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Magazin für Wissenschaft und Forschung der Universität Innsbruck

Interview: Vom Stammtisch zum Zentrum

Ulrike Tanzer, Koordinatorin des Forschungszentrums Digital Humanities, und Ursula Schneider, Mitarbeiterin am Forschungsinstitut Brenner-Archiv, über Entstehung und Pläne des Zentrums, kanonbewusstes Digitalisieren, Probleme einer modernen Archiv-Arbeit und die Notwendigkeit eines selbstreflexiven Zugangs zur Arbeit mit „geistigen“ Datenmengen.


 

ZUKUNFT:
Mit Digital Humanities ist an der Universität Innsbruck ein neues Forschungszentrum entstanden. Wie kam es zu diesem Zentrum?

ULRIKE TANZER: 2013 gründete Günther Mühlberger von der Abteilung für Digitalisierung und Elektronische Archivierung am Institut für Germanistik einen Stammtisch für alle, die im Bereich Digital Humanities arbeiten. Zeitgleich konnte ich im Zuge meiner Berufung an die Universität Innsbruck eine halbe Stelle für Digital Humanities „herausverhandeln“. Es gab weitere Bestrebungen, etwa von Brigitte Mazohl, die durch ihre Funktionen in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gesehen hat, wie wichtig es wäre, diesen Bereich zu institutionalisieren. Es gab also eine Bottom-Up- und eine Top-Down-Bewegung mit dem Ziel, eine Koordinationsstelle zu bilden. Eine Professur für Digital Humanities gibt es in Innsbruck ja nicht, aber sehr viele Forscherinnen und Forscher, die in diesem Bereich tätig sind – und das auf sechs Fakultäten verteilt. Viel Unterstützung kam dabei von den zuständigen Dekanen und vom Rektorat.

URSULA SCHNEIDER: Das Zentrum macht die Aktivitäten und Leistungen, die an der Universität vorhanden sind, sichtbar. Intern geht es darum, sich kennenzulernen und das Rad nicht ständig neu zu erfinden, nach außen darum, zu zeigen, dass auch wir – schon längst – im digitalen Zeitalter angekommen sind.

 

ZUKUNFT:
Wie verlief der Start des Zentrums?

ULRIKE TANZER: Wir haben rasch gemerkt, dass es ein großes Bedürfnis gibt, sich besser auszutauschen, da manche Sachen ja schon erfunden worden sind und daher nicht neu erfunden werden müssen. Es geht aber nicht nur um interne Vernetzung, sondern auch um das Miteinbeziehen der vielen Archive und Bibliotheken im – außeruniversitären – Umfeld. Gerade die Archive sind ja von diesem Paradigmenwechsel, der mit den Digital Humanities einhergeht, betroffen, Stichwort Langzeitarchivierung, Stichwort Visual Library etc. Daher haben wir auch versucht, interessierte Kolleginnen und Kollegen der Archive mit an Bord zu nehmen

 

ZUKUNFT:
Gerade Archive sind ja in mehrfachem Sinne von der Digitalisierung betroffen. Können Sie am Brenner-Archiv etwa noch eine Floppy Disc lesen?

URSULA SCHNEIDER: Nicht nur das, auch alte Word-Programme sind zum Teil nicht mehr lesbar – auch wenn sie auf einem lesbaren digitalen Medium gespeichert sind. Das Problem ist massiv. Das zweite ist die Benutzung des Archivs, eigentlich kommen alle Anfragen nur noch via Mail, auch die Daten werden auf diesem Weg versandt. Das heißt, es muss alles digitalisiert sein bzw. werden. Als Drittes kommen nicht-schriftliche Dokumente dazu, sprich Audio- oder Video-Kassetten. Da gibt es etliche Formate, die nicht mehr lesbar sind bzw. bei denen sich die Spezialistinnen und Spezialisten sehr bemühen müssen.

 

ZUKUNFT:
Traditionell verbindet man Literaturarchive mit der Auswertung von Nachlässen, mit der Analyse von Entstehungsgeschichten von Gedichten, Vergleiche von handschriftlichen Erstfassungen, Notizen auf Manuskripten. Wird es diese philologische Arbeit in Zukunft überhaupt noch geben?

URSULA SCHNEIDER: Als Archiv sind wir sozusagen immer eine Generation weiter hinten, in voller Wucht wird sich das erst der nächsten Archiv-Generation stellen. Die Anfänge spüren wir natürlich schon. Ein Kollege in Wien hat in einem Nachlass einen alten Atari-Computer mit alten Dateien – da muss man zaubern. Es gibt aber schon jetzt Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die sich Fassungen in Hinblick auf die Nachwelt oder ihre eigene Dokumentation ausdrucken.

ULRIKE TANZER: In den klassischen Nachlässen befinden sich auch Korrespondenzen, heute ist das ein Mail-Archiv – aber nicht jedes Mail ist bedeutsam.

URSULA SCHNEIDER: Die Archive stehen da erst am Anfang. Vergangenes Jahr gab es eine Anfrage einer Berliner Dissertantin, die sich mit der Archivierung von Mails beschäftigt: In welcher Form, also Datenformat, soll archiviert werden? Sollen die Antworten gesondert archiviert werden? Was ist mit den Anhängen? Wie geht man mit eventuellen Bankdaten um, die in Mails vorkommen, mit anderen Teilen, die unter einen – in der Zwischenzeit gegenüber früher höheren – Persönlichkeitsschutz fallen? Das sind bislang nicht geklärte Fragen, ja die Probleme werden erst fokussiert. Eine andere Frage ist, wie die einzelnen Autoren damit umgehen, jüngere, die z.B. auch bloggen, gehen damit anders um.

 

ZUKUNFT:
Es gibt unterschiedliche Herangehensweisen an Digital Humanities, einige betrachten es als Methode, andere als eigenständige Disziplin. Wie will man sich in Innsbruck den Digital Humanities annehmen?

ULRIKE TANZER: Wir haben im Vorfeld einige Experten zu Vorträgen nach Innsbruck eingeladen. Ein Ratschlag, der uns gegeben wurde, war, möglichst breit zu bleiben, sich z.B. nicht auf digitale Editionen allein zu konzentrieren, sondern viele Andockmöglichkeiten zu bieten. Die Schwierigkeiten der Digital Humanities ergeben sich ja daraus, dass das Feld so breit ist. Spezialisiert man sich etwa auf eine Disziplin, kann es sein, dass sie in ein paar Jahren gar nicht mehr diese Relevanz hat. Vergessen wollen wir aber auch nicht den selbstreflexiven Faktor – was bringt es uns, dass das alles nicht verloren geht. Zum Teil hat man schon den Eindruck, dass das Bearbeiten so großer Datenmengen derart attraktiv ist, dass man die Sinnfrage nicht mehr stellt.

 

ZUKUNFT:
…dass die Freude am Quantifizieren den Blick auf das Ganze verstellt…

ULRIKE TANZER: Das ist ein großes Problem. Verliert man den selbstreflexiven Zugang, ist man wieder beim puren Positivismus des 19. Jahrhunderts.

URSULA SCHNEIDER: Wobei es sehr spannend ist, diese Methoden anzuwenden, sie werden unsere Sicht auf die Dinge bestimmen und tun es jetzt schon. Die Digitalisierung von Hochkultur etwa schreibt einen Kanon fort, der schon da ist. Aus historischen Beispielen wissen wir, dass Medienwechsel immer ein Vergessen und Verschwinden mit sich gebracht haben. Wenn ich auf die heutigen Studierenden schaue, wird zuerst das rezipiert, was digital ist, und erst dann das, was gedruckt ist. Nur das Digitalisierte kommt im ersten Schritt an. Wir müssen also im Zuge einer Digitalisierung sehr kanonbewusst sein, um das in den Griff zu bekommen, müssen einerseits methodisch daran arbeiten, andererseits beim Digitalisieren, beim Erstellen von Korpora eine Aufweichung, ein Aufsprengen des Kanons mitdenken. Ansonsten wird es nur mehr den klassischen Kanon geben, denn die großen digitalen Projekte widmen sich vor allem dem Kanon, was natürlich auch nachvollziehbar ist: Cervantes, Goethe, Darwin usw.

 

ZUKUNFT:
Sie sehen die Gefahr, dass der Satz „Was man mit Google nicht findet, existiert nicht“ dann für unsere Kulturgeschichte gelten könnte.

ULRIKE TANZER: Durchaus, vergessen darf man aber nicht, dass sich die Recherchemöglichkeiten extrem verbessert haben. Wenn man an große Projekte denkt wie Matricula, in dem Matrikelbücher ganzer Diözesen digitalisiert wurden, oder wie Anno, mit dem historische österreichische Zeitungen online gestellt wurden, haben diese die Recherche- und Suchmöglichkeiten sehr vereinfacht. Oder Projekte, die handschriftliche Zeugnisse automatisiert lesbar machen – das sind revolutionäre Erfindungen…

URSULA SCHNEIDER: …mit denen durchaus ein Kanon aufgeweicht werden könnte. Das immer mitzudenken, ist meiner Meinung nach sehr wichtig.

ULRIKE TANZER: Durch die schrecklichen Geschehnissen in Syrien, mit den Zerstörungen in Palmyra, hat sich aber auch gezeigt, dass die 3D-Modelle im Nachhinein eine ganze andere Bedeutung bekommen haben.

URSULA SCHNEIDER: Man sieht aber auch, dass solche bewussten Zerstörungen, aber auch Katastrophen die Machbarkeit in Frage stellen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft startete um 2000 herum eine Initiative zur Digitalisierung des deutschen Archivguts, manche meinten sogar, in zehn Jahren das gesamte Archivgut digitalisiert zu haben. Als 2009 in Köln das Historische Archiv der Stadt einstürzte und in der Baugrube verschwand, hat man gesehen, dass ein solches Projekt illusorisch ist. Man kann sicher vieles sichern, aber sogar mit großen und gut finanzierten Projekten wird man nicht alles Archivgut sichern können.

 

ZUKUNFT:
Es fällt auf, dass im Forschungszentrum Digital Humanities auch Fachrichtungen abseits der Geisteswissenschaften und der „Fachdisziplin“ Informatik dabei sind. Ist dies eine neue Form der interfakultären Zusammenarbeit?

ULRIKE TANZER: Ich denke schon, das hat sich auch in den ersten Treffen gezeigt. Es sind etwa Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Arbeitsbereichs für Vermessung und Geoinformation dabei, die Modelle des Grabmals von Kaiser Maximilian erstellt oder mit Museen zusammengearbeitet haben. Es gibt auch Konstellationen mit der Fakultät für Architektur, die wiederum intensiv mit dem Archiv für Baukunst kooperiert. Die kämpfen ja auch mit dem Problem, dass sie nicht nur mit Texten, sondern auch mit Bildern, Zeichnungen, vor allem aber mit Modellen zu tun haben. Diese multimediale Ausgangssituation ist eine große Herausforderung, die zu generierenden Datenbanken ebenso. Die Zusammenarbeit über die Disziplinen hinweg ist ein großer Vorteil, auffallend ist, wie viele junge Forscherinnen und Forscher dabei sind. Das ist eine neue Generation, die anders mit der Technologie umgeht. Generell wird es Spezialistinnen und Spezialisten in beiden Bereichen brauchen, im Idealfall beherrschen sie beides. Normalerweise wird es aber ein Computerspezialist sein, der die Sprache der Geisteswissenschaften verstehen muss – und das ist eines der großen Probleme, man muss die Sprache der anderen Disziplin sprechen.

 

ZUKUNFT:
Wie ist die Zusammenarbeit mit den Informatikern?

ULRIKE TANZER: Für die Informatikerinnen und Informatiker, die am Zentrum beteiligt sind, ist es wichtig, dass die Fragestellungen auch für sie interessant und herausfordernd sind, z.B. Plagiatserkennung. Ein Thema, bei dem der Informatiker Günther Specht mit der Sprachwissenschaft, aber auch der Theologie zusammenarbeitet und etwa Grammatikstrukturen im Alten Testament untersucht, um festzustellen, von welchen Autoren Texte stammen, deren Autorenschaft nicht gesichert ist.

 

ZUKUNFT:
Gibt es schon andere konkrete Projekte, die über das Zentrum laufen?

ULRIKE TANZER: Ein großes übergreifendes Projekt haben wir noch nicht, wir sind ja noch im Aufbau, vom Stammtisch über die Arbeitsgruppe zum Forschungszentrum. Wir versuchen über Anschubfinanzierungen, die das Vizerektorat für Forschung gewährt hat, Projekte dorthin zu bringen, dass sie beim FWF oder anderen Einrichtungen eingereicht werden können. Fünf solcher Projekte wurden genehmigt.

 

ZUKUNFT:
Wie soll es mit diesen weitergehen?

ULRIKE TANZER: Innerhalb eines halben Jahres soll z.B. ein FWF-Antrag daraus entstehen. Anschub ist so zu verstehen, dass Digitalsierungsmaßnahmen schon im Vorfeld gesetzt werden können, damit überhaupt ein FWF-Antrag gestellt werden kann.

URSULA SCHNEIDER: Reine Digitalisierung wird vom FWF nicht gefördert, Grundlagenforschung muss dabei sein. Im Bereich der Digital Humanities geht das natürlich aber erst dann, wenn die Vorarbeit, die Digitalisierungsarbeit, geleistet wurde.

ULRIKE TANZER: Einige digitale Editionsprojekte sind abgeschlossen, im Laufen bzw. eingereicht, das ist nach wie vor ein Schwerpunkt. Das Archiv für Baukunst arbeitet an einem Antrag zum Tiroler Architekten Clemens Holzmeister. Es soll mit all den Materialien, die von bzw. zu Holzmeister da sind, eine Datenbank generiert werden, die ein Prototyp für andere Nachlässe sein könnte. Günther Mühlberger koordiniert READ, ein Horizon-2020-Projekt mit internationaler Beteiligung. Und wichtig ist – das macht dieses Forschungszentrum zu einem besonderen – die Zusammenarbeit mit der Universitäts- und Landesbibliothek und deren Digitalisierungsabteilung sowie dem ZID, dem Zentralen Informatikdienst der Uni. Es braucht ja die entsprechende Infrastruktur, auch um Fragen zu klären, was mit den gesamten Daten passiert, wo sie gespeichert werden…

URSULA SCHNEIDER: …oder wie lange die Universität gewährleisten kann, dass von Projekten generierte Daten online bleiben, dass auf sie auch nach Updates von Software oder auch der Website zugegriffen werden kann. Oder die Frage, wer diese Arbeit übernimmt, lange nachdem ein Projekt abgeschlossen ist. Und das sind keine Peanuts, teilweise geht es um enorme Datenmengen.

ULRIKE TANZER: Die Archäologen etwa dokumentieren ihre Grabungen im vorderasiatischen Raum schon seit Jahren digital, für die Datenmengen dieser 3D-Modelle brauchen sie entsprechende Serverkapazitäten.

 

ZUKUNFT:
Gibt es abseits von Projekten Pläne des Zentrums?

ULRIKE TANZER: Gemeinsam mit Eva Pfanzelter vom Institut für Zeitgeschichte möchte ich abklären, ob nicht ein Kurs Digital Humanities möglich ist, etwa für Historiker, die später in Archiven oder Bibliotheken arbeiten wollen. Das ist sicherlich ein Zukunftsfeld, eine geisteswissenschaftliche Ausbildung in Kombination mit Digital Humanities.

 

ZUKUNFT:
Eine Zusatzausbildung, die Geisteswissenschaftlern bessere Aussichten ermöglichen soll…

ULRIKE TANZER: Ja – und die haben dann auch gute Möglichkeiten. In München etwa gibt es ein großes Zentrum, was die Digitalisierung betrifft – und hier gibt es eine entsprechende Nachfrage. Aber auch die Projekte, die an den Universitäten in diesem Bereich entstehen, werden diese Spezialistinnen und Spezialisten benötigen.

 

ZUKUNFT:
Zum Abschluss noch eine Frage: Existiert der Stammtisch noch?

ULRIKE TANZER: Ja, wir wollen die verschiedenen Kommunikationsmodelle weiter beibehalten. Und am Stammtisch ergeben sich einfach andere Formen der Kommunikation.

 


 www.uibk.ac.at/digital-humanities

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