Der Rheinschiffer Philipp Gress, Sohn eines Zimmermanns, meldete sich 1938 freiwillig zur Wehrmacht. Nach der Ausbildung wurde er bei einer Infanteriedivision an der deutschen Westgrenze eingesetzt. Im Jahr 1939 überschritt er mehrfach den Zapfenstreich und Urlaube, immer im Zusammenhang mit Beziehungen zu Frauen, und wurde dafür disziplinarisch bestraft. Zuletzt hatte er seine Einheit unerlaubt verlassen, um einer weiteren Disziplinarstrafe zu entgehen. Er verbrachte bis zu seiner Festnahme zwei Wochen zum Teil in Zivilkleidern mit seiner Freundin. Ein Feldkriegsgericht verurteilte den bislang Unbescholtenen im Jänner 1940 zu einer drakonischen Strafe von fünf Jahren Zuchthaus. Philipp Gress wurde in den Wehrmachtsgefängnissen Germersheim und Freiburg im Breisgau inhaftiert. In Folge eines Gnadengesuchs seines Vaters wurde das Urteil zwar als zu hart aufgehoben und eine Neuverhandlung angeordnet. Unterdessen hatte das Wehrmachtsgefängnis Freiburg Philipp Gress aber in die Wehrmachtsgefangenenabteilung Silvrettadorf auf der 2.000 Meter hoch gelegenen Bieler Höhe im Silvrettagebirge verlegt. Die Häftlinge wurden als Arbeitskräfte auf einer Baustelle der Illwerke AG zur Errichtung einer Staumauer für den Silvretta-Stausee herangezogen.
Am 29. Juni 1940 flüchtete Philipp Gress gemeinsam mit einem weiteren Wehrmachtshäftling, dem Berliner Herbert Kessner. Sie verschafften sich in der Wäscherei Zivilkleider, zogen diese in einem Abort an und gingen unbemerkt aus dem Lager. Sie marschierten talwärts über Partenen nach Gaschurn, wo sie in einem Heustadel übernachteten. Am nächsten Tag erreichten sie Bludenz, übernachteten dort, entwendeten in einem Gasthaus Lebensmittel und Zigaretten und fuhren nach einer weiteren Übernachtung mit dem Zug nach Feldkirch. Eine Frau erkannte die entflohenen Häftlinge und zeigte sie bei Gendarmen im Zug an, die sie festnahmen und in das Lager zurückbrachten. Dort wurden sie im Arresthaus in Zellen gesperrt. Knapp zehn Tage später versuchten Gress und Kessner neuerlich zu fliehen, nun nach Absprache mit drei weiteren Insassen des Arrests, darunter der aus Spittal an der Drau stammende Andreas Kary.

Philipp Gress gelang es als einzigem, die Beschläge der Zellentür abzuschrauben. Er befreite auch Kessner aus seiner Zelle. Die beiden montierten das Sitzgestell eines Aborts ab, schlüpften durch das Loch aus der Baracke und unter dem Lagerzaun durch. Sie robbten zur Ill und wateten im Wasser talwärts, kamen im Gebirgsfluss aber bald nicht mehr weiter. Sie versteckten sich im Stall der Madlener Hütte. Dort wurden sie bald von einem Wachmann des Lagers entdeckt und festgenommen. Der Kriegsgerichtsrat des Gerichts der 188. Division in Innsbruck, Norbert Kügele, klagte sie wegen „Fahnenflucht“ an. Bei der Verhandlung am 17. und 18. Juli 1940 im Lager Silvrettadorf bestritten Gress und Kessner die Absicht einer dauerhaften Flucht. Sie hätten sich bloß einige freie Tage verschaffen wollen und ihr eigentliches Ziel sei eine Frontsammelstelle gewesen, um sich im Kampf zu bewähren. Bemerkenswert ist, dass der Richter den Angeklagten glaubte bzw. argumentierte, dass ihnen die Absicht der Fahnenflucht nicht nachweisbar sei. Er verurteilte sie nur wegen „unerlaubter Entfernung“ zu mehrjährigen Zuchthausstrafen.
Gegen das Urteil protestierte der Kommandant der Wehrmachtsgefangenenabteilung Silvrettadorf: „Denn im Hinblick auf die nur behelfsmäßige Anlage des Lagers, die durch die Geländeverhältnisse bedingte überaus schwierige Überwachungsmöglichkeit sowie die unmittelbare Nähe der Schweizer und Liechtensteiner Grenze können die Verwahrungsgefangenen auf die Dauer letzten Endes nur durch die Furcht vor der drohenden Todesstrafe von Fluchtversuchen abgehalten werden.“ Der Gerichtsherr, Generalleutnant Hans von Hößlin, folgte diesem Einwand, hob das Urteil auf und sprach auch gleich Klartext, wie die Neuauflage des Prozesses auszugehen habe: „[…] von der Möglichkeit der Todesstrafe muß in derartigen Fällen Gebrauch gemacht werden.“
Das Gericht, das am 10. Dezember 1940 in Bludenz neuerlich zusammentrat, urteilte entsprechend. Neben Kriegsgerichtsrat Ernst Roschker gehörten dem Tribunal des Gerichts der Division 188 auch der Standortälteste von Bludenz und ein Gefreiter des Wehrmeldeamtes Bludenz an. Sie erkannten nun, wie von Hößlin verlangt, auf das Delikt „Fahnenflucht“ und legten der Strafbemessung die „Richtlinien des Führers zur Verhängung der Todesstrafe bei Fahnenflucht“ vom April 1940 zu Grunde: Demnach war die Todesstrafe geboten, wenn als Handlungsmotiv „Furcht vor persönlicher Gefahr“ vorliege, bei „wiederholter und gemeinschaftlicher Fahnenflucht und bei Flucht oder versuchter Flucht ins Ausland“. Gress und Kessner wurden so wegen Fahnenflucht zweimal zum Tode verurteilt. Die Urteile wurden am 5. März 1941 in Freiburg im Breisgau vollstreckt.
Andreas Kary, dessen Fluchtabsicht schon im Ansatz gescheitert war, erhielt im zweiten Verfahren ebenfalls eine stark verschärfte Strafe. Ihn verurteilte das Gericht wegen versuchter Fahnenflucht zu zehn Jahren Zuchthaus. Er überlebte die Überstellung in das Strafgefangenenlager Aschendorfermoor II im Emsland und die schwere Zwangsarbeit nur wenige Monate und starb am 15. September 1942. Als offizielle Todesursache ist auf einer Mitteilung an das Gericht der Division 188 „Herz- und Kreislaufschwäche“ zu lesen. Kary hatte im Lager Silvrettadorf mehrfach die Arbeitsbefehle offen verweigert. Im Gerichtsverfahren begründete er seine Auflehnung mit der Kälte, der schlechten Ausrüstung (keine Handschuhe) und Schikanen der Vorarbeiter.

Am 3. Juni 1941 flüchtete der Wehrmachtshäftling Friedrich Hauschild aus einem Lager der Wehrmachtsgefangenenabteilung Silvrettadorf, das sich in der Ortschaft Rifa (Gaschurn) befand. Um seine Verfolger abzuschütteln, sprang er in die reißende Ill, erreichte das andere Ufer jedoch nicht. Er wurde abgetrieben und ertrank. Die Leiche wurde weggeschwemmt und konnte von der Gendarmerie nicht gefunden werden. Nach einer späteren Darstellung der Österreichischen demokratischen Widerstandsbewegung St. Gallenkirch handelte es sich bei einem Verfolger um Alois Köll aus Partenen, einem Nationalsozialisten der ersten Stunde. Er hätte den Wehrmachtsflüchtling in die Ill getrieben. Erhebungen der Kriminalpolizei gegen Köll wurden im Jahr 1948 eingestellt.
Philipp Gress, Herbert Kessner, Andreas Kary und Friedrich Hausschild waren vier von 150 Soldaten aus bzw. in Tirol, Vorarlberg und Südtirol, denen die Flucht aus der Wehrmacht und ihrem brutalen Straf- und Disziplinierungssystem nicht gelungen ist.
Kriegsgerichtsrat Ernst Roschker (geb. 1883 in Marburg) war einer von 27 namentlich bekannten Militärjuristen, die als Ankläger oder Richter an den Gerichten der Divisionen 188 und 418 im Wehrkreis XVIII (Reichsgaue Tirol-Vorarlberg, Kärnten, Salzburg, Steiermark) insgesamt an 74 Todesurteilen beteiligt waren. Roschker war Burschenschafter und hatte bereits vor 1938 Karriere gemacht – er war Mitglied der Vaterländischen Front und wurde Oberlandesgerichtsrat am Landesgericht Leoben. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten trat er der NSDAP bei und wurde Direktor des Landgerichts Leoben.
Text: Peter Pirker