
Krumm, Hans-Jürgen (2015): Organisiertes Schulversagen – oder: Anforderungen an die Schule in der Einwanderungsgesellschaft. In: Dirim, İnci (Hrsg.): Impulse für die Migrationsgesellschaft. Bildung, Politik und Religion. Münster/New York: Waxmann, S. 280–293.
Warga, Muriel (2009): LehrerInnenbildung für eine mehrsprachige Schule - eine sprachenpolitische Bestandsaufnahme. In: Zeitschrift für Pädagogik 159 (5–6), S. 476–483.

Martina Schmidinger
Von der „Tschechisierung deutscher Schulen“ und der „Festigung des Deutschtums an der Sprachgrenze“ in Niederösterreich: Deutsch–tschechische Sprachgebrauchsmuster in schulpolitischen Auseinandersetzungen und die Verwendbarkeit regionaler Periodika für korpuslinguistische Analysen

» Abstract

Folgt in Kürze.

Kaffeepause

11:15–12:45 | Konfliktpotentiale von Sprachspuren

Moderation: Nikolay Hakimov

Roswitha Kersten-Pejanić
Debatten um Mehrsprachigkeit und Digraphie in der sprachlichen Landschaft des ländlichen Kroatiens

» Abstract

Die Forschung zu sogenannten Linguistic Landscapes hat sich in den vergangenen Jahren eingehend mit den Fragen und Effekten offizieller Sprachplanung und gelebter Realitäten urbaner Mehrsprachigkeit beschäftigt. Das in diesem Vortrag besprochene Material zur Linguistic Landscape der kroatischen Nachkriegsgesellschaft beschäftigt sich demgegenüber mit stark ländlich geprägten Gebieten, in denen weitgehend (jedoch mitnichten ausschließlich) monolinguistisches Material aufzufinden ist. Die besondere Prägung dieses einsprachigen Materials zeigt sich in einem hohen Anteil expliziter Inhalte, die einen klaren Bezug zu den hier vor mehr als 20 Jahren stattgefundenen Kriegs- und Besatzungszuständen aufweisen.

Darüber hinaus weist jedoch gerade die Donauregion an der Grenze zwischen Kroatien und Serbien, die ebenfalls stark durch ihren Status als Nachkriegsgebiet geprägt ist, auch einschlägiges mehrsprachiges und zweischriftliches Material an sprachlichen Zeichen im öffentlichen Raum auf. Diese gehen mit zuweilen hitzigen Diskussionen und deutlichen lokalen Protestaktionen einher, manchmal bestehen sie jedoch auch schon lange Zeit und erweisen sich als gänzlich unproblematisch. Der unterschiedliche öffentliche Umgang erklärt sich durch die verschiedenen politischen Implikationen, die verschiedene Sprachen und Alphabete für das historische Zusammenleben der Menschen in dieser Region bedeuten. So können kroatisch-ungarische Straßenschilder und Aushänge als problemlos gelten und erfahren keine sichtbaren Widerstände im öffentlichen Raum. Dies gilt nicht für das Nebeneinander von lateinischen mit kyrillischen (und damit als „Serbisch“ kategorisierten) Buchstaben im öffentlichen Sprachgebrauch, das starke Reaktionen nach sich zieht und oftmals zu direkten, sichtbaren Eingriffen in die Linguistic Landscape führt.

Neben der Vorstellung einschlägiger Beispiele für die im öffentlichen Raum sichtbaren Debatten rund um Mehrsprachigkeit und Digraphie der untersuchten Gebiete Kroatiens, wird im Vortrag eine Kontextualisierung sowohl des Forschungsfeldes, der Linguistic Landscape Studies, als auch der hier vorgestellten, in Feldforschung untersuchten Gebiete Kroatiens vorgenommen.

Patrick Wolf-Farré
Sprachliche Identitätskonflikte beim Verlust der „heritage language“

» Abstract

Jugendliche Sprecher mit Migrationshintergrund in Deutschland vermitteln oft den Eindruck eines unvollständigen Spracherwerbs, der zudem stark gezeichnet ist von türkischen, arabischen etc. Interferenzen. Tatsächlich sind die SprecherInnen aber viel besser in der Lage, Varietäten und Sprachgebrauchsformen zu unterscheiden, als es von außen erscheint, wie bereits Heike Wieses Untersuchungen zum „Kiezdeutsch“ (2012) verdeutlicht haben. Auffällig ist, dass diese Varietät – ob Kiezdeutsch oder „Türkendeutsch“ wie bei Deppermann (2007) – auch in der dritten Generation stark vertreten ist, obwohl die Weitergabe der Herkunftssprache oft nur teilweise erfolgt ist oder ganz aufgegeben wurde. Die SprecherInnen wachsen häufig zweisprachig, teilweise auch monolingual deutsch auf, werden aber durch ihre Umwelt nie nur als deutsch, sondern mindestens „deutsch + X“ wahrgenommen. Dieses „X“ zu füllen stellt eine Herausforderung an das Selbstverständnis der jungen Menschen dar.

Das Forschungsprojekt „Sprachliche Identitätskonflikte beim Verlust der heritage language“ soll die Frage erörtern, welche Identitätskonflikte der generationale Verlust der Herkunftssprache mit sich bringt und wie sich diese sprachlich auswirken. Diese Frage soll in einem quantitativ-qualitativen Verfahren erörtert werden. Die erste These dieser Arbeit lautet, dass jugendliche Sprecher mit Migrationshintergrund mit ihrer Sprache ihr „Anderssein“ gegenüber einer überwiegend deutschstämmigen und deutschsprachigen Umgebungmarkieren. Hieraus ergibt sich die zweite These, dass nämlich dieses Markieren der nicht-deutschen Herkunft mithilfe einer Jugendsprache wie dem Kiezdeutsch verstärkt dort geschieht, wo die intergenerationale Weitergabe der Herkunftssprache nicht oder unzureichend erfolgt ist. Sollten diese Thesen zutreffen, wird hier auf sprachlicher Ebene ein Identitätskonflikt sichtbar, der weit über diese Ebene hinausreicht.

In diesem Vortrag soll zunächst die Frage erörtert werden, wie dieses Forschungsprojekt innerhalb der deutschsprachigen und internationalen Forschung zum Thema verortet werden kann. Es muss also zunächst gefragt werden: Womit identifizieren sich jugendliche SprecherInnen in Deutschland heute? Welche Rolle spielen nationale Zuordnungen, soziale Gruppen, ethnische Gruppen, Subkulturen? Und wie spiegelt sich all dies in der Sprache wider?

Literatur

Deppermann, Arnulf (2007): „Stilisiertes Türkendeutsch in Gespräch deutscher Jugendlicher“. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi) 148, 43–62.
Wiese, Heike (2012): Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht. München: C. H. Beck.

Mittagspause

14:15–15:45 | Mehrsprachigkeit im Alltag Geflüchteter

Moderation: Manfred Kienpointner

Johanna Holzer
Mehrsprachigkeit und Sprachidentität. Das Beispiel „Sprachbiographie“ junger unbegleiteter Geflüchteter aus Syrien und Afghanistan

» Abstract

Im Zentrum dieses Beitrags steht die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit am Beispiel von Sprachbiographien (unbegleiteter) junger Geflüchteter (ujG) aus Syrien und Afghanistan. Die theoretische Grundannahme der Forschungsarbeit besteht darin, dass sprachbiographische Einflussfaktoren, wie beispielsweise Traditionen in der Familienkommunikation, die Rolle familiärer Sprachlehrer, Sprachideologien in der Familie sowie gegebenenfalls der schulische Spracherwerb und die damit verbundene Spracheinstellung, den Erwerb des Deutschen als Fremdsprache bei ujG beeinflussen.

Anhand von zwanzig sprachbiographischen Interviews mit weiblichen und männlichen ujG zwischen 17 und 25 Jahren, die im Zeitraum von April bis Dezember 2018 erhoben wurden, soll im weiteren Verlauf des Dissertationsvorhabens die sprachliche Repräsentation von Identität in Bezug auf Mehrsprachigkeit bei unterschiedlichen Sprachkontakten inhaltsanalytisch festgestellt und in diesem Kontext der Einfluss von Sprachbiographien auf den Spracherwerb des Deutschen untersucht werden.

Die Untersuchung von Sprachbiographien, Sprachidentität und den in diesem Zusammenhang gestellten Einfluss auf den Spracherwerb bei ujG in Deutschland versteht sich als zwingende Ergänzung zur bisherigen migrationslinguistischen Erforschung. Von besonderer Bedeutung ist die soziale Gruppe ujG deshalb, da in diesem Zusammenhang der Spracherwerb des Deutschen ohne bzw. mit eingeschränkter familiärer Rückkoppelung und dem innerfamiliären Sprach- und Kulturerhalt stattfindet (Problem des möglichen Sprachverlustes der Herkunftssprachen).

Der Vortrag wird den Zwischenstand der Arbeit nach der ersten Datenerhebung skizzieren. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der soziodemographischen Kategorisierung der ProbandInnen und den bisher erstellten Interview-Transkriptionen mit FOLKER und MAXQDA. Diese zeigen unter anderem, dass – neben den Kriterien der qualitativen Inhaltsanalyse – auch pragmalinguistische Ansätze (z.B. die Untersuchung der auf Deutsch geäußerten Personaldeiktika) Hinweise auf sprachliche Identitätsmarker geben können.

Erste inhaltsanalytische Analysen ergeben, dass vor allem weiblichen ProbandInnen das Konzept „Identität durch Sprache“ (vgl. Thim-Mabrey, 2003) mittels ihrer Sprachbiographie bestätigen. Außerdem kann zum aktuellen Auswertungszeitpunkt festgehalten werden, dass die interviewten ujG, die ihren Alltag mit „gelebter Mehrsprachigkeit“ (teilweise in bis zu vier Sprachen) bestreiten, ein höheres Sprachniveau in Deutsch (nach dem gemeinsamen europäischen Referenzrahmen) erreicht haben, als ProbandInnen mit einem weniger mehrsprachig geprägten Umfeld und ähnlicher Aufenthaltsdauer in Deutschland.

Auch stellt der Vortrag die Beobachtung der „zweiten, sprachlichen Sozialisierung“ (v.a. auf lexikalischer Ebene) von ujG in den Mittelpunkt. Demnach wirkt sich der Spracherwerb des Deutschen ebenfalls auf die (lexikalische) Entwicklung in der jeweiligen Muttersprache (L1) aus (v.a. hinsichtlich von lexikalischem Transfer und Code-Switching).

Literatur

Franceschini, Rita (Hrsg.), (2010): Sprache und Biographie. Stuttgart. Metzler
König, Katharina (2014): Spracheinstellungen und Identitätskonstruktion. Berlin. De Gruyter
Stehl, Thomas (Hrsg.), (2011): Sprachen in mobilisierten Kulturen. Aspekte der Migrationslinguistik. Potsdam. Universitätsverlag Potsdam
Thim-Mabrey, Christiane (2003): Sprachidentität – Identität durch Sprache. Ein Problem aus sprachwissenschaftlicher Perspektive. In: Janich, Nina/Thim-Mabrey, Christiane (Hrsg.): Sprachidentität – Identität durch Sprache. Tübingen. Gunter Naar

Gina Wrobel
WhatsApp, „Stories“ und Dokumente: Mehrsprachige „Literacy“-Praktiken im Alltag einer syrischen Geflüchteten

» Abstract

In diesem Vortrag stelle ich Analysen und Beispiele alltäglicher mehrsprachiger ‚Literacy‘-Praktiken von Samana aus Syrien vor. Die analysierten Daten sind Teil meines Dissertationsprojektes, in dem ich ‚Literacy‘-Praktiken im Alltag von erwachsenen Geflüchteten untersuche. Hierfür begleite ich seit September 2018 neben Samana drei weitere Geflüchtete aus Syrien und dem Irak. Ziel der longitudinalen Untersuchung ist es, ein besseres Verständnis über die Funktionen ihrer ‚Literacy‘-Praktiken, über die damit verbundenen Chancen, Herausforderungen und Bedürfnisse sowie über deren Erhaltung und Entwicklung zu erlangen. Für eine tiefgehende detaillierte Beschreibung dieser Praktiken nutze ich verschiedene ethnographische Methoden, wie z.B. Beobachtung, Interviews und das Sammeln von Schriftstücken (Duff, 2008; Merriam & Tisdell, 2016). ‚Literacy‘ verstehe ich als soziale Praxis und als multimodal (Gee, 2015; Street, 1995, 2003), d.h. ‚Literacy‘ beschränkt sich nicht nur auf Lesen und Schreiben, sondern bezieht gesamte Handlungen, Reaktionen und Überlegungen, die sich mit Schriftsprache beschäftigen, ein. Dazu gehören nicht nur die Beschäftigung mit klassischen gedruckten Dokumenten oder handschriftlichen Notizen, sondern auch die Verwendung von Zeichen, Emojis, Bildern etc., mündliche Äußerungen, Gestik und Mimik sowie digitale und soziale Medien. Dabei spielt auch der unterschiedliche Gebrauch von Sprache eine Rolle. Samana, die seit knapp einem Jahr in Deutschland lebt, nutzt in alltäglichen Situationen ihr volles (nicht nur) sprachliches Repertoire. Um auf die Komplexität von Samanas mehrsprachigen ‚Literacy‘-Praktiken und unterschiedlich mögliche Interpretationen einzugehen, betrachte ich konkrete Situationen, in denen ‚Literacy‘ stattfindet, aus soziolinguistischen, transnationalen Perspektiven zu Mehrsprachigkeit und ‚Literacy‘ (z.B. Blommaert, 2010; Martin-Jones, Blackledge, & Creese, 2012; Martin-Jones & Martin, 2017; Warriner, 2007, 2012). Der Fokus liegt dabei auf drei Praktiken, die sich in den Voranalysen von Interviews, WhatsApp-Chats, Facebook-Posts und Beobachtungen von ‚Literacy Events‘ bei Samana abzeichneten: die Nutzung und Funktionen von WhatsApp, der Umgang mit Dokumenten und das Schreiben von ‚Stories‘ (Kurzgeschichten). Anhand deskriptiver, narrativer Analysen (Barkhuizen, 2013; Baynham & De Fina, 2017; Chase, 2018; De Fina & Georgakopoulou, 2015) gebe ich einen Einblick, wie, wo, wann und warum WhatsApp, Dokumente und ‚Stories‘ in Samanas Alltag eine Rolle spielen und welche Funktionen diesen mehrsprachigen Praktiken zukommen. Dabei präsentieren sich ihre Praktiken nicht nur als superdivers (Blommaert & Rampton, 2011; Budach & de Saint-Georges, 2017; De Fina, Ikizoglu, D., & Wegner, 2017), sondern auch als translingual (Canagarajah, 2013). Interessant ist hierbei auch, wie Samana selbst diese Praktiken wahrnimmt und beurteilt bzw. welche Bedeutung sie ihnen beimisst.

Kaffeepause

16:15–17:45 | Literarische Mehrsprachigkeit

Moderation: Miriam Finkelstein

Jana Maria Weiß
Jenseits des Zählbaren. Paul Celans Poetik der Mehrsprachigkeit

» Abstract

Die Dichtung Paul Celans kennzeichnet eine große Sprachenvielfalt: Neben hebräischen, jiddischen und französischen Einsprengseln findet sich in vielen seiner Gedichte auch englisches, russisches und spanisches Wortmaterial. Dennoch erklärte Celan in einer Umfrage der Pariser Librairie Flinker zum „problème du bilingualisme“: „An Zweisprachigkeit in der Dichtung glaube ich nicht. […] Dichtung – das ist das schicksalhaft Einmalige der Sprache.“ („Antwort auf eine Umfrage“, 175) Dies scheint auf den ersten Blick in Widerspruch zu seiner multilingualen Dichtung zu stehen. Wie ich in meinem Vortrag zeigen möchte, ist das Konzept des „schicksalhaft Einmalige[n]“ jedoch weniger als Absage an literarische Mehrsprachigkeit zu verstehen; es kann vielmehr als Plädoyer für die Wahrnehmung dichterischer Sprache jenseits nationalsprachlicher Kategorien gelesen werden.

Das „Einmalige“ ist nicht gleichzusetzen mit dem „Einsprachigen“, sondern verweist auf eine Einzigartigkeit des dichterischen Idioms, das sich einer Zergliederung in zählbare Einzelsprachen entzieht. Dies spiegelt sich auch in Celans Gedichten wider, die nicht nur von der Präsenz der genannten Nationalsprachen geprägt sind, sondern durch die Integration dialektaler, fachsprachlicher und historischer Sprachstandards sowie durch Reflexionen über Sprachdifferenz die vermeintlich klare Unterscheidbarkeit zwischen Ein- und Mehrsprachigkeit verschwimmen lassen. Unter dem Leitbegriff des „schicksalhaft Einmalige[n]“ entwirft Celan eine Poetik jenseits des Zählbaren, deren dichterische Sprache zugleich „Eins und Tausend“ („Die Silbe Schmerz“, 163) ist.

Der Vortrag stellt Paul Celans multilinguale Poetik in den Kontext von Überlegungen zu „Sprachigkeit“ (Beyer) sowie zum Spannungsverhältnis zwischen Individual- und Kollektivsprache (Derrida) und fragt nach der Anschlussfähigkeit von Celans Konzept der „Einmaligkeit“ für die Mehrsprachigkeitsphilologie.

Literatur

Marcel Beyer, „Landkarten, Sprachigkeit, Paul Celan“, in ders., Nonfiction (Köln: DuMont, 2003), S. 198–224.
Paul Celan, „Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1961)“, in ders., Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. v. Beda Allemann & Stefan Reichert (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1986), III, S. 175.
Paul Celan, „Die Silbe Schmerz“ (Die Niemandsrose), in ders., Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe. Hg. v. Barbara Wiedemann (Berlin: Suhrkamp, 2018), S. 163–164.
Jacques Derrida, Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese (München: Fink, 2003).

Maria Piok
„reimo, ergo sum“ – Mehrsprachigkeit im Poetry Slam

» Abstract

Als erfolgreichste literarische Bewegung des ausgehenden 20sten und beginnenden 21sten Jahrhunderts (vgl. Hedayati-Aliabadi 2018, S. 17) kann man Poetry Slam längst nicht mehr als zweitrangiges, allein auf Unterhaltung ausgerichtetes subkulturelles Event sehen: Vielmehr ist daraus eine ebenso eigenständige wie vielseitige Kunstrichtung entstanden, die Prozesse des gesellschaftlichen und medialen Wandels spiegelt und hinterfragt. Als „Seismograph für ästhetische weltanschauliche Verschiebungen“ (Ullmaier 2001, S. 147) steht sie für die Suche nach künstlerischen Ausdrucksformen, die neue Sichtweisen auf eine sich schnell verändernde Welt zulassen. Zu dieser Welt gehört, dass Vorstellungen von in sich geschlossenen Einheiten, binären Oppositionen und klaren Trennungen immer mehr zugunsten der Betonung von Zwischenräumen aufgegeben werden. Ganz in diesem Sinne verschwimmen im Poetry Slam die Grenzen zwischen Kunstformen und literarischen Gattungen, zwischen Text und Performance, zwischen KünstlerIn und Publikum, zwischen Alltag und Fiktion; die Präsentation in einem performativen, flüchtigen und transitorischen Raum (vgl. Fischer-Lichte 2004, S. 187) lenkt den Blick auf dynamische Prozesse des Übergangs und die Hybridisierung von Kultur- und Lebensbereichen.

Die Frage nach Mehrsprachigkeit im Poetry Slam stellt sich somit nicht nur wegen seiner Anfänge – nach amerikanischem Vorbild wurde auch im deutschsprachigen Raum zunächst nur auf Englisch geslammt – sondern vor allem auch in Hinblick auf ein poetologisches Konzept, das sich gegen ein exklusives Kunstverständnis richtet. Von Beginn an öffnete sich Slam Poetry sowohl einer breiteren AutorInnen- als auch AdressatInnenschicht, nicht selten mit einem Hauptaugenmerk auf Minderheiten und Randgruppen (vielleicht am radikalsten im Deaf Slam, dem Poetry Slam für Gehörlose), wobei auch Hegemonien der literarischen Wertung durchbrochen wurden: „slam’s premise is that everyone’s opinion about a poem is a valid one“ (Aptowicz 2008, xxiii). Es ist naheliegend, dass im Zuge dessen auch die in einem monolingual orientierten kulturellen Wertesystem zumeist ignorierte oder abgeurteilte Mehrsprachigkeit an Bedeutung gewinnt. Typische Merkmale von Slam Poetry – Aktualität und Nähe zum Publikum (dessen Alltagssprache schon aufgrund varietätenspezifischer Differenzen sehr vielseitig ist), intertextuelle Bezüge zu internationaler Musik und Literatur, vor allem aber auch die mündliche Darbietung und der hohe Stellenwert des klanglichen Zeichens – begünstigen literarische Mehrsprachigkeit. Wie viele unterschiedliche Spielarten mit Sprache (die weit über die Aufnahme von englischen Jugendausdrücken oder regionalen Mundarten hinausreichen) es dabei gibt, lässt sich an ausgewählten Beispielen aus der deutschsprachigen Poetry-Slam-Szene zeigen.

17:45–18:00 | Abschlussdiskussion

 

Mit freundlicher Unterstützung von:

Vizerektorat für Forschung International Relations Office Forschungsschwerpunkt „Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte“ Institut für Slawistik

Nach oben scrollen