Familie Turteltaub

Die Geschichte einer jüdischen österreichischen Familie

Willkommen in der virtuellen Ausstellung über die Familie Turteltaub.

Es geht um die Geschichte einer Familie, deren Lebensweg sich von 1867 bis 1938 wenig von jenem der meisten anderen Österreicher unterscheidet. Die Bilder des Familienalbums zeigen drei Generationen - von den in Galizien geborenen Großeltern bis zu den in Tirol und Vorarlberg lebenden Enkeln. Der Schwerpunkt dieses Porträts liegt auf der 1938 aus Vorarlberg vertriebenen Familie von Ing. Edmund Turteltaub.

Von Stanislau, Bohorodczany ...

Wolf Meier Turteltaub, der Großvater des 1935 in Dornbirn geborenen Walter, kommt 1867 in Bohorodczany in Galizien, dem östlichsten Teil der Monarchie, auf die Welt. 1894 heiratet Wolf Meier Turteltaub die 23jährige Amalie Wolfart aus dem benachbarten Stanislau.   Das junge Paar verläßt wie hunderttausende andere Galizier seine Heimat, die von größter Armut, von Arbeitslosigkeit und Hunger geprägt ist.Für die meisten heißt das Ziel Amerika - Wolf Meier und Amalie gehen nach Wien.

... nach Wien

Wer von Galizien nach Wien kommt, steigt am Nordbahnhof aus - im II. Bezirk, der Leopoldstadt, wo sich die meisten ostjüdischen Zuwanderer niederlassen. Auch Wolf Meier und Amalie Turteltaub wohnen im II. und im angrenzenden XX. Bezirk, an drei Adressen innerhalb weniger Gehminuten. Im Adreßbuch ist Wolf Meier Turteltaub nun unter seinem Rufnamen 'Max Turteltaub' verzeichnet, mit den klassischen Berufsbezeichnungen der Kleinhändler: 'Agent' und 'Gemischtwarenverschleißer'.
Der Beamte der Israelitischen Kultusgemeinde des II. Bezirks registriert die Geburt der ersten beiden Kinder, Edmund (1899) und Eva (1900).

Aus Wien in die Provinz

Nach fünf Jahren in Wien geht die junge Familie Turteltaub nach Salzburg. Vom II. Bezirk mit seiner funktionierenden, vielfältigen jüdischen Infrastruktur ist es wie ein Sprung ins kalte Wasser, denn in der katholischen Provinz setzen sie sich als Juden einem enormen Anpassungsdruck aus.

Innsbruck

Die Hauptstädte der Alpenländer boomen um 1900 und bieten Kaufleuten gute Verdienstmöglichkeiten. Das gilt auch für Innsbruck, wohin die Turteltaubs drei Jahre später übersiedeln. Doch auch in Tirol haben längst die Antisemiten die Wortführerschaft übernommen.

Vom Klassenultimo zum Diplomingenieur

Im Herbst 1917 maturiert der in Wien geborene Edmund Turteltaub in Innsbruck - mit guten Noten in Religion, Turnen und Freihandzeichnen.

Edmund studiert in Wien und München Chemie und kehrt als Diplom-Ingenieur nach Innsbruck zurück, wo er jedoch keine entsprechende Stellung findet. Einige Jahre 'jobbt' er beim Wachdienst in Zell am See, bevor er 1930 das Elternhaus in Innsbruck endgültig verläßt.

Er geht als Kaufmann nach Dornbirn.

Eine neue Familie

Im folgenden Jahr 1931 gründet Edmund Turteltaub eine Familie. Er heiratet die 26jährige Gertrud Popper aus Lundenburg. Mit ihren beiden Söhnen Hans und Walter, die 1932 und 1935 auf die Welt kommen, leben sie im gleiche Haus, in dem Edmund ein Textilgeschäft betreibt. 

Die Turteltaubs sind die einzige jüdische Familie in Dornbirn. Im ganzen Bundesland Vorarlberg leben zu dieser Zeit nur noch etwa 30 Juden.

Die Katastrophe beginnt

Mit dem 'Anschluß' im März 1938 gibt es für Juden in Österreich keine Zukunft mehr. In den ersten Tagen veranstalten Dornbirner Nazis Tumulte rund um das Haus Lustenauerstraße 3, in dem die Familie Turteltaub wohnt, und rufen 'Henkt die Schwarzen, henkt die Juden!'

Bürokratische Entrechtung in Vorarlberg

Einige Spuren zeigen noch 1938 ein 'normales' Leben: Edmund wird als Ersatzmitglied in den Kultusvorstand der Jüdischen Gemeinde in Hohenems gewählt, und Hans beginnt in der Knabenvolksschule Hatlerdorf sein erstes Schuljahr. Die Lage ändert sich aber rasch: Hans darf die Schule nicht mehr besuchen, Edmund muß sein Geschäft auflassen. Seine Vermieterin wird vom Ortsgruppenleiter gezwungen, ihnen die Wohnung aufzukündigen. Die BH Feldkirch stellt im Jänner 1939 für Edmund, Gertrud, Hans und Walter Turteltaub die 'Kennkarten für Juden' aus, die sie nun immer bei sich tragen müssen.

Am 7. März 1939 verläßt die Familie Dornbirn und übersiedelt nach Wien, um ihre Flucht aus dem 'Dritten Reich' vorzubereiten.

Das Visum für Bolivien

Die Flucht der Familie Turteltaub beginnt in Wien. Die Nationalsozialisten haben die 'Zentralstelle für jüdische Auswanderung' errichtet, die von Adolf Eichmann geleitet wird. Ihr einziger Zweck ist es, möglichst viele Juden aus Österreich zu vertreiben und ihren Besitz zu beschlagnahmen. 

Für viele Juden ist es sehr schwer, überhaupt ein Aufnahmeland zu finden. Edmund Turteltaub erhält die Zusage für ein Visum für Bolivien und kann Schiffskarten für die Überfahrt von Genua nach Uruguay besorgen. Im August 1939 fährt die Familie nach Italien. Edmunds Schwester Eva und drei seiner Neffen sind bereits nach Palästina geflohen, sein Bruder Fritz nach England. Seine Eltern müssen mit ihrer Enkelin Gita in Wien zurückbleiben.

Mailand, Corso Buenos Aires.

Das rettende Schiff nach Uruguay hätte am 2. September 1939 von Genua ablegen sollen. Am Tag davor beginnt mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Damit ist für die Familie Turteltaub die Chance, nach Südamerika zu kommen, verloren.

Am 6. September 1939 werden ihre Pässe ungültig. Die Ausreise in ein anderes Land wird somit unmöglich; die Turteltaubs müssen in Italien bleiben und leben in Mailand - am Corso Buenos Aires Nr. 45.

Gefangen, aber sicher

Um die Achse Berlin-Rom nicht zu belasten, beginnt Italien nach dem Kriegseintritt im Juni 1940 mit 'Maßnahmen' gegen die ausländischen Juden: Die Männer werden in kleinen, entlegenen Orten interniert - unter erträglichen Bedingungen, beaufsichtigt von der lokalen Polizei. Edmund Turteltaub wird in Mailand verhaftet und am 10. Juli 1940 ins mittelitalienische Gran Sasso bei Aquila überstellt; Gertrud bleibt mit den Kindern in Mailand zurück. Sie besucht Edmund im Dezember für ein paar Tage. Kurz darauf wird die Familie in dem großen Internierungslager Ferramonti-Tarsia in Süditalien zusammen untergebracht.

Frei und interniert.

Als im September 1943 britische Truppen das Lager Ferramonti-Tarsia befreien, lebt die Familie Turteltaub schon seit zwei Jahren wieder in Mittelitalien, diesmal in Arcidosso in der Provinz Grossetto. Dort befinden sie sich gemeinsam mit einigen Familien in sogenannter 'freier Internierung', das heißt, sie dürfen weder arbeiten noch den Ort verlassen, bekommen dafür Wohn- und Kostgeld, mit dem sie sich selbst versorgen müssen. Die schwere Erkrankung von Gertrud verschärft die Situation noch weiter.

Das Ende der Hoffnung

Nach dem Sturz Mussolinis marschieren deutsche Truppen in Italien ein. Das Reichssicherheitshauptamt in Berlin übernimmt sofort die Kontrolle über die bisher menschliche 'Judenpolitik' Italiens. 

Die Familie Turteltaub wird am 12. Dezember 1943 in Arcidosso verhaftet und zusammen mit 76 weiteren Juden in das zum Gefängnis umfunktionierte und von 20 Schwerbewaffneten bewachte Priesterseminar im abgelegenen Roccatederighi eingesperrt.

Wider alle Kriegslogik

Angesichts der herannahenden alliierten Truppen findet die deutsche Besatzung noch Zeit, die in ihrer Hand befindlichen Juden nach Norden, in das Durchgangslager Fossoli, zu bringen. Die in Roccatederighi Festgehaltenen werden in zwei Transporten im April und im Juni 1944 fortgebracht. Wenige Tage danach hätten sie die eintreffenden Alliierten befreit.

Auschwitz

Am 26. Juni 1944 verläßt ein 'Transport' das Lager Fossoli. Die rund 1000 Männer, Frauen und Kinder - unter ihnen Edmund, Gertrud, Hans und Walter Turteltaub - treffen nach vier Tagen im Viehwaggon in Auschwitz ein. Der 13jährige Hans und sein 9jähriger Bruder Walter werden sofort nach der Ankunft in den Gaskammern ermordet. Ihre Eltern, Ing. Edmund Turteltaub, 44 Jahre alt, und Gertrud Turteltaub, 40 Jahre alt, 'erhalten Nummern', sie werden also zur Zwangsarbeit in das Lager eingewiesen. Beide erleben die Befreiung durch sowjetische Truppen am 27. Jänner 1945 nicht mehr.

Ein Gedenkstein

Erst 1996 konnte das Schicksal der Familie Turteltaub geklärt werden. Bis dahin glaubte man in Dornbirn, die Flucht nach Uruguay sei 1939 noch geglückt.

Die vom Stadtradt beschlossene Ergänzung des Dornbirner Gedenksteins für die Opfer des Nationalsozialismus war Anlaß dieser Ausstellung. Dieser Stein wird der erste sein, der an Edmund, Gertrud, Hans und Walter Turteltaub erinnert. Ein Grab, das von Verwandten und Freunden besucht werden könnte, gibt es nicht.

Martin Achrainer
Konzeption und Gestaltung dieser Ausstellung. Projektmitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck.

Niko Hofinger:
Konzeption und Gestaltung dieser Ausstellung. Projektmitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck.

Christoph Wild:
HTML-Programmierung und Realisierung des interaktiven Shockwave Movies, das auf dieser Website zum Laden bereitliegt. Studiert Geschichte an der Universität Innsbruck und ist Mitbegründer des BitArt - Media Design Bureau, das sich mit der Implementierung neuer Medien befaßt.

Aus einer praxis- und projektorientierten Lehrveranstaltung am Institut für Zeitgeschichte entwickelte sich seit 1993 mit finanzieller Unterstützung des Jüdischen Museums Hohenems und der Universität Innsbruck ein Forschungsunternehmen, das trotz schwieriger Quellenlage und limitierter Ressourcen bereits grundlegende neue Erkenntnisse 

  1. zur Sozialgeschichte der Juden in Nordtirol und Vorarlberg im 19. und 20. Jahrhundert, sowie 
  2. zur NS-Judenverfolgung im Gau Tirol-Vorarlberg zwischen 1938 und 1945 erbracht hat. 

Das laufende Projekt hat in seiner Art absoluten Modellcharakter für Österreich und wird, sollten die entsprechenden finanziellen und personellen Voraussetzungen geschaffen werden, künftig auch auf Südtirol ausgedehnt werden.

Eckdaten

1867 war das Jahr 1 für die Juden der österreichischen Monarchie als gleichberechtigte Unterthanen seiner Majestät. Erst seit diesem Jahr war es ohne bürokratische Behinderungen möglich, als Jude in Tirol seinen ordentlichen Wohnsitz aufzuschlagen. Ab diesem Zeitpunkt ziehen auch einige jüdische Familien nach Innsbruck; insgesamt sind es jedoch nie mehr als 500 Menschen, die in Nordtirol dem mosaischen Glaubensbekanntnis angehören.

1918 brachte speziell in Tirol für die zugezogenen Juden eine Reihe neuer Probleme mit sich:

  • Viele waren nach ihren alten Heimatgemeinden in die Nachfolgestaaten der Monarchie zuständig
  • Die allgemeine Stagnation im isolierten Tirol brachte die zu einem guten Teil in kaufmännischen Berufen tätigen Juden auch wirtschaftlich unter Druck
  • Die alte Tiroler Judenfeindschaft formierte sich neu im 'Tiroler Antisemitenbund'

1938 bedeutete für alle Juden in Österreich die Entrechtung und Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime. Auch die etwa 650 Personen, die in Tirol und Vorarlberg von den 'Nürnberger Rassengesetzen' als Juden bezeichnet wurden (lä;ngst nicht alle waren auch Mitglieder der Kultusgemeinde in Innsbruck) mußten nun mit beinahe täglichen Benachteiligungen, mit dem Entzug der wirtschaftlichen Basis und mit den Anfeindungen durch die Tiroler 'Herrenmenschen' leben. .... still under construction.


Die Ausstellung ist einen Gemeinschaftsproduktion des Projekts "Biographische Datenbank" am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und dem Stadtmuseum/Stadtarchiv Dornbirn.

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