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Krumbach – eine „Deserteursgemeinde“

In keinem anderen Ort in Vorarlberg, Tirol und Südtirol gab es so viele Wehrdienstentzieher im Zweiten Weltkrieg wie in Krumbach.

Krumbach liegt auf 730 Meter Seehöhe im Vorderen Bregenzerwald, einer ländlich geprägten Hügel- und Gebirgsregion, die zum politischen Bezirk Bregenz gehört. Das Dorf wird im Nordwesten von der Weißach und im Osten von der Bolgenach umrahmt. Ringsum befinden sich Steilufer, weshalb Krumbach durch Brücken mit den Nachbardörfern verbunden ist.

Im Jahr 1934 verzeichnete Krumbach 737 EinwohnerInnen. 1947 mussten sich 73 Personen nach dem „Gesetz über die Behandlung der Nationalsozialisten“ registrieren. Das bedeutet, dass ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung Mitglieder der NSDAP gewesen waren. Krumbach lag damit im Vorarlberger Durchschnitt.

Bei den fünfzehn Deserteuren und Wehrdienstentziehern aus und in Krumbach sticht auf den ersten Blick die Bandbreite ihres Alters hervor. Alle waren zu Beginn der Entziehungspraxis älter als 22, die Hälfte sogar 31 Jahre und älter. Im Vergleich zum bisherigen Wissensstand über das Alter österreichischer Deserteure waren die Krumbacher überdurchschnittlich alt. Ihre Handlungen liegen weit auseinander, von 1939 bis 1945. Wenig überraschend häuften sich die Entziehungen erst im Frühjahr 1945. Zu diesem Zeitpunkt gab es allerdings bereits drei bis dorthin geglückte Fluchten aus der Wehrmacht, die im Dorf sicherlich bekannt waren und anderen fluchtwilligen Soldaten zeigten, dass das Überleben entgegen der Todesdrohung der Kriegsgerichte gegen Deserteure durchaus möglich war.

 

Drei der Deserteure aus Krumbach: Johann Steurer, Theodor Steurer und Alois Nenning (Credit: © Tiroler Landesarchiv)

 

Bemerkenswert und auch überregional äußerst ungewöhnlich ist die mit mehr als drei Jahren außergewöhnlich lange währende und erfolgreiche Desertion von Johann Steurer, einem Bauernsohn und Neffen von Franz Josef Steurer, dem christlichsozialen Bürgermeister bis 1938, den die französischen Militärbehörden nach Kriegsende wieder einsetzten. Nur ein Deserteur aus unserer mehr als 2.000 Fälle von Wehrdienstentziehungen umfassenden Sammlung überlebte die Fahnenflucht als U-Boot in Heimatnähe noch länger. Nach Johann Steurer desertierten auch zwei Söhne von Franz Josef Steurer. Auch Theodor und Alfred Steurer überlebten unbehelligt im Dorf.

Dieses Phänomen lenkt den Blick auf die Frage der Verfolgungsintensität und der Unterstützung. Im Vergleich betrachtet scheint Krumbach kein für die NSDAP besonders fruchtbarer Boden gewesen zu sein. Bereits in der ersten Kriegsphase stellten relativ viele Wehrpflichtige vor allem aus der bäuerlichen Bevölkerung, einen Antrag auf Befreiung vom Militärdienst (Unabkömmlichkeitsstellung – Uk-Stellung). Dies kann als Schwäche der lokalen Funktionsträger der NSDAP interpretiert werden, Kriegsbereitschaft durchzusetzen. Die Unterstützung von Uk-Stellungen scheint in der Anfangsphase des Krieges vielmehr eine Möglichkeit für den Bürgermeister, Ortsgruppenleiter und Ortsbauernführer gewesen zu sein, ihre Positionen im dörflichen Gefüge zu verbessern. Durch eine Denunziation aus der NSDAP-Ortsgruppe brach dieses lokale System der (Selbst-)Privilegierung zusammen und die Gestapo nahm den Bürgermeister, Ortsgruppenleiter und Ortsbauernführer sowie einen Wehrpflichtigen und eine Helferin wegen fingierter Uk-Stellungen fest. Im Dorf gab es zudem Rivalitäten zwischen der Partei und der zweiten Säule der NS-Herrschaft, der staatlichen Exekutive in Person des Kommandanten des Gendarmeriepostens, Karl Girardi. Wohl auch mangels Alternativen war er 1938 im Amt geblieben. Der damals 51-jährige aus dem Trentino stammende Gendarm trat der NSDAP bei und tat damit den Erwartungen seiner vorgesetzten Dienststellen Genüge. Mit seinen Ermittlungen gegen die lokale NS-Elite lieferte er der Gestapo zunächst reichlich Material für Anklagen. Erst in der Phase der Verhandlung vor dem Sondergericht Feldkirch trug er ebenso wie der Gemeindearzt wieder zur Entlastung der Beschuldigten bei, was die Todesstrafe für den angeklagten Wehrpflichtigen abwendete. Die erste Funktionselite der NSDAP verschwand somit 1943 in Haft bzw. wurde zur Wehrmacht eingezogen und musste ersetzt werden – zum Teil durch Personen, die bereits in hohem Alter waren. Girardis Position im Dorf stärkten diese Rochaden.

 

Karl Girardi, Kommandant der Gendarmerie Krumbach (Credit © Vorarlberger Landesarchiv)

 

Freilich musste Girardi auf Anweisung höherer Wehrmachts- und Polizeistellen nach den Deserteuren suchen. Unsere Analyse der Ermittlungsdokumente ergab, dass Girardi im Falle des einzigen festgenommenen Deserteurs, Josef Pankraz Fink, durch die Art, wie er die Anzeige formulierte, den Weg für eine milde Bestrafung wegen „unerlaubter Entfernung“ ebnete. Im Falle Johann Steurers ließ er den Schutz, den dieser bei seiner Familie gefunden hatte, unangetastet, wiewohl er zugleich die Anforderungen der Wehrmachtsjustiz nach Fahndungen beständig erfüllte – bis die Suche als aussichtslos abgebrochen wurde.

Das Verhalten Girardis im Frühjahr 1945 offenbart, dass es für das längerfristige Gelingen von Desertionen (und Widerstand) nicht nur auf die Solidarität von Unterstützer*innen ankam. Das ambivalente Agieren von Polizisten und Gendarmen, die einerseits mit den übergeordneten Behörden kooperierten, andererseits durch Wegsehen und Verschleppen widerständigen Praktiken vor Ort Entfaltungsräume ließen, erweist sich als genauso wesentlich. Die Beziehungen der Deserteursfamilien zur Gendarmerie waren politisch grundiert: Sie gehörten zum vor 1938 tonangebenden katholisch-konservativen, monarchistisch orientierten Kern der Gemeinde, den Girardi bestens kannte.

Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen drängt sich die Frage auf, warum nicht noch mehr Soldaten aus Krumbach desertiert sind. Spezifische Situationen und Beziehungen, die das Überleben einzelner ermöglichten, sollten nicht zu Generalisierungen verleiten. Desertieren war auch in Krumbach mit einem vergleichsweise hohen Anteil von Deserteuren unter den Soldaten (etwa 8 %) die radikale Praxis einer kleinen Minderheit. Sie war unter den Bedingungen einer sich weitgehend konformistisch verhaltenden Umgebung über längere Dauer nur im Verborgenen möglich, wofür die sozialen und ökonomischen Ressourcen sehr knapp waren. Die Eltern von Johann Steurer hätten wohl kaum auch ihren zweiten, jüngeren Sohn, der ebenfalls Soldat war, verbergen und verpflegen können. Ähnlich war es bei Franz Josef Steurer, der neben den zwei desertierten Söhnen zwei weitere in der Wehrmacht hatte.

Der Festungskommandant der Wehrmacht in Bregenz erkor Krumbach im Frühjahr 1945 aufgrund seiner Lage zu einem Verteidigungspunkt im Vorderen Bregenzerwald aus. Um das Vordringen französischer Truppen aus dem bayrischen Allgäu zu erschweren, sollten die Brücken gesprengt und die Stellungen verteidigt werden.

Durch diese Entscheidung waren Krumbach und die umliegenden Dörfer von Zerstörung bedroht. Um dies zu verhindern, bildeten die Deserteure eine Widerstandsgruppe, die vom Bregenzer Max Ibele angeführt wurde. Ibele war im Herbst 1944 aus einer Einheit der Waffen-SS in Frankreich desertiert – angeblich nach einer Befehlsverweigerung – und hatte beim Landwirt Josef Bilgeri, der sich das Knie zertrümmert hatte, um nicht einrücken zu müssen, Zuflucht gefunden. Als die Widerstandsgruppe am 30. April 1945 im Dorf eine Einheit der SS attackierte, fiel Max Ibele im Kampf.

 

Peter Pirker/Ingrid Böhler (Hg.), Flucht vor dem Krieg. Deserteure der Wehrmacht in Vorarlberg, München, UVK Verlag, 2023 (Credit © UVK Verlag)

 

Unsere im Buch „Flucht vor dem Krieg“ publizierte Fallstudie zu Krumbach macht deutlich, dass Deserteure auch in einer relativ günstigen Umgebung solidarischer Familienzusammenhänge zwar eine kleine Minderheit blieben, jedoch keineswegs randständige Existenzen sein mussten. In Krumbach stammten sie vielmehr aus alteingesessenen Bauern- und Handwerkerfamilien, waren im Wirtschafts-, Kultur- und Sozialleben des Dorfes vor 1938 und nach 1945 nicht nur sehr gut integriert, sondern auch Träger politischer Macht. Aus der von den Deserteuren maßgeblich mitgeprägten Widerstandsgruppe entstand die erste Kommunalverwaltung nach der Befreiung, Deserteure nahmen darin wichtige Funktionen wahr. Zur Befriedung der Dorfgesellschaft sorgten sie nach 1945 offenbar selbst dafür, dass ihre Geschichte und Desertieren als eine Form gelungener Dissidenz in Vergessenheit geriet – im Dorf erinnert heute nichts an das widerständige Handeln der Deserteure und den mutigen Aufstand gegen den Zerstörungsfanatismus der SS am 1. Mai 1945.

Text: Peter Pirker/Isabella Greber

 

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