6_1_Deserteur in Prutz Joachim Nairz

Maria und Klaus Heidegger, Verwandte von Joachim Nairz, bei der Erkundung des Verstecks im April 2023

Im Verborgenen 2

Erst Mitte Mai 1945 tauchte Joachim Nairz aus seinem Versteck auf. Manche verlangten die Verhaftung des Deserteurs, andere waren jedoch der Ansicht: „Das hast du gut gemacht!“

Die Desertion von Joachim Nairz wurde während der Herrschaft des Nationalsozialismus nicht aktenkundig – die Verschleierung seines Verschwindens durch die Inszenierung des Unfalltods gelang vollständig. Ähnliche Strategien wandten auch andere Deserteure in Tirol und Vorarlberg an, manche täuschten erfolgreich einen Selbstmord vor. Dennoch waren sie in ihren Verstecken ständig der Gefahr ausgesetzt entdeckt zu werden – im Wald vor allem durch Jäger, durch Pilz- und Holzsammler oder spielende Kinder. Joachim Nairz beschrieb in seinem Bericht eine brenzlige Situation: „Ein Jäger ist durch das Verhalten seines Hundes auf die Höhle aufmerksam geworden und ruft beim Einschluff herunter: ‚Ist da jemand drunten?‘ Natürlich habe ich mich nicht gerührt. Der oder die Jäger war(en) während des Winters noch zweimal hier um nachzuschauen. Einer sagte: ‚Da hat sich jemand für den Krieg ein Fluchtloch, ein Versteck hergerichtet, für alle Fälle.‘ Ich dachte mir: Ihr solltet wissen, daß da schon einer drinnen steckt. Ich mußte mich daraufhin tiefer eingraben, noch fester verbarrikadieren, das Rauchloch verlegen, mehrere Fluchtausgänge herrichten. Drei Tage lang getraute ich mich kein Feuer zu machen. Als ich nach drei Tagen auf den Locus mußte, nahm ich einen Sack mit, schöpfte ihn voll mit Schnee, dann hatte ich wieder für drei Tage Wasser und verwischte die Spuren.“

Das sorgfältige Verwischen von Spuren vereitelte nicht nur die Verfolgung, es stellt Jahrzehnte später für die Forschung eine große Herausforderung dar, wenn es darum geht, Überlebensgeschichten von Deserteuren zu rekonstruieren. Im Fall von Joachim Nairz zeigte sich, wie wichtig die Öffentlichkeit von Forschung ist. Nach einem Zeitungsbericht über unser Forschungsprojekt zu Tiroler Wehrmachtsdeserteuren meldete sich im Mai 2021 der altkatholische Pfarrer von Innsbruck Meinrad Schumacher (1935–2022), der sich stets für soziale Randgruppen eingesetzt und unter anderem 1968 das Jugendzentrum z6 gegründet hatte, mit einem Brief an das Institut für Zeitgeschichte: „Seit meiner Kindheit habe ich die Sommerferien in unserer Hütte in Obladis verbracht. Damals schon hatte ich oft von einer Höhle gehört, in der ein Mann in der letzten Kriegszeit versteckt war. Erst später ist es mir gelungen, diese Höhle […] zu finden. […] Dann habe ich mit einer Jugendgruppe die Höhle besucht – die Jugendlichen sind in Prutz ausgeschwärmt, um Zeitzeugen zu finden. Einen verlässlichen Zeugen habe ich dann später in Fiss getroffen. Es ergibt sich Folgendes: Der Mann hieß Jochum (Joachim) Nairz und war aus Prutz. […] Von seiner Flucht wußte nur seine Frau und der Dekan von Prutz, der eine Totenmesse gefeiert hat. Jochum hatte die Höhle wohl schon seit längerem hergerichtet, hat auch eine alte Nähmaschine mit Dynamo dort postiert [Anm.: um Licht zu erzeugen].“ Seine Informationen, die bei einem Telefonat noch konkreter wurden, standen am Beginn der Recherchen zur gelungenen Desertion von Joachim Nairz. Mit Hilfe seiner Angaben konnte das Wehrstammbuch im Tiroler Landesarchiv ausgehoben werden, in dem die Erzählung von Meinrad Schumacher durch mehrere Einträge Bestätigung fand. Sogar die „Fahnenflucht“ war 1964 eingetragen worden, ironischerweise als Joachim Nairz für die Berechnung der Pensionszeiten die Jahre seines Dienstes bei der Gendarmerie nachweisen musste und auch, wie er das Jahr von Juni 1944 bis Mai 1945 verbracht hatte.

 

(Credit: © Markus Jenewein)

 

Die Institutsleiterin Ingrid Böhler erzählte die außergewöhnliche Geschichte am Institut weiter. Bald stellte sich heraus, dass Joachim Nairz ein Verwandter der ebenfalls an der Universität Innsbruck tätigen Historikerin Maria Heidegger gewesen war. Sie vermittelte den Kontakt zu Annelis Schranz, der Dorfchronistin von Prutz, die den 1987 verfassten Bericht von Joachim Nairz im Gemeindearchiv ausfindig machte. Maria Heidegger recherchierte in Prutz weiter und fand mit dem Maler Werner Thoeny einen älteren Einheimischen, der die Geschichte von Joachim Nairz und dessen Versteck aus Erzählungen seines Vaters kannte. Damit waren gute Voraussetzungen für eine partizipative Feldforschung gegeben: Eine gemeinsame Besichtigung der Höhle, bei der die topografische Umgebung erkundet werden kann und die den Beteiligten – einem einheimischen Kenner des Geländes und des lokalen kommunikativen Gedächtnisses, zwei Angehörigen, die aus dem familiären Gedächtnis schöpfen und dem Forscher, der das Archivmaterial und den historischen Kontext kennt – Zeit für einen ausführlichen „memory talk“ verschafft, bei dem die eigene schriftliche Darstellung von Joachim Nairz interpretiert, ergänzt und auch hinterfragt werden kann.

 

Groß war das Erstaunen, als wir die Höhle erreichten und betraten. Es fanden sich verfallene Einbauten wie Verschalungen, Regale, eine Art Bettgestell für den Schlafplatz, eine Kochplatte, ein ins Erdreich eingegrabenes Rohr (wohl zum Verwahren von Lebensmitteln), eine Schuhsohle, Holzscheite und andere Artefakte. Ob sie aus dem Jahr 1944 oder einer späteren Nutzung stammen, ist noch zu klären.

 

(Credit: © Markus Jenewein)

 

(Credit: © Markus Jenewein)

 

(Credit: © Markus Jenewein)

 

(Credit: © Markus Jenewein)

 

Von einer Stelle nahe seinem Versteck konnte Joachim Nairz am 5. Mai 1945 mit dem Fernglas beobachten, wie Widerstandskämpfer bei der Pontlatzbrücke ein Sprengkommando der Wehrmacht beschossen und ihre Zerstörung verhinderten. Ebenso beobachtete er, wie bald darauf „Amerikaner mit Autos, die aussahen wie Schiffe, dem Dorf Prutz zufuhren“. Zwei Tage nach Eintreffen der US-Truppen suchte ihn seine Frau mit dem Gastwirt Hermann Köhle aus Prutz im Versteck auf: „Er hatte Speck, Fleisch, Wein und Brot bei sich und so konnte ich einmal richtig essen.“ Köhle empfahl, noch zuzuwarten. Erst am 24. Mai holte ihn Köhle ab, denn nun galt es einer möglichen Verhaftung durch Ermittler der US Army zuvorzukommen, die in den Wäldern nach versteckten SS-Männern suchten – und als Gendarm war Joachim Nairz Angehöriger der SS gewesen. Er meldete sich umgehend auf dem Gemeindeamt. Als bekannt wurde, dass es sich bei ihm um einen Deserteur handelte, verlangten einige ehemalige Angehörige der SS vom Bürgermeister, ihn zu verhaften. Am nächsten Tag hatte sich Nairz bei der Bezirkshauptmannschaft in Landeck zu melden, „dort mußte ich […] erzählen, was ich alles erlebt hatte, dann sagten sie zu mir: ‚Das hast du gut gemacht!‘.“

Das Angebot in die Gendarmerie einzutreten lehnte er ab. Joachim Nairz nahm stattdessen seinen alten Beruf als Maler wieder auf. Als ihm 42 Jahre später der Politikwissenschaftler Andreas Maislinger schriftlich die Frage vorlegte, wie er nach 1945 in seiner Umgebung behandelt worden sei, ob er als „Feigling“ oder „Vaterlandsverräter“ gegolten habe, antwortete Joachim Nairz: „Im Allgemeinen gut. Bei der Gründung der Schützenkompanie Ende der Fünfzigerjahre wurden die Namen der Wohltäter in ein Fahnenband eingestickt. Mein Name wurde abgelehnt. Er mußte auf Verlangen der Schützen entfernt werden.“ Seine Entscheidung stieß unter den ehemaligen Soldaten offenbar lange auf Ablehnung. Und auf die Frage, wie er jetzt zu seiner Handlungsweise stehe, hielt Joachim Nairz fest: „Es hat mich nie gereut. So rettete ich mich vor dem sicheren Tod. Die Strapazen waren furchtbar.“

Text: Peter Pirker


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