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: Links im Vordergrund der letzte Zufluchtsort von Jakob Domig, ein Stall mit Heuboden in Blons

Er suchte die Freiheit

Jakob Domig aus Sonntag Buchboden im Großen Walsertal lehnte sich gegen seinen Vater auf und desertierte im September 1944. Maisäße, Heustadel und Ställe waren seine Zufluchtsorte.

Jakob Domig war ein Sohn von Johann Alois Domig, Bergbauer und Lehrer der einklassigen Volksschule von Sonntag Buchboden im Großen Walsertal. Nach der Volksschule absolvierte Jakob Domig eine Lehre bei einem Schumacher in St. Gerold. Seine Mutter Maria Magdalena starb 1938. Jakob, der 1924 zur Welt gekommen war, hatte elf Geschwister, fünf Brüder waren zum Zeitpunkt seiner Desertion im September 1944 Soldaten in der Wehrmacht, ein weiterer war bereits 1942 an der Ostfront gefallen. Die Brüder Arnold und Franz Josef sowie die beiden Schwestern Hedwig und Anna lebten auf dem elterlichen Hof.

Jakob Domig rückte im Oktober 1942, kaum achtzehnjährig, zur Wehrmacht ein, zuletzt war er dem Gebirgsjäger-Regiment 138 zugeteilt, das im Rahmen der 188. Reserve-Gebirgs-Division in Rijeka zur Bekämpfung der slowenischen Partisanen stationiert war. Im Frühsommer 1944 erlitt Jakob Domig einen Oberschenkelsteckschuss und kam in das Reserve-Lazarett II in Feldkirch zur Behandlung und Heilung seiner Verletzung. Im Anschluss erhielt er einen Genesungsurlaub nach Hause, der am 16. September 1944 zu Ende ging. Nach Angaben seines Bruders Arnold sollte er zum Ersatztruppenteil in Leoben einrücken. Während des Urlaubs erzählte Jakob Domig zu Hause häufig „von den im Osten mitgemachten Strapazen“ und zeigte keine Lust, in den Krieg zurückzukehren. Zur Verschleierung seiner Fluchtabsicht verließ er dennoch wie vorgesehen das Elternhaus und fuhr mit dem Bus, begleitet von seiner Schwester Anna, nach Bludenz. Im Bus traf er den Soldaten Tobias Studer aus St. Gerold, der ebenfalls nach einem Genesungsurlaub wieder einrücken musste. Jakob Domig soll Studer zugeredet haben, ebenfalls abzuhauen.

Während Studer seinen Urlaub bereits überschritten hatte und deshalb in Feldkirch von der Feldgendarmerie festgenommen wurde, aber aus der Wachstube entkam, fuhr Jakob Domig nach einem Besuch bei seinem Bruder Alfons, der verwundet im Reserve-Lazarett II in Feldkirch lag, zurück nach Bludenz. Im Zug begegnete er erneut Studer und sie beschlossen, die weitere Flucht zurück in das Große Walsertal gemeinsam anzutreten. Beide Deserteure wussten, dass sich in der Umgebung von Sonntag der Deserteur Leonhard Burtscher verborgen hielt, dessen Fluchtgefährten Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz samt der Familie Burtscher im Juli 1944 jedoch verhaftet worden waren. Der Hof der Familie Burtscher lag im Weiler Küngswald, noch höher als der Domig-Hof. Jakob Domig und Tobias Studer fanden Leonhard daher bald und bis November 1944 blieben die drei Deserteure zusammen.

 

Die Familie Domig Anfang der 1930er-Jahre, Jakob rechts neben seinem Vater Alois (Credit: © Bernadette Forte, geb. Domig)

 

Jakob Domig fällte seine Entscheidung zu desertieren gegen den Willen seines Vaters Alois und seines älteren Bruders Arnold. Er konnte sich zu Hause nicht mehr blicken lassen. Der mündlichen Überlieferung von Verwandten zu Folge hatte er sich häufig gegen die Autorität des Vaters und des älteren Bruders aufgelehnt. Bei Tobias Studer war es anders: Er konnte seine Mutter Katharina in die Flucht einweihen und erhielt nicht nur von ihr, sondern auch von einem jüngeren Bruder mehrfach Unterstützung. Zeitweilig gewährte Katharina Studer den Deserteuren in ihrem Haus in St. Gerold auch für mehrere Tage Unterschlupf und Verpflegung, meist während der Abwesenheit des Ehemannes, der sich zu dieser Zeit gewöhnlich auf dem Maisäß aufhielt. Sonst verbargen sie sich an anderen Orten im Walsertal in Heustadeln, Ställen, Maisäßen und Alpen, die ihren Familien und ihnen bekannten Bauern gehörten, für die sie zum Teil gegen Verpflegung arbeiteten, etwa Schwarzschlachtungen und Forstarbeiten durchführten. Sie mussten ihre Verstecke häufig wechseln und kamen kaum zur Ruhe. Ihre Versuche, weitere auf Heimaturlaub befindliche Soldaten zum Desertieren zu bewegen und eine Widerstandsgruppe zu bilden, schlugen fehl. Mit dem Beginn des Winters wurde das Überleben der Gruppe noch schwieriger, da Schnee und Lawinengefahr das Überleben und Fortbewegen in Hochlagen stark einschränkten. Gerüchte über die Anwesenheit der Deserteure erhöhten das Risiko verraten zu werden. Zudem kam es zu einem Konflikt zwischen Leonhard Burtscher und Jakob Domig, der sich mit dem Gedanken getragen haben soll, sich zu stellen. Leonhard Burtscher verließ die Gruppe und schlug sich alleine bis Kriegsende durch.

Anfang 1945 suchten Tobias Studer und Jakob Domig mehrfach Studers Elternhaus in St. Gerold auf und blieben über längere Zeit dort bzw. in umliegenden Heustadeln. Verpflegt wurden sie in dieser Zeit von Katharina Studer, Tabak erhielten sie von einem Nachbarn. Die beiden zeigten sich sogar Besucher*innen im Haus, etwa um mit ihnen Karten zu spielen. Dabei soll Jakob Domig auf die Nachfrage, warum sie als Soldaten überhaupt hier sein konnten, geantwortet haben: „Wir sind Banditen und haben auch gute Gelegenheit gehabt, solche zu werden!“ Auch andere Einheimische, die sie kannten, sprachen sie auf ihren Wegen an und gaben sich zu erkennen. Ihr Verhalten zeigt einerseits, dass sie sich in ihrer Umgebung recht sicher fühlten, andererseits führte es im Februar und März 1945 zu mindestens zwei Anzeigen bei der Gendarmerie Blons und zu Versuchen der Gendarmerie, die beiden Deserteure aufzuspüren und festzunehmen. Einer der Anzeiger ersuchte die Gendarmen, seinen Namen als Zeuge auf keinen Fall bekanntzugeben, „weil ich sonst unter der Walsertaler Bevölkerung als Schuft und Verräter verschrien werde.“

 

Maisäße und Alphütten im hinteren Walsertal (Credit: © Leo Forte)

 

Im Februar und März 1945 gelang es den Deserteuren zweimal in letzter Sekunde ihren Verfolgern – Gendarmerie, Soldaten und Gestapobeamten – in Blons und Thüringerberg knapp zu entkommen. Bei einer größeren Fahndungsaktion auf Betreiben der Gestapo (Grenzpolizeikommissariat Bregenz) jedoch wurden am 27. März 1945 basierend auf den Anzeigen eine Reihe von Familienangehörigen und Mitwisser*innen festgenommen: Katharina Studer (* 20.05.1897, St. Gerold), Ida Dobler (* 25.06.1926, St. Gerold), Josef Dobler (* 19.03.1891, St. Gerold), Gottlieb Burtscher (* 23.01.1891, St. Gerold), Hedwig Domig (*21.3.1923, Buchboden), Anna Domig (*18.6.1921, Buchboden), Franz Josef Domig (*21.02.1928, Buchboden), Arnold Domig (*23.02.1916, Buchboden).

Weitere Personen wurden der Mitwisserschaft und Hilfe verdächtigt, blieben jedoch zum Teil aus gesundheitlichen Gründen auf freiem Fuß. Obwohl gegen den Vater und die Geschwister von Jakob Domig keinerlei Nachweise vorlagen, dass sie ihn unterstützt hatten, wurden nur Arnold und Hedwig nach einigen Tagen Haft wieder entlassen. Alle anderen blieben wohl bis Anfang Mai 1945 in Bludenz in Haft. Zu einer Anklageerhebung vor dem Sondergericht Feldkirch wegen Begünstigung von Deserteuren kam es jedoch nicht mehr.

 

Gemälde des Domig-Hofes in Buchboden (Credit: © Bernadette Forte, geb. Domig)

 

Der Gestapo lag ein vertraulicher Hinweis vor, dass die Deserteure am Tag vor der Razzia durch ein anonymes Schreiben an Katharina Studer gewarnt worden seien, so dass sie das bereits verratene Versteck in einem Heuschuppen in der Nähe des Studer-Hofes rechtzeitig verlassen konnten. Sie flüchteten tiefer ins Tal hinein, bis nach Buchboden, wo sie sich in Hütten der Familie Domig verbargen. Die Beschaffung von Lebensmitteln war nun aber noch schwieriger und gefahrvoller als bisher. Die beiden dürften sich in ihrer Not auch durch einen Einbruchdiebstahl versorgt haben, zumindest nach Darstellung der Gendarmerie: Am 12. April 1945 fahndeten der Meister der Gendarmerie Blons, Josef Burtscher, und der Wachtmeister der Reserve, Josef Descher, in der Umgebung von Sonntag nach Tätern eines Einbruchdiebstahls. Dabei beobachteten sie zwei Männer, wie sie sich in einen abgelegenen Stall begaben. Tobias Studer berichtete im Jahr 2002 der Historikerin Maria Fritsche, dass Jakob Domig und ihm in diesem Stall von jemanden die Übergabe von Speck versprochen worden war.

Im Protokoll des Gendarmeriepostens Blons ist die Version der beteiligten Gendarmen nachzulesen: Sie folgten den Verdächtigen zum Stall und forderten sie auf, sich zu ergeben. „In diesem Augenblick eröffneten die im Heustock versteckten Männer auf die Gendarmen das Feuer, worauf auch die Gendarmen von der Schußwaffe Gebrauch machten. […] Als dann die Gendarmen ihre Munition verfeuert hatten und sich in Sicherheit begeben mußten, ergriff einer der zwei Männer die Flucht, wogegen der andere auf dem Stall mit einem Kopfschuß tot aufgefunden wurde. Die weitere Durchsuchung des Stallgebäudes ergab, daß tatsächlich das Diebsgut von vorerwähnten Einbruchdiebstahl im Heustock versteckt aufgefunden werden konnte.“

 

(Credit: © Leo Forte)

 

Der Tote wurde als Jakob Domig identifiziert, der Flüchtende als Tobias Studer. Im Interview mit Maria Fritsche berichtete Tobias Studer von einer Falle, die den beiden Deserteuren gestellt worden sei. Er habe nur einen Schuss auf die Gendarmen abgegeben, dann habe sich sein Gewehr verklemmt. Jakob Domig habe demnach gar nicht geschossen und sich auch geweigert, ihm sein Gewehr zu überlassen, bevor dieser von den Gendarmen tödlich getroffen wurde. In einem anderen Bericht der Gendarmerie Bludenz ist abweichend zur Darstellung in der Chronik zu lesen, Jakob Domig sei mit einem Herzschuss tot im Stall aufgefunden worden. Ein Augenzeuge des Ereignisses überlieferte Verwandten von Jakob Domig wiederum, dass die Gendarmen als erste geschossen hätten.

Tobias Studer gelang die Flucht, bevor Wehrmachtssoldaten und die Landwacht eintrafen. Er nahm das Gewehr seines toten Freundes an sich, beschoss die Gendarmen, entkam in die Schlucht der Lutz, legte sich dort unter die Wurzeln eines umgefallenen Baumes und hielt sich mit Moos bedeckt so lange verborgen, bis die Fahndung nach ihm abgebrochen wurde. Er überlebte die Wochen bis zum Kriegsende mit Hilfe von Knechten und Verwandten in Ställen und einem höher gelegenen Maisäß in Thüringerberg.

 

Sterbebild von Jakob Domig (Credit: © Bernadette Forte)

 

Der Leichnam von Jakob Domig wurde in Blons außerhalb des Friedhofs verscharrt. Dieser Umgang mit erschossenen Deserteuren entsprach den Vorschriften der Wehrmacht, wonach Deserteure ehrlos waren und nicht nach den üblichen Begräbnisriten bestattet werden durften. 1948 wurde der Leichnam exhumiert und im Familiengrab in Buchboden beerdigt, allerdings ohne den Namen am Kreuz des Familiengrabes, das heute nicht mehr existiert, hinzuzufügen. Wahrscheinlich aus Anlass der Beerdigung ließ die Familie ein Sterbebild zur Erinnerung an Jakob Domig anfertigen. Darauf finden sich die Worte „Er suchte die Freiheit und fand den Tod.“

Als der lokale Kameradschaftsbund später ein Gedenkkreuz für die gefallenen Soldaten aus Buchboden errichtete, ließ man den Namen von Jakob Domig weg – seine gefallenen bzw. vermissten Brüder Alois und Hubert hingegen werden erinnert. Offenbar blieb der erschossene Deserteur ehrlos, einer Erinnerung am Friedhof seines Heimatortes nicht würdig – eine Haltung, die den Gesetzen der Republik Österreich zur Rehabilitierung von Deserteuren der Wehrmacht widerspricht und Angehörige von Jakob Domig schmerzt.

Tobias Studer und Leonhard Burtscher, die Fluchtgenossen von Jakob Domig, sind im Frühjahr 1945 nicht die einzigen Deserteure im Walsertal geblieben. Gegen Kriegsende fassten mehr und mehr Soldaten den Mut, den Stellungsbefehlen nicht mehr zu gehorchen und den Kriegsdienst aufzugeben. Nach einem Bericht von Leonhard Burtscher aus dem Jahr 1947 befanden sich bei Kriegsende 27 Deserteure im Großen Walsertal, freilich sind ihre Namen und Geschichten in den meisten Fällen ungeschrieben geblieben.

Text: Peter Pirker


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