Am 26. Mai 1942 um 1 Uhr früh trafen Polizisten der Schweizer Grenzwacht St. Margarethen bei einem Bretterlager nahe des Rheinkanals auf einen völlig durchnässten und erschöpften Mann. Auf Befragung gab er sich als Hermann Hannemann aus Berlin zu erkennen. Er sei gemeinsam mit dem Unteroffizier Werner Busse, ebenfalls aus Berlin, aus seiner Garnison in Crossen an der Oder in Brandenburg (heute Polen) desertiert und habe beim Bruggerhorn den Rhein und den Binnenkanal durchschwommen, um in die Schweiz zu gelangen. Wo sich sein Fluchtgefährte befand, wusste Hannemann nicht. Er habe ihn bereits im Rhein verloren, sein Kamerad sei vermutlich abgetrieben und wieder auf deutschem Gebiet gelandet oder ertrunken. Als Grund für die illegale Einreise in die Schweiz gab er an, er habe „bis zum Hals hinauf“ genug vom deutschen Kriegsdienst und wünsche dem englischen oder amerikanischen Konsulat zugeführt zu werden, um sich diesen Mächten zur Verfügung zu stellen. Die Grenzwächter nahmen Hermann Hannemann fest und übergaben ihn nach einer ärztlichen Untersuchung dem Polizeikommando St. Gallen, wo er zwei Tage später ausführlich einvernommen wurde.
Das Protokoll der Einvernahme befindet sich heute im Schweizer Bundesarchiv in Bern. Es bietet eine genaue Rekonstruktion der Flucht des 24-jährigen Maschinenschlossers, der 1938 zum 9. Infanterieregiment der Wehrmacht eingezogen worden war. Ausgebildet als Schütze an einem leichten Maschinengewehr machte er ab September 1939 in Infanterieeinheiten die Angriffskriege auf Polen, Frankreich und die Sowjetunion mit. Im Oktober 1941 erlitt er bei Kämpfen gegen die Rote Armee am Illmensee in Nordwestrussland einen Handdurchschuss, kam in ein Lazarett in Vilnius und wurde zur Genesung zu seiner Ersatztruppe in Crossen an der Oder verlegt, wo er bis zur vollständigen Genesung neue Rekruten für den Einsatz an der Ostfront ausbilden sollte. Im März 1942 traf er dort den Unteroffizier Werner Busse, einen alten Bekannten aus Berlin, der den Winter an der Ostfront und damit die erste Gegenoffensive der Roten Armee am Illmensee mitgemacht hatte und ebenfalls verwundet worden war. Er schilderte ihm eindrücklich, wie sich die Lage der deutschen Soldaten verändert hatte: Verwundete würden nicht mehr versorgt und einfach liegen gelassen, weil der Rücktransport nicht mehr klappte. Sie würden den Erfrierungstod sterben. Die anfängliche Überlegenheit der Wehrmachtstruppen habe sich ins Gegenteil verkehrt. Busse berichtete davon, dass die Rote Armee Kriegsgefangene erschlagen würde, dass in seiner Kompanie Soldaten wegen Befehlsverweigerung erschossen würden. Heinemann missfiel, dass, während die einfachen Soldaten kämpften, sich die Offiziere „satt fressen“ und Lebensmittel unterschlagen würden. Busse habe ihm den Vorschlag, zu desertieren und in die Schweiz oder nach Schweden zu flüchten, unterbreitet. Als Busse die Erlaubnis für einen Urlaub in Lindau am Bodensee erhielt, fassten sie den Entschluss, sich in die Schweiz abzusetzen. Hannemann fälschte einen Urlaubsschein und so begaben sich die beiden auf die Zugreise an den 800 km entfernten Bodensee. In den dicht besetzten Zügen überstanden sie mehrere Kontrollen von Wehrmachtsstreifen. In Lindau angekommen, beschafften sie sich Landkarten vom Rheintal und wählten die Stelle am Bruggerhorn bei Lustenau aus, um den Rhein zu durchschwimmen.

Auf Nachfrage zu seinen Fluchtmotiven gab Heinemann an: „Es sind nicht politische Gründe, die mich zur Flucht bewogen haben, sondern ich bin Deserteur. Vom Kriege habe ich über und über genug und ich glaube nicht an die ‚gute Sache‘ oder die ‚Mission‘, die wir Deutschen zu erfüllen hätten und bin nicht gewillt, dafür mein Leben zu lassen.“ Die Politische Abteilung der Schweizer Polizei legte Deserteuren nahe, in das Deutsche Reich zurückzukehren, ohne dass die deutschen Behörden über die Flucht informiert würden. Davon wollte Heinemann nichts wissen, „denn wenn ich erwischt werde, erschiessen sie mich.“ Vor diese Alternative gestellt, stimmte Heinemann zu, in ein Internierungslager in der Schweiz eingewiesen zu werden. Am 14. Juli 1942 wurde er der Strafanstalt „Lindenhof“ in Witzwil übergeben, der ein Internierungslager für deutsche Deserteure angeschlossen war. Die Internierten wurden von Soldaten bewacht und unterlagen einer Arbeitspflicht bei geringer Entlohnung.
In der Kaserne in Crossen an der Oder fiel die Flucht der beiden Soldaten bald auf. Da Busses Urlaubsort bekannt war, wurde die Kriminalpolizei Lindau um Fahndung nach dem Deserteur ersucht. Die Unterkunft in Lindau war schnell ausgeforscht. Dort brachte die Polizei in Erfahrung, dass Busse und sein Begleiter zu einem Ausflug an den Arlberg aufgebrochen seien. Nun wurden alle Gendarmerieposten des Landkreises Bregenz mit der Fahndung beauftragt. Am 14. Juli 1942 informierte der Landrat des Kreises Bregenz die Kripo in Lindau darüber, dass die Suche nach Busse und seinem Begleiter ergebnislos verlaufen sei.
Was mit Werner Busse geschehen ist, bleibt ungewiss. Doch Vorfallensberichte der Gendarmerie des Kreises Bregenz, verwahrt im Vorarlberger Landesarchiv, deuten darauf hin, dass er im Rhein ertrunken ist. Sieben Wochen nach seinem Fluchtversuch (und einen Tag nach der Meldung des Landrats an die Kripo in Lindau) fand ein Arbeiter aus Rheinau-Fußach an der Mündung des Rheins in den Bodensee eine Wasserleiche, die nicht identifiziert werden konnte. Die wenigen Utensilien, die noch am Körper waren, zeigten, dass es sich um einen Soldaten handelte. Vergleicht man das geschätzte Alter, die Maße und die Haarfarbe mit der Personenbeschreibung im Fahndungsbrief, ergeben sich Übereinstimmungen. Dies trifft freilich auch auf eine weitere Wasserleiche eines nicht identifizierbaren Soldaten zu, die zehn Tage später ebenfalls in der Rheinmündung aufgetaucht ist. Ohne weitere Nachforschungen – oder Vergleiche mit Personenbeschreibungen in Fahndungsbriefen – wurden beide Leichen am Ortsfriedhof von Hard anonym begraben.
Text: Peter Pirker