But refugee is like a whole identity in those days. Really the bad thing is that a lot of people think being a refugee is like a career or a profession and the only experience you have in live. (Hakim)
Zur Notwendigkeit einer historischen Kontextualisierung
In den vergangenen und gegenwärtigen Debatten zum Themenkomplex FluchtMigration1 (re-)aktualisieren sich Fremdheitskonstruktionen, die Menschen unter dem Label ‚Flüchtling‘ subsumieren und daran gekoppelten stereotypen Vorstellungen über eine als homogen konzipierte Gruppe von Individuen Vorschub leisten. Diese zielen auf die Konstitution von hegemonialen Über- und Unterordnungsverhältnissen ab und verfestigen historisch gewachsene Machtverhältnisse zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden. Dabei ist das zunächst als Rechtskategorie konzipierte Gebilde ‚Flüchtling‘ längst zu einem sozialen Platzanweiser geworden, der den Zugang zu gesellschaftlich relevanten Ressourcen und Positionen entscheidend mitstrukturiert. In Anlehnung an Albert Scherr und Çiǧdem İnan (2017) verstehe ich die Kategorie ‚Flüchtling‘ als gesellschaftliches Konfliktfeld, auf dem Kämpfe um (globale) Zugehörigkeitsverhältnisse ausgetragen werden und der legitime Zugang zu gesellschaftlich relevanten Ressourcen (materiell wie immateriell) im Globalen Norden verhandelt wird. Damit ist die Flüchtlingskategorie folglich auch als (potenzielle) Subjektposition zu verstehen, aus der geflüchtete Menschen ihr Recht auf einen legitimen Aufenthaltsstatus im Ankunftskontext artikulieren und geltend machen können.
Ich halte die historische Kontextualisierung global wirksam werdender Machtverhältnisse für zentral, um postkoloniale Kontinuitäten sichtbar zu machen, deren Ausblendungen unter anderem restriktive Politiken rechtfertigen. So erweisen sich etwa die überwiegend ahistorisch geführten Debatten im Kontext von FluchtMigration als politische Strategien, um neue Maßnahmen als Politik des Notfalls zu legitimieren (vgl. Hess et. al 2017: 12). Exemplarisch lässt sich das am Begriff der ‚Flüchtlingskrise‘ zeigen. Nach dem Motto „Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen“ wurde die Notstandsrhetorik im sogenannten „langen Sommer der Migration 2015“ instrumentalisiert, um etwa die massiven Asylrechtsverschärfungen umzusetzen, erneut Grenzübergänge zu ‚sichern‘, das Massengrab im Mittelmeer zu rechtfertigen oder etwa das europäische Projekt der Externalisierung des Grenzregimes voranzutreiben (vgl. ebd.; Hess et.al. 2014). Die ‚Notfall-Politik‘ wurde so zu einem als notwendig erachteten und als alternativlos konzipierten Modus des Regierens, um zu suggerieren, dass die inszenierte ‚Flüchtlingskrise‘ kontrollierbar und regulierbar sei.
Dominante (eurozentrische) Diskurse über geflüchtete Menschen, das geht deutlich aus meiner Studie hervor, sind geprägt von höchst gegensätzlichen Deutungen, die in medialen, politischen und wissenschaftlichen Fragestellungen je nach Kontext miteinander verknüpft und hochstilisiert werden: Geflüchtete als Bedrohung, als Opfer, als Chance, als Helden. Solche Bilder und Deutungen sind dabei nicht neutral, sondern instrumentalisieren die öffentliche Wahrnehmung und das gesellschaftliche Bewusstsein. In diesen generalisierenden Debatten kommen jedoch die Perspektiven und Erfahrungen der geflüchteten Menschen kaum vor. Daher liegt der Studie ein doppeltes strategisches Vorgehen zugrunde: Zum einen werden gesellschaftliche Konstruktionsprozesse der Flüchtlingskategorie dekonstruiert, indem dahinterstehende Machtverhältnisse offengelegt werden. Zum anderen werden im Zuge der Studie die marginalisierten Stimmen und Erfahrungen jener Menschen, die innerhalb des dominanten Diskurses nahezu ausschließlich als ‚Flüchtling‘ definiert werden, sichtbar gemacht und gleichzeitig privilegiert.
Die Flüchtlingsfigur als mehrdimensionaler Macht-Wissens-Komplex
Die Kategorie ‚des Flüchtlings‘ kann in Anlehnung an Michel Foucault als ein Macht-Wissens-Komplex verstanden werden, der auf unterschiedlichen Diskursebenen erzeugt wird. Durch die kontinuierliche Reproduktion wird eine Art Rezeptwissen über eine sozial erzeugte Gruppe von Menschen generiert und normalisiert. Die dichotome Ordnung des Diskurses über FluchtMigration, die Fluchtmigrierende aus einer viktimisierenden oder skandalisierenden Perspektive in den Blick nimmt, ist dabei eingebettet in postkoloniale Machtverhältnisse, die die Dominanz des Globalen Nordens (re-)aktualisieren. Die Institutionalisierung solcher binären Denksysteme basiert auf einem historisch gewachsenen (geopolitischen) Bewusstsein und greift auf tief verwurzelte Wissensbestände über ‚das Eigene‘ und ‚die Anderen‘ zurück, die wiederum Einfluss auf alle gesellschaftlichen Handlungsbereiche nehmen.
Die Definitionsmacht über Fluchtmigrierende, die eben jene als hilflose Opfer oder gefährliche (potenzielle) Täter fixiert, lässt die Erzählungen und Erfahrungen von Menschen, die geflohen sind, außen vor. Sie wird primär nutzbar gemacht, um das selektive und tödliche europäische Grenzregime zu legitimieren und zu festigen.
Im Gegensatz zu dominanten Diskursen plädiere ich für einen Perspektivwechsel, aus dem Menschen als handelnde Personen, als Expertinnen und Experten ihrer eigenen Lebenspraxis in Erscheinung treten, indem ihre Lebenskonstruktionen als Ergebnis einer aktiven Auseinandersetzung mit äußeren Lebensbedingungen anerkannt werden, statt sie auf eine Opferrolle oder ethnisch-nationale Zugehörigkeit zu reduzieren. Erfahrungen, Erlebnisse, biographische Momente, (Über)Lebenskompetenzen, Zukunftsvisionen und die alltägliche Auseinandersetzung mit Gewalt, Rassismus, Marginalisierung und Stigmatisierung stehen im Mittelpunkt.
Heterogene (Über-)Lebensstrategien und Selbstpositionierungen fokussieren – Widerstand ‚auf eigene Rechnung‘
Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Herkunftskontexte verlassen, haben ein Leben, eine Geschichte, bevor sie sich dazu entscheiden zu flüchten. Was an dieser Stelle so plausibel klingt, wird in dominanten Erzählungen häufig unsichtbar gemacht. Menschen werden darin meist auf ihre FluchtMigrationserfahrung reduziert. ‚Flüchtling-Sein‘ wird zu einer identitätsbestimmenden Eigenschaft erhoben, wie auch Hakim, einer der Gesprächspartner, im einleitenden Zitat hervorhebt.
Die GesprächspartnerInnen wurden dabei nicht, wie es auf medialer und politischer Ebene häufig der Fall ist, aus einer problematisierenden und skandalisierenden Perspektive in Blick genommen, sondern als ExpertInnen ihrer eigenen Lebenspraktiken verstanden. Sie wurden als handelnde Personen sichtbar gemacht, die sich aktiv mit den Lebensbedingungen vor Ort auseinandersetzen. Sie haben im Laufe ihres Lebens unterschiedliche (Über-)Lebensstrategien entwickelt, die es ihnen immer wieder ermöglichen, sich selbst vor dem Hintergrund widrigster Bedingungen eigene Möglichkeitsräume zu schaffen, in denen sie ihre Handlungsfähigkeit aufrechterhalten können. Die FluchtMigration aus den Herkunftskontexten ist dabei ebenso als Strategie des Überlebens zu verstehen wie auch der Versuch, sich im neuen Kontext zu positionieren und zu verorten. Dabei finden sich alle GesprächspartnerInnen nach ihrer Ankunft in einem System wieder, das sich durch den Zugriff auf nahezu alle Lebensbereiche kennzeichnet und immer wieder versucht, sie in unterschiedliche Abhängigkeitsbeziehungen zu drängen. Diese reichen vom Verbot, einer Arbeit nachzugehen, über die vielfachen Integrationsverpflichtungen bis hin zur fremdbestimmten Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften.
Das Leben in einem solchen System der Fremdbestimmung und -positionierung wurde seitens der befragten Personen mehrfach mit der Analogie des Gefängnisses beschrieben, in dem es nahezu verunmöglicht wird, die eigenen Zukunftsentwürfe umzusetzen.
Dennoch wurde in der Analyse deutlich, dass die Menschen diesen repressiven Bedingungen keinesfalls passiv ausgeliefert sind, sondern diverse Praktiken und Strategien entwickeln, um den prekären und diskriminierenden Verhältnissen etwas entgegenzusetzen. Mit Foucault gesprochen, dokumentieren die Erzählungen der GesprächspartnerInnen „die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1992: 12). Die Zumutungen und stigmatisierenden Zuschreibungen, mit denen sie sich im Ankunftskontext in unterschiedlichen Gesellschaftsfeldern immer wieder konfrontiert sehen, fordern den Einsatz eines enormen Leistungsvermögens, sich eben jenem Zugriff so weit zu entziehen, dass die eigene Handlungsfähigkeit aufrechterhalten werden kann. Festzuhalten ist, dass die (Über-)Lebenspraktiken der befragten AkteuerInnen mit den gesellschaftlichen Bedingungen vor Ort zusammengedacht werden müssen, um ein adäquates Verständnis über ebenjene zu generieren und dabei weder in einen Determinismus noch in einen Individualismus zu verfallen.
Die Erkenntnisse meiner Studie sollen und können nicht dazu dienen, die unterschiedlichen Formen des Umganges und die jeweiligen (Über-)Lebensstrategien, die dabei zum Einsatz kommen, zu typologisieren und zu kategorisieren. Die ‚Singularität‘ der Fälle sowie die Anerkennung der einzelnen (Über-)Lebensgeschichten würden somit erneut zu Oberbegriffen verschmelzen, die letztlich neue potenzielle Repräsentationsmuster schaffen. Auch wenn der Arbeit eine wertschätzende Perspektive zugrunde liegt, die ich in der Auseinandersetzung mit FluchtMigrierenden und ihren (Über-)Lebenspraktiken für angemessen erachte, suggeriert eine derartige Vorgehensweise, dass die unterschiedlichen Formen des Umganges mit den gesellschaftlich restriktiven Verhältnissen vor Ort verallgemeinert werden könnten. Damit würden die unterschiedlichen Verletzlichkeiten (Castro Varela 2008), die sich aus einer intersektionalen Perspektive entlang divergenter Differenzkategorien und daraus resultierender sozialer Positionierungen ergeben, aus dem Blickfeld geraten.
Dies wiederum führt zu einer Simplifizierung von Ungleichheits- und Unterdrückungsverhältnissen, die etwa bezüglich ökonomischer Klassen- und Geschlechterverhältnisse stark variieren. Auch aus dem jeweiligen aufenthaltsrechtlichen Status einer Person ergeben sich ganz andere Erfahrungen, Potenziale und Beschränkungen, die wiederum andere Formen des Umgangs mit den restriktiven Bedingungen zur Folge haben.
Daher eröffnen die Ergebnisse der Studie weniger die Möglichkeit, Typen oder Kategorien von Umgangsformen zu bilden, als vielmehr die hegemonialen Bilder über Fluchtmigrierende zu hinterfragen, die restriktiven gesellschaftlichen Bedingungen aufzuzeigen und gleichzeitig ihre Handlungsfähigkeit und das darin inhärente Widerstandspotenzial sichtbar zu machen. Zudem verstehe ich die Dokumentation der Erzählungen der GesprächspartnerInnen als ein Art ZeugInnenschaft für (Über-)Lebensgeschichten, die alle ausnahmslos mit Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen verbunden sind und deren AkteurInnen dennoch einen Umgang mit diesen finden.
Wider den Skandalisierungs- und Viktimisierungsdiskurs
FluchtMigrationsbewegungen, wie sie im langen Sommer der Migration 2015 stattgefunden haben, sind nicht nur Teil vergangener sowie gegenwärtiger globaler Entwicklungen, sondern sie werden auch in Zukunft eine Tatsache bleiben – ob Gesellschaften im Globalen Norden es wollen oder nicht. Der Klimawandel ist dabei nur ein Grund, wenn auch ein zentraler, warum Menschen auch zukünftig ihre Herkunftskontexte verlassen werden, in der Hoffnung, an einem anderen Ort ihr Überleben sichern zu können. Erkennt man diesen Umstand an, wird die Frage danach relevant, wie eine friedliche Form des Umganges mit den sich daraus ergebenden Herausforderungen aussehen könnte, die eben nicht nur bei einem Lippenbekenntnis bleibt. Bei allen Schwierigkeiten, die auf lange Sicht zu bewältigen sind, liegt in der gegenwärtigen Situation nämlich auch eine Chance, über gesellschaftliche Ungleichheit einerseits und soziale Gerechtigkeit andererseits neu nachzudenken und Institutionen, etwa Bildungseinrichtungen, so umzugestalten, dass alle Menschen, die vor Ort leben, daran teilhaben können.
Literatur
Castro Varela, Maria do Mar (2008): Was heißt hier Integration?: Integrationsdiskurse und Integrationsregime. In: Landeshauptstadt München Sozialreferat (Hrsg.): Fachtagung: Alle anders – alle gleich? Was heißt hier Identität? Was heißt hier Integration? Dokumentation. München: Landeshauptstadt München, S. 77–89.
Hess, Sabine / Heimeshoff, Lisa-Maria / Kron, Stefanie / Schwenken, Helen / Trzeciak, Miriam (2014): Einleitung. In: Hess, Sabine / Heimeshoff, Lisa-Maria / Kron, Stefanie / Schwenken, Helen / Trzeciak, Miriam (Hrsg.): Grenzregime II. Migration, Kontrolle, Wissen. Transnationale Perspektiven. Berlin/Hamburg: Assoziation A, S. 9–41.
Hess, Sabine / Kasparek, Bernd / Kron, Stefanie / Radatz, Mathias / Schwertl, Maria / Sontowski, Simon (2017): Der lange Sommer der Migration. Krise, Rekonstruktion und ungewisse Zukunft des europäischen Grenzregimes. In: Hess, Sabine /Kasparek, Bernd / Kron, Stefanie / Radatz, Mathias / Schwertl, Maria / Sontowski, Simon (Hrsg.): Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III. Berlin/Hamburg: Assoziation A, S. 6–25.
Scherr, Albert / İnan, Çiǧdem (2017): Flüchtlinge als gesellschaftliche Kategorien und als Konfliktfeld. Ein soziologischer Zugang. In: Ghaderi, Cinur / Eppenstein, Thomas (Hrsg.): Flüchtlinge. Multiperspektivische Zugänge. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 129–146.
1 In diesem Artikel wird der Begriff ‚FluchtMigration‘ verwendet. Die in dominanten Diskursen übliche Unterscheidung zwischen ‚Flüchtlingen‘ einerseits und ‚MigrantInnen‘ andererseits ist mit der Vorannahme verknüpft, dass eine eindeutige Trennung unterschiedlicher Mobilitätsformen möglich sei. Als Unterscheidungskriterium wird dabei meist der Aspekt der Freiwilligkeit gesehen. Während eine Flucht unfreiwillig und unter Zwang erfolgt, so die Annahme, wird die Migration als freiwillige Form der Mobilität definiert. Mit dem Begriff FluchtMigration kommt zum Ausdruck, dass eine klare Abgrenzung zwischen beiden Mobilitätsformen nicht (immer) möglich ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass zahlreiche Mischformen bestehen und die Entscheidung, den Herkunftskontext zu verlassen, durch eine Vielzahl an Faktoren beeinflusst wird.
(Frauke Schacht)
Zur Person
Frauke Schacht wurde an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Leopold-Franzens Universität promoviert und arbeitet dort derzeit als Senior Scientist. Von 2017 bis 2020 war sie Mitglied im Doktoratskolleg „Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Bereich der Refugee Studies und der Kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung. Sie lehrte am Institut für Erziehungswissenschaft in Innsbruck und engagiert sich neben der universitären Ausbildung seit sechs Jahren für das Projekt FLUCHTpunkt (Hilfe, Beratung und Intervention für Flüchtlinge in Innsbruck). Seit drei Jahren ist sie Obfrau des Vereines ARGE Schubhaft-Projekt FLUCHTpunkt.