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Im Vomperloch

Die größte Fluchtgruppe in Tirol, jene im Vomperloch, bestand bei Kriegsende aus etwa 17 Deserteuren. Sie stammten aus acht Gemeinden des Inntals.

Als erster suchte der 19-jährige Friedrich Steinlechner aus Gnadenwald in dem unbewohnten, schroffen und dicht bewaldeten Gebirgstal Zuflucht. Unterstützt von seinem Vater, dem Landwirt und Frächter Josef Steinlechner, entwich er am 21. April 1943 – nur wenige Wochen nach der Stellung – vom Gebirgs-Pionier-Ausbildungs-Bataillon 83 in Schwaz. Auslöser für die Einberufung Steinlechners, der zunächst vom Wehrdienst als untauglich zurückgestellt worden war, dürfte ein Konflikt mit dem Bürgermeister seiner Heimatgemeinde Gnadenwald gewesen sein. Steinlechner war einer Überlieferung zufolge Zeuge einer Rauferei geworden und hatte sich geweigert, wahrheitswidrig zugunsten eines involvierten Nationalsozialisten auszusagen. Als er kurz darauf die Einberufung erhielt, trug er sich bereits mit dem Gedanken der Flucht und suchte mit seinem Vater im Vomperloch vorab einen geeigneten Platz für ein Versteck.

Alle vom Gericht der Division 188 in Innsbruck eingeleiteten Fahndungen der Kripo von Hall sowie der Gendarmerie von Mils und Ampass verliefen im Sand. Familienangehörige, insbesondere der Vater, stellten bei Nachfragen jedes Wissen über seinen Verbleib in Abrede. Ihre Aussagen lenkten die Fahndung nach Vorarlberg bzw. äußerten sie Vermutungen, dass er sich in die Schweiz abgesetzt haben könnte. Auch dort griff die Suche ins Leere. Zuständig für die weitere Fahndung Steinlechners wurde im September 1943 die Kriminalpolizeistelle Innsbruck. Wie andere Deserteure kam Steinlechner in ihre Fahndungskartei. 

Zu Friedrich Steinlechner stießen noch im Jahr 1943 zwei weitere befreundete Bauernsöhne aus der Umgebung. Im Oktober 1944 boten die drei Deserteure dann dem 29-jährigen Landarbeiter Josef Innerebner aus Gnadenwald an, in ihr Versteck zu kommen, einer Hütte aus Rundholz, die sie in den steilen Südwesthang des Vomperlochs gebaut und mit einem kleinen Herd ausgestattet hatten. Innerebner hatte den Sommer als Senner auf der Walder Alm nicht weit vom Deserteurslager entfernt verbracht. Für diese Arbeit hatte ihn die Wehrmacht beurlaubt. Innerebner war alles andere als ein eifriger Soldat. Bereits die Einberufung im Jahr 1941 hatte er durch verschiedene Methoden hinausgezögert, letztlich erfolglos. Innerebner blickte im Herbst 1944 auf einen längeren Kriegseinsatz in Italien und Jugoslawien zurück, zuletzt stand seine Einheit in Jugoslawien im Kampf gegen Partisanen. Er war – so berichtete er im Jahr 2002 – nicht mehr bereit, „Menschen erschießen zu gehen […], die mir nicht im Wege sind.“ Seine Eltern weihte er in seine Flucht nicht ein. Um sie zu schützen, täuschte er durch eine fingierte Briefabgabe in Villach vielmehr vor, dass er pflichtgemäß eingerückt sei.

Innerebners Arbeitgeber, der Landwirt und Nazi-Gegner Konrad Platzer, später Chef der Widerstandsbewegung von Gnadenwald, aber wusste vom Deserteurslager, ebenso der 54-jährige Förster Max Erhart und der Berufsjäger Martin Steinlechner, beide der Forstverwaltung Schwaz zugehörig. Sie kannten das Gebiet ausgezeichnet und kontrollierten es, wussten also, wann und wo sich jemand im Vomperloch aufhielt. Sie bildeten einen äußeren Schutzring für die Deserteure.

 

Drei der Deserteure im Vomperloch: Friedrich Steinlechner, Josef Innerebner, Josef Heiss. (Credits: v.l.n.r. © Bundesarchiv – Militärarchiv, © privat, © Archiv der BPD Innsbruck)

 

Die Familien der ersten Deserteure und Konrad Platzer besorgten aus ihren Landwirtschaften die Versorgung der Burschen mit Kartoffeln, Brot, Knödel, Salz und schwarz geschlachtetem Vieh, ergänzt durch illegal geschossenes Wild. Die Zubereitung der Vorratsverpflegung oblag nachts den Bäuerinnen und ihren Töchtern.

Weitere fluchtwillige Soldaten aus umliegenden Gemeinden und verfolgte NS-Gegner gelangten erst ab dem Herbst 1944 ins Vomperloch, die meisten in den letzten Kriegsmonaten. Ausschlaggebend dafür war die Einbindung von Kriminalbeamten der Polizeidirektion Innsbruck, die sich 1944 vom NS-Regime abzuwenden begannen. Eine Schlüsselfigur war der 30-jährige Kriminalpolizist Josef Heiss aus Schwaz, der in der Fahndungsgruppe der Innsbrucker Kripo tätig war und Einfluss darauf hatte, welche Deserteure wann und wie gesucht wurden. Auch Ermittlungen konnte er bis zu einem gewissen Grad gestalten. Als Max Erhart bei der Polizei von jemanden angezeigt wurde, dass er Fahnenflüchtige verstecke und versorge, zog Josef Heiss die Ermittlungen an sich und warnte Erhart. In einem Bericht für die Polizeidirektion Innsbruck, verfasst im August 1945, schilderte er seine weitere Vorgangsweise: „Ich bearbeitete infolge der Tragweite dieses Falles zusammen mit Kuen durch Vernehmungen und Zeugenaussagen die Sache dahingehend, daß der Anzeiger als völlig unglaubwürdig hingestellt wurde und dieser in der Folge sogar auf eine Gegenüberstellung verzichtete.“

Heiss fungierte dann in Absprache mit Max Erhart, Martin Steinlechner und Konrad Platzer als Scharnierstelle für das Schleusen von Deserteuren und bedrohten Regimegegnern ins Vomperloch: „Fahnenflüchtige, die erst in das Lager zugeführt werden mußten, wurden in der Zwischenzeit in meiner Wohnung in Schwaz versteckt gehalten.“ Der Kripo-Beamte setzte Erhart und Steinlechner auch über bevorstehende Suchaktionen in Kenntnis, in die sie als Ortskundige eingebunden wurden und dadurch Gelegenheit hatten, die Deserteure mittels Signalen (beispielsweise durch an festgelegten Orten aufgehängte Wäsche) zu warnen und aufzufordern, jegliche Bewegungen im Gelände zu unterlassen. Erhart und Steinlechner, die wie der Vater des ersten Deserteurs und auch Heiss Mitglieder der NSDAP waren, gestalteten die Suche außerdem auf abträgliche Weise, worüber bis heute eine Reihe von Anekdoten tradiert werden.

Unter den späten Deserteuren befanden sich ganz unterschiedliche Männer: Der bereits 38-jährige Bauer Franz Gollner tauchte nach dem Ende seiner Uk-Stellung Ende November 1944 ab; der erst 17-jährige Ernst Lerchster nutzte einen Sonderurlaub für das Begräbnis seines Ziehvaters, um dem Grauen der Partisanenbekämpfung in Jugoslawien zu entkommen; der 23-jährige Bauernsohn Karl Angerer hatte dreieinhalb Jahre Krieg an der Ostfront hinter sich.

Bei einem der ins Vomperloch geflüchteten Männer handelte es sich um den Kommunisten Josef Ronczay, Unteroffizier im Wehrmeldeamt Kufstein. Ronczay wurde Ende August 1944 wegen Verdachts auf Beihilfe zur Fahnenflucht, Hochverrat und Zersetzung der Wehrkraft verhaftet und der Gestapo in Innsbruck überstellt.

Der zuständige Kriegsgerichtsrat Oswald Gschließer verzögerte jedoch die Ermittlungen und die Anklageerhebung. Das gab Gschließer, der nach dem Ende des NS-Regimes Mitarbeiter der Tiroler Landesregierung wurde, 1953 zu Protokoll. Ronczay hatte noch andere Helfer: Kurz vor dem anberaumten Verhandlungstermin beim Divisionsgericht gelang Ronczay während eines Bombenangriffs am 10. April 1945 die Flucht aus der Wehrmachtshaftanstalt in der Innsbrucker Conradkaserne. Auch er landete im Vomperloch.

 

Die Rettenbachhütte, erster Zufluchtsort von Deserteuren im Vomperloch (Credit: © Markus Jenewein)

 

Schließlich musste Josef Heiss um den 20. April 1945 selbst in die Abgeschiedenheit flüchten und wurde zum Deserteur. Auslöser war eine groß angelegte Verhaftungswelle der Gestapo und des Sicherheitsdienstes der SS in Innsbruck. Heiss, sein Kollege Alois Kuen und andere Polizisten, die eine Widerstandszelle innerhalb der Kripo gebildet hatten, standen im Fokus der Verfolgung, weil sie mit einem Agenten des amerikanischen Geheimdienstes OSS, Fred Mayer, kooperiert hatten, um Widerstand in Innsbruck und Umgebung zu organisieren und den Einmarsch der amerikanischen Truppen zu erleichtern. Heiss berichtete später, dass die Deserteure im Vomperloch mit Militärgewehren und Pistolen ausgerüstet waren: „Ein aktiver Widerstand […] hätte im Falle der Notwendigkeit unter meiner sowie der Leitung des Försters Max Erhart und Jägers Martin Steinlechner stattgefunden.“

Dazu kam es nicht mehr. Die recht heterogene Gruppe löste sich rasch auf. Nach dem Einmarsch der US-Truppen im Inntal am 3. Mai 1945 gingen die Deserteure nach Hause.

Im Jahr 1981 erklärte Friedrich Steinlechner im Opferfürsorgeverfahren von Josef Innerebner zur Geschichte der Deserteure im Vomperloch: „Eine politische Betätigung erfolgte in dieser Zeit nicht, sondern war dieser Aufenthalt lediglich aus dem Grunde gewählt, um nicht an die Front zu müssen.“ Die Praxis, sich dem totalen Aufopferungsimperativ des NS-Staates nicht bloß individuell, sondern kollektiv zu entziehen, kann freilich als widerständige und damit politische Praxis sui generis gewertet werden. Genau diese Ansicht vertrat der Sicherheitsdirektor des Landes Tirol, Wilhelm Winkler, im Jänner 1946 in einem Schreiben an die österreichische demokratische Freiheitsbewegung: „Auf Ihre Anfrage […] beehre ich mich, Ihnen mitzuteilen, daß Soldaten, die von der deutschen Wehrmacht desertiert sind oder wegen Wehrmachtzersetzung bestraft wurden usw. ohne weiteres als aktive Widerständler betrachtet werden können.“ Und Josef Innerebner hielt 1983 fest: „Es ist richtig, daß in dieser Zeit keine Handlungen gesetzt wurden, die der Wiederherstellung eines demokratischen Österreich gedient hätten. Die meisten der Leute hatten zwar Waffen, doch hätten diese nur zur Verteidigung eingesetzt werden können. Der Zweck des Aufenthaltes im Vomperloch war der, von den Nazis nicht vors Kriegsgericht gebracht zu werden. Zusätzlich waren wir auch anderen Leuten bei der Flucht ins Vomperloch behilflich. Ich betone, daß wir erklärte Gegner des Naziregimes waren und durch unsere Desertion unser Leben riskiert haben; ich selbst habe mich nicht vor dem Einsatz als Soldat gefürchtet, wie mein Kriegsdienst beweist; bei mir waren ausschließlich politische Gründe maßgeblich.“

Allerdings hatten ehemalige Wehrmachtrichter, die Verbände der Veteranen der Wehrmacht und ihnen nahestehende Politiker in den Nachkriegsjahrzehnten eine andere Sicht auf die Verfolgung der Deserteure durchgesetzt, nämlich, dass sie unpolitisch und gerechtfertigt war. Daher lehnten es die Behörden ab, Josef Innerebner die Monate seiner Flucht als Pensionsersatzzeiten anzurechnen. Erst Rehabilitierungsgesetze in den Jahren 2005 und 2009 beendete diese lange Phase der pauschalen Weißwaschung der NS-Militärjustiz und der Abwertung der Entscheidung, an der Kriegsführung des NS-Regimes nicht mehr teilzunehmen, so wie es die erste österreichische Staatsregierung am 27. April 1945 in der Unabhängigkeitserklärung von den österreichischen Soldaten verlangt hatte: „Es ist das gebieterische Interesse unseres Volkes, daß der längst verlorene Krieg beendet werde. Daher ist es unser aller Pflicht, mitzuhelfen, daß mit diesem Krieg Schluß gemacht werde. Darum fordert die Staatsregierung […] die österreichischen Soldaten, wo immer sie stehen, auf, wenn irgend möglich die Waffen niederzulegen […].“ Die Deserteure im Vomperloch hatten schon Jahre, Monate und Wochen vorher entsprechende Entscheidungen getroffen. Sie können daher auch als Vorreiter der österreichischen Staatsregierung betrachtet werden.            

Text: Peter Pirker

 

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