spinde-schule

Ein Blick hinter die Kulissen: Hendrik Richter, Universitätsassistent am Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung

Hendrik Richter arbeitet seit März 2019 als Universitätsassistent am Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung im Arbeitsbereich Inklusive Pädagogik in Innsbruck. In seiner ethnographisch angelegten Dissertation beschäftigt er sich mit Praktiken der Inklusion und Exklusion von Kindern und Jugendlichen im Schulalltag.

hendrik_richterSeit knapp über einem Jahr bin ich nun im Arbeitsbereich Inklusive Pädagogik am Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung tätig. Neben dem Studium des Lehramts sind es besonders auch meine ehrenamtlichen sowie beruflichen Erfahrungen in den Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe, die mich auf meinen persönlichen Werdegang geprägt und mir dadurch die Stelle an der Universität ermöglicht haben. Ich bin sehr froh, nun hier in Innsbruck zu sein und durch die Arbeit am Institut einen Teil zur Entwicklung inklusiver Schulen beizutragen.

Vor knapp 12 Jahren hat sich Österreich – wie auch 161 weitere Unterzeichnerstaaten – durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) dazu verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen zu gewährleisten. Allen Kindern und Jugendlichen mit Behinderung soll gleichberechtigt mit anderen ein Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen garantiert werden. Spätestens seit diesem Zeitpunkt stellt Inklusion einen menschenrechtlichen Grundsatz dar.
Doch auch trotz der UN-BRK, die durch die Behindertenrechtsbewegung über viele Jahrzehnte hinweg erstritten wurde, besuchen über 10.000 Kinder und Jugendliche in Österreich nach wie vor eine Sonderschule, wodurch ihnen der Zugang zu einem inklusiven Unterricht verwehrt bleibt.
Die Inklusive Pädagogik kann hier einen entscheidenden Beitrag leisten: Sie kann nicht nur das Thema der Inklusion in den verschiedenen Bildungsdiskursen zentral und öffentlich platzieren und damit nicht zuletzt für Anerkennung und Wertschätzung von Diversität sorgen, sondern darüber hinaus auch Partei ergreifen für Menschen, die vom Bildungssystem ausgeschlossen sind, und gemeinsam mit ihnen gesellschaftliche sowie strukturelle Veränderungen erstreiten.

Vielleicht sind es diese letzteren Überlegungen, die mich zur Inklusiven Pädagogik geführt haben. Seit meiner Jugend habe ich mich für benachteiligte Menschen politisch eingesetzt und mich Ausgrenzung und Diskriminierung entschieden entgegengestellt. Auch in meiner beruflichen Arbeit in der Schulintegrationshilfe sowie der sozialpädagogischen Familienhilfe habe ich mit vulnerablen Menschengruppen, bspw. mit Kindern mit Behinderungen oder Migrationsgeschichte und Kindern und Jugendlichen in Armutsverhältnissen, zu tun gehabt und dadurch erfahren, was Exklusion und Ausgrenzung bedeuten können. Insbesondere die kritische Auseinandersetzung mit zwei Ungleichheitskategorien hat mich auf diesen Wegen begleitet und war Antrieb für mein Handeln: Armut und Be-Hinderung.
Was ein Leben in Armut auch für Kinder und Jugendliche bedeuten kann, haben eine Vielzahl von wissenschaftlichen Studien herausgearbeitet und legen bspw. auch die autobiographischen Werke von Eribon, Ernaux oder McGarvey sehr eindrücklich dar. Die Scham, nicht an Klassenausflügen teilnehmen zu können, die Fremdheit der bürgerlichen Schulkultur, die der Kultur des Herkunftsmilieus entgegensteht, oder die Wut, wenn die Mittelklasse voller Verachtung oder Ignoranz auf einen herunterschaut; all das sind Erfahrungen und auch nur einige wenige Beispiele, die vielen Kindern und Jugendlichen, die in Armutsverhältnissen leben, vertraut sind.
Doch Armut wirkt noch darüber hinaus. Schüler:innen, die in Armut bzw. sozio-ökonomisch benachteiligten Familienverhältnissen aufwachsen, haben oft ein höheres Risiko, eine Behinderung und damit einen sonderpädagogischen Förderbedarf (SPF) attestiert zu bekommen und gegebenenfalls an eine Sonderschule überwiesen zu werden. Der Besuch einer Sonderschule ist dabei keineswegs unproblematisch, sondern kann mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit entweder in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung oder direkt in die Arbeitslosigkeit führen, in beiden Fällen in ein Leben, das nicht selten von Armut und Fremdbestimmung geprägt ist. Aber auch Schüler:innen mit SPF, die an einer Regelschule unterrichtet werden, erleben trotz der UN-BRK und auch trotz inklusiver Bemühungen einen anderen – gesonderten – Umgang. Sie werden nicht nur in der schulinternen Öffentlichkeit als hilfebedürftige Subjekte markiert und – je nach Lehrplan – in einigen Fächern in gesonderten Räumen unterrichtet, sondern erfahren auch ein gesteigertes Risiko, von ihren Mitschüler:innen sozial ausgegrenzt zu werden.

Im Rahmen meiner Dissertation untersuche ich Praktiken, die mit sozialer (Des-) Integration von Kindern und Jugendlichen mit SPF in Zusammenhang stehen. Im Kern der Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, welche Formen der Subjektivierung sich in den sozialen Alltagspraktiken der (Des-) Integration entwickeln und welche Dispositionen sich diesbezüglich herausbilden. Um darauf Antworten zu finden, forsche ich ethnographisch und nehme am Schulalltag der Schüler:innen teil. Anhand teilnehmender Beobachtungen und einzelner Gespräche fasse ich meine Eindrücke zusammen und ergänze diese durch leitfadengestützte sowie narrative Interviews. Meine beruflichen Vorerfahrungen sind in der Auseinandersetzung mit dem Feld dabei Fluch und Segen zugleich. Einerseits kann ich auf viele Vorerfahrungen und bereits erlangte Kenntnisse zurückgreifen, andererseits sind Strategien der Befremdung schwerer anzuwenden, die allerdings nötig sind, um Dinge sehen zu können, die einem als Feldteilnehmer, der ich früher war, verborgen bleiben.

Aber auch neben meiner Forschung und Lehre engagiere ich mich im universitären Kontext. Da mein persönliches Interesse nicht nur exkludierenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen gilt, sondern auch Räumen und Praktiken, die sich diesen Verhältnissen zu widersetzen versuchen, organisiere ich gemeinsam mit Stephanie Schmidt aus der Europäischen Ethnologie im kommenden Wintersemester eine Veranstaltungsreihe zu Protesten und sozialen Bewegungen. Die Vortragsreihe widmet sich anhand europäischer sowie internationaler Beispiele Protestereignissen und sozialen Bewegungen in ihren gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Im Zentrum steht die Frage danach, wie protestiert wird, welche Entwicklungen Protestformen durchlaufen und wie diese in soziale, kulturelle und nationale Gegebenheiten eingebunden sind.

Ob nun soziale Bewegungen, Protestereignisse oder die kleinen widerständigen Praktiken, die allgegenwärtig sind und sich überall finden lassen; es sind für mich genau diese Dinge, die mir immer wieder vor Augen führen, dass Orte der Herrschaft und Unterdrückung auch immer Subversionen hervorrufen und dass sich dadurch das Rad der Geschichte – glücklicherweise – noch weiter dreht.

Nach oben scrollen