"Standardschüler gibt es nicht mehr"
Zusatzmaterial zum Artikel "SCHULFORSCHUNG"

 

Ilse Schrittesser über die geplante School of Education als Ort der ­Lehrerausbildung an der Universität Innsbruck, die Notwendigkeit von Fachwissen und die Anforderungen an zukünftigen Schulunterricht.

 

ZUKUNFT: Die Universität Innsbruck hat im Oktober 2011 ein neues Organisationsmodell zur Lehrerinnen- und Lehrerausbildung – die School of Education als eigene Fakultät – vorgestellt. Was ist die Grundidee dieser School of Education?

ILSE SCHRITTESSER: Bei der School of Education – oder wie auch immer sie heißen mag – geht es darum, einen Ort zu schaffen, um die Professionalisierung von Lehrerinnen sowie Lehrern voranzutreiben sowie diesem Professionalisierungsthema eine Identität zu geben. Die Lehrerausbildung ist in Österreich mit Universitäten und Pädagogische Hochschulen, aber auch an den Universitäten fragmentiert – die Lehramtsstudenten haben ein Fach A, ein Fach B und die pädagogische Ausbildung. Überspitzt formuliert sind sie an der Universität, obwohl sie teilweise die Mehrheit stellen, nirgends richtig integriert. Mit der School of Education wollen wir diese Bereiche unter dem Motto „Professionalisierung“ zusammenführen und das Thema zum Zentrum des Curriculums machen – was nicht heißt, dass die Fachausbildung in den Hintergrund gedrängt wird. Im Gegenteil: Gerade die universitäre Lehrerausbildung legt höchsten Wert auf eine exzellente Ausbildung im Fach. Und das soll in der School of Education noch mehr forciert werden.

ZUKUNFT: Sie haben die Fragmentierung der Lehrerausbildung angesprochen – Universität und Pädagogische Hochschulen, die Kindergarten-Ausbildung findet noch einmal woanders statt. Ist das – im internationalen Vergleich – ein österreichisches Unikum?

SCHRITTESSER: In gewisser Weise schon. Die Früh- und Elementarpädagoginnen sind in fast allen westlichen Industrieländern tertiärisiert, haben also eine akademische Ausbildung. Im englischen Sprachraum zeigt sich das schon durch die Bezeichnung „Nursery school teachers“. In den meisten europäischen Ländern ist die gesamte Lehrerbildung an den Universitäten und wird nicht an einer eigenen Institution, und schon gar nicht an zwei unterschiedlichen Institutionen angeboten. Deutschland etwa hat vor einigen Jahrzehnten – mit der Ausnahme Baden-Württemberg – die Pädagogische Hochschulen in die Universitäten integriert, auch wenn es nach wie vor ein gewisses Splitting gibt. Oft gibt es an einer Uni Erziehungswissenschaft 1 und 2, die ehemalige Pädagogische Hochschule und die universitäre Erziehungswissenschaft.

ZUKUNFT: Vor 30 Jahren wurde die Fachdidaktik an der Universität eher stiefmütterlich behandelt, was sich seither geändert hat. An der geplanten Fakultät soll es neben einem Institut für Lehrerbildung und Schulforschung nun auch je ein Institut für Fachdidaktiken der Naturwissenschaften und ein Institut für Fachdidaktiken der Geisteswissenschaften geben. Braucht es unterschiedliche fachdidaktische Ansätze?

SCHRITTESSER: Meiner Beobachtung nach sind die zwei Bereiche unterschiedlich. In einem Fall geht es ja darum, wie lerne und lehre ich naturwissenschaftliches Denken, wie erfasst man die Welt in naturwissenschaftlichen Denkstrukturen – also nicht nur um die Vermittlung, wie man gut Fachwissen vermitteln kann, sondern auch um den Bildungssinn des Fachs. In diesem Zusammenhang gibt es auch hochinteressante fachdidaktische Forschung, die in den Austrian Educational Competence Centres in der Zwischenzeit auch durch Professuren vertreten ist. Meines Erachtens ist gerade dieses Gebiet ein ganz zentrales Thema, was den gesellschaftlichen Umgang mit naturwissenschaftlichem Wissen betrifft. Es ist gesellschaftspolitisch ein hochbrisantes Thema, dass Menschen eine enorm entwickelte Technologie, in der sie sich ständig bewegen, basal verstehen können. Das wäre ein Thema, mit dem man in die Gesellschaft hinaus könnte, es ist nicht nur für die Schule interessant. Bei den Kultur- und Geisteswissenschaften geht es auch um Vermittlung von gesellschaftlich bedeutenden Fragen – wie erwerbe ich Sprache, wie bewege ich mich auf die Welt zu usw. Generell möchte ich dazu sagen: Wenn man in der Schule etwas unterrichtet, dann muss man sich mit dem Bildungssinn eines Faches auf Forschungsebene, auf wissenschafts-theoretischer Ebene auseinandersetzen.

ZUKUNFT: Sicher scheint zu sein, dass die Politik eine gemeinsame Lehrerinnen- und Lehrerausbildung haben will …

SCHRITTESSER: Ich glaube, dass es da keine politische Einigung gibt – das ist meine Wahrnehmung. Eine gemeinsame Lehrerbildung vielleicht in einer Institution – das könnte der politische Konsens sein. Organisatorisch gemeinsam, aber nicht eine gemeinsame Lehrerbildung, wenn es etwa um die Sekundarstufe 1 geht. Das Modell Lehrerbildung Neu ist ja sehr modulartig aufgebaut, man kann Schwerpunkte setzten, unterschiedliche Karrierewege einschlagen. Das Modell ist aber noch abstrakt, wird auch noch diskutiert, was es genau wird, ist noch nicht sicher.

ZUKUNFT: Das Lehrerbild hat sich in den letzten 20 Jahren verändert, die Gesellschaft sieht Lehrer anders, auch Lehrer sehen sich anders als damals. In welche Richtung soll die Lehrerbildung gehen, dass die Pädagogen in 20 Jahren den Anforderungen, die vielleicht andere sind als heute, gewachsen sind?

SCHRITTESSER: Gerade in einer Welt, in der von Wissensgesellschaft die Rede ist, in der Wissen sich ständig weiter entwickelt, ist es unerlässlich, dass die Ausbildung fachlich fundiert ist, dass Lehrerinnen und Lehrer fundierte Sachkenntnisse haben, dass Pädagoginnen und -pädagogen nicht den Kindern falsche Weltbilder vermitteln – nicht im Sinne von Ideologien, sondern im Sinne von Verstehen von Wirklichkeit. In den Sekundarstufen 1 und 2 liegt auf der Hand, dass Kinder ein Recht haben, etwa nach einem erfolgreichen Englischunterricht fließend Englisch sprechen zu können. Das kann man auch auf andere Fächer umlegen. Es geht um die Vermittlung von fundiertem Wissen, gekoppelt aber auch mit Kompetenzen. Da kommt der schon erwähnte Professionalisierungsaspekt hinzu, dass man in der Ausbildung die Vermittlerrolle mitdenkt, dass Lehrerinnen und Lehrer wissen, wie man ein Thema anbietet, dass die Schülerinnen und Schüler ein Verständnis für die Sache bekommen. Verständnis in der Form, dass sie sich zunehmend eigenständig mit den Themen, die sie interessieren und die sie bewegen, auseinandersetzen können. Das Ziel ist ja, am Ende der Schullaufbahn selbstverantwortlich und mit Eigenmotivation Wissen und Können anzueignen, auch im Anwendungsbereich. Das ist etwas, was Lehrer in Zukunft können müssen. Für mich kommt noch ein dritter, ganz wichtiger Aspekt hinzu – der Umgang mit Heterogenität. Nicht nur, weil wir es mit ethnisch unterschiedlichen Menschen zu tun haben, nicht nur, weil wir es mit schichtspezifisch unterschiedlichen Menschen zu tun haben, sondern weil es auch durch die Modernisierungsprozesse unserer Gesellschaft keine einheitlichen Lebenswelten der Schulkinder mehr gibt. Wenn Kinder aus relativ einheitlichen sozialen Schichten – ein Bildungsbürgerbezirk in Wien etwa – kommen, möchte man meinen, dass man eine relativ homogene Klassengemeinschaft hat – das immer noch vorhandene Idealbild einer Gymnasialklasse. Das ist aber nicht der Fall. Das ist auch der Grund, warum auch in diesen Schulen ein relativer Frustrationspegel bei Lehrerinnen und Lehrern in diesen Schulen festzustellen ist – weil in vielen Schulen noch nicht angekommen ist, dass es DEN Standardschüler, DIE Erziehung, die Homogenität der Gesellschaft nicht mehr gibt. Es handelt sich heute um unterschiedlichste Formen der familiären Sozialisation, unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, Regeln, Routinen in den Familien, welche die Kinder ganz selbstverständlich in die Schule mitbringen – mit diesen Unterschieden müssen die Lehrerinnen und Lehrer arbeiten können. Zu den sozialen und kulturellen Unterschieden kommen diese noch dazu.

ZUKUNFT: Sie betonen immer wieder das fundierte Fachwissen. Woher sollen zukünftige Lehrerinnen und Lehrer dies bekommen?

SCHRITTESSER: Das ist in der Tat ein wesentlicher Punkt, den wir im Rahmen von Schulforschungsprojekten immer wieder feststellen konnten. Bei allen Defiziten, die Pädagogische Hochschulen und Universitäten in der Lehrerausbildung haben, konnten wir feststellen, dass das Fachwissen ein Angelpunkt für einen erfolgreichen Unterricht ist, dass es aber nicht ausreicht für erfolgreichen Unterricht. Es bildet aber das Fundament – ich kann nicht etwas unterrichten, wenn ich das Etwas in seinen Grundfesten nicht beherrsche. Und diese Ausbildung im Fachwissen ist an den Pädagogischen Hochschulen, aufgrund ihrer fehlenden oder gerade im Aufbau befindlichen Forschungstradition, (noch) nicht gut vertreten.

ZUKUNFT: Abschließend eine allgemeine Frage. Warum polarisiert das Thema Schule derart?

SCHRITTESSER: Erstens: Wir waren alle in der Schule, haben sie erlebt, vielleicht auch nicht positiv – das setzt sich im kollektiv Unbewussten fest, und lässt das Thema immer wieder hochkochen. Zweitens: Schule ist hochpolitisch. Es ist hochpolitisch, was ich Heranwachsenden in der Schule beibringe, wie ich ihnen Wissen zugänglich mache. Ob man damit ein kritisches Potenzial entwickelt, also Bildung im ursprünglichsten Sinn ermöglicht, oder ob man möglichst anpassungsfähige, durchaus qualifizierte brauchbare Arbeitskräfte heranzieht. Das polarisiert einfach, da gibt es unterschiedliche Interessen in der Gesellschaft.

ZUKUNFT: Gibt es diese politischen Diskussionen bzw. Konfrontationen auch im skandinavischen Raum, dessen Bildungssystem immer als Vorbild genannt wird?

SCHRITTESSER: Natürlich gibt es auch dort Diskussionen, es ist nicht die pure heile Welt. Was aber sehr wohl da ist in den skandinavischen Ländern, ist ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl, ein stärkeres Gefühl für das Ganze und eine stärkere demokratische Einstellung. Das Recht auf Bildung ist dort ein viel selbstverständlicheres – Kinder werden nicht auseinanderdividiert, man versucht alle nach ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten möglichst weit zu bringen. Das ist eine Einstellung, die in allen skandinavischen Ländern, aber etwa auch in Kanadas Schulen, spürbar ist. Natürlich wird diskutiert, das Thema polarisiert, es gibt auch die Vorstellung von Eliten – aber auch einen gewissen Grundkonsens. Den spürt man, auch in den Schulen.

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