Illusion oder Wirklichkeit?

Das Vanitas-Trompe-l'œil als phantasma

Chiara Gratl

Ist die Trompe-l'œil -Malerei bloße Illusion oder die Täuschung tiefer liegender Wahrheiten? Zur Beantwortung dieser Frage wird das Trompe-l'œil im kunsthistorischen und philosophischen Kontext des 17. Jh. betrachtet. Dabei steht insbesondere die Rolle der phantasmen in der Wahrnehmung zur Diskussion. Es handelt sich nicht um einen fest umrissenen kunsthistorischen Terminus, sondern beschreibt ein konzeptuelles Spannungsfeld zwischen Wahrnehmung, Vorstellung und Wirklichkeit.1

In den Niederlanden auch als „betriegertje"2 (kleiner Betrüger) bekannt, verfolgt das Trompe-l'œil3 das Ziel, das Auge durch illusionistische Darstellung zu täuschen.4 Indem es sich auf das Prinzip der Mimesis stützt, knüpft es an antike Kunsttheorien an.5 Die Forderung die sichtbare Welt naturgetreu im Bild wiederzugeben, umfasst auch das Spiel mit der Illusion6 – als Ausdruck höchster künstlerischer Virtuosität.

Trompe-lœil behandeln häufig Themen der Vanitas und fordern zur Reflektion über das Leben und die Wahrnehmung auf.Ein Beispiel ist Maria van Oosterwijcks8 Vanitas-Stillleben von 1668.9 Die dargestellten Objekte – Bücher, Manuskripte, Blumen, Insekten10 und ein Glasgefäß11 – sind emblematisch aufgeladen und verweisen auf moralische und religiöse Konzepte der Vergänglichkeit.12 Gleichzeitig tritt ein Spannungsverhältnis zwischen naturalistischer Darstellung und inhaltlicher Konstruktion auf: Blumen, die zu unterschiedlichen Jahreszeiten blühen, erscheinen hier gleichzeitig in voller Pracht. Diese Anordnung lässt sich als phantasmatische Verdichtung verstehen – sie erzeugt eine ideale, aber in der Realität nicht mögliche Gleichzeitigkeit. Das Bild formuliert somit ein Begehren nach Dauer und Ordnung, das gerade in der künstlichen Komposition sichtbar wird.13

In diesem Zusammenhang lässt sich ein Bezug zum Konzept des Capriccios14 herstellen: Als frei komponiertes Bildgefüge, das Wirkliches und Erfundenes kombiniert, folgt es keiner empirischen Logik, sondern einer imaginierten Ordnung. Auch van Oosterwijcks Stillleben arrangiert heterogene Motive in einer verdichteten, gleichwohl unrealistischen Konstellation. Diese Nähe zum Capriccio deutet auf die phantasmatische Struktur der Bildorganisation hin.

Ein Vergleich mit Cornelis Norbertus Gijsbrechts'15 Rückseite eines Gemäldes (ca. 1670) verdeutlicht eine weitere Spielart der Täuschung. Gijsbrecht zeigt nicht ein Objekt, sondern die Rückseite eines Bildes selbst – ein Verweis auf den illusionären Charakter der Malerei. Das Bild entzieht sich seiner Funktion als Darstellung und öffnet damit Raum für Vorstellungen darüber, was nicht gezeigt wird. Auch hier wirkt das Trompe-l'œil als phantasmatische Struktur: nicht durch Präsenz, sondern durch Abwesenheit.

Im Vanitas- Trompe-l'œil lässt sich das phantasma als bewusst gesetzter Gegenentwurf zur erfahrbaren Realität fassen. Gemälde, wie das von Maria van Oosterwijck, sind bewusst künstlich konstruierte Bildräume, die eine alternative Ordnung zur Wirklichkeit entwerfen. Ihre illusionistische Gestaltung verweist nicht auf Transzendenz, sondern radikal auf das Sichtbare selbst. Die Täuschung zielt auf Verunsicherung – nicht nur in Bezug auf das Bild, sondern auf die eigene Wahrnehmung.16

[1] Einen grundlegenden Überblick zum Begriff der Fantasie bietet: Hans Belting, Über Phantasie und Kunst, in: Venanz Schubert (Hg.), Gedächtnis und Phantasie, St. Ottilien 1997, 183-203.

[2] Eckhard Hollmann / Jürgen Tesch, Die Kunst der Augentäuschung, Köln 2004, 6.

[3] Der französische Begriff „Trompe-l’œil“, der „täusche das Auge“ bedeutet, entstand um 1800. Vgl. Sybille Ebert-Schifferer, Die Geschichte des Stilllebens, München 1998, 162.

[4] Vgl. Hollmann / Tesch 2004 (wie Anm. 2). Vgl. Ebert-Schifferer 1998 (wie Anm. 3), 31.

[5] Der von dem antiken Autor Plinius überlieferte Wettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios – Sinnbild der Konkurrenz zwischen Kunst und Natur – erlangte in der niederländischen Barockmalerei neue Relevanz. Während Zeuxis Trauben malte, die Vögel täuschten, soll Parrhasios einen Vorhang so illusionistisch dargestellt haben, dass Zeuxis selbst danach griff. Die Anekdote aus dem späten 5. Jh. v. Chr. steht exemplarisch für das Ideal der Mimesis, das auch dem Trompe-l'œil des Barock zugrunde liegt. Vgl. Philip Ursprung, Augenwischerei. Trompe-l`oeil einst und jetzt, in: Martina Sitt / Hubertus Gaßner (Hg.), Spiegel geheimer Wünsche: Stillleben aus fünf Jahrhunderten, Ausstellungskatalog, Hamburger Kunsthalle Hamburg, München 2008, 25-37, bes. 25f.

[6] Platon unterschied zwischen Ebenbild und Trugbild und prägte damit nachhaltig die Wahrnehmung der Malerei. Als „scheinbildende Kunst" zeigt sie ihm zufolge nicht das Wesen der Dinge, sondern nur deren Erscheinung – bloße phantasmen oder Traumbilder. Diese Vorstellung lebt in den Trompe-l'œil-Gemälden des Barocks fort, die gezielt mit Wahrnehmung täuschen und die Grenzen von Realität und Illusion hinterfragen. Vgl. Berthold Hub, Platon und die bildende Kunst: eine Revision, in: PLATO: The Electronic Journal of the International Plato Society, 9 (2009), 1-82, bes. 8, URL: http://gramata.univ-paris1.fr/Plato (04.04,2025). Vgl. Hollmann / Tesch 2004 (wie Anm. 2), bes. 10. Johanna Hornauer, Desillusioniert? Eine kurze Geschichte der Illusionismus-Theorie, in: Sandra Pisot / Johanna Hornauer (Hg.), ILLUSION. Traum. Identität. Wirklichkeit, Ausstellungskatalog, Hamburger Kunsthalle Hamburg, Berlin 2024, 40-49.

[7] Ernesto Grassi, Die Macht der Phantasie. Zur Geschichte abendländischen Denkens, Düsseldorf 1992, 184ff. Martina Sitt, Spiegel geheimer Wünsche, in: Martina Sitt / Hubertus Gaßner (Hg.), Spiegel geheimer Wünsche: Stillleben aus fünf Jahrhunderten, Ausstellungskatalog, Hamburger Kunsthalle Hamburg, München 2008, 39-50, bes. 40f.

[8] Maria van Oosterwijck (1630-1693) war eine niederländische Stillebenmalerin, bekannt für ihre detailreichen Blumen- und Prunkstillleben. Sie arbeitete in Delft, Utrecht und Amsterdam, stand unter dem Einfluss von Jan Davidsz de Heem und war mit Willem van Aelst befreundet. Ihre Werke wurden von europäischen Fürsten wie Kaiser Leopold I. und Ludwig XIV. geschätzt. Rund 40 Werke sind erhalten. Vgl. Uta Neidhardt, Maria van Oosterwijck (Nootdorp 1630-1693 Uitdam), in: Stephan Koja / Iris Yvonne Wagner (Hg.), Aus dem Schatten: Künstlerinnen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Ausstellungskatalog, Dresden 2023, 116f., bes. 116.

[9] Alois Primisser beschrieb das Gemälde 1819 als ein „Quodlibet (lat. „wie es beliebt“), bestehend aus einem Himmelsglobus, einer Sanduhr, allerlei Schriften und Büchern […]“. Vgl. Margot Rauch, 1.7 Vanitas-Stillleben, in: Wilfried Seipel (Hg.), Die Entdeckung der Natur. Naturalien in den Kunstkammern des 16. und 17. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog, Schloss Ambras Innsbruck, Kunsthistorisches Museum Wien, Wien 2006, 24-26, bes. 24.

[10] Zwei Fliegen, scheinbar auf der Bildoberfläche sitzend, veranschaulichen laut Louis Marin das bewusste Spiel an der Grenze zwischen Bildraum und Realität. Ihre Täuschung ist so überzeugend, dass sie die Betrachter*innen in den Bildraum zu ziehen vermögen, dabei jedoch zugleich die Künstlichkeit der Darstellung offenbaren – ein „unnützer und exzessiver" Teil der mimetischen Illusion. Vgl. Bernhard Siegert, Der Blick als Bild-Störung Zwischen Mimesis und Mimikry, in: Claudia Blümle / Anne von der Heiden (Hg.), Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, Zürich 2005, 103–126, bes. 115.

[11] Zu Beginn des 17. Jh. begannen Künstler*innen, sich dezent als Spiegelungen in Stillleben zu inszenieren – eine Praxis, die bereits Jan van Eyck mit der Darstellung seiner eigenen Reflexion in der Vander Paele-Madonna (1436) vorwegnahm. Auf diese Weise betonten sie nicht nur ihre Anwesenheit im Bild, sondern auch ihr meisterhaftes Spiel mit illusionistischer Darstellung. Vgl. Celeste Brusati, Stilled Lives. Self-Portraiture and Self-Reflection in Seventeenth-Century Netherlandish Still-Life Painting, in: Simiolus: Netherlands Quarterly for the History of Art 20 2/3 (1990/1991), 168-182.

[12] In der Vanitas-Symbolik, wie in Maria van Oosterwijks Werken, stehen Blumen, Totenschädel, Sanduhren und Münzen für Vergänglichkeit, Zeit und Reichtum. Zugleich spiegeln sie Sehnsüchte nach Schönheit, Unsterblichkeit und Besitz wider. Vgl. Martina Sitt, Spiegel geheimer Wünsche, in: Martina Sitt / Hubertus Gaßner (Hg.), Spiegel geheimer Wünsche: Stillleben aus fünf Jahrhunderten, Ausstellungskatalog, Hamburger Kunsthalle Hamburg, München 2008, 39-50, bes. 40f. Ebert-Schifferer 1998 (wie Anm. 3), bes. 137. Claudia Fritzsche, Der Betrachter im Stillleben. Raumerfahrung und Erzählstrukturen in der niederländischen Stillebenmalerei des 17. Jahrhunderts, Weimar 2010, bes. 18.

[13] Vgl. Philip Ursprung, Augenwischerei: Trompe-l'œil einst und jetzt, in: Martina Sitt / Hubertus Gaßner (Hg.), Spiegel geheimer Wünsche: Stillleben aus fünf Jahrhunderten, Ausstellungskatalog, Hamburger Kunsthalle Hamburg, München 2008, 25-37, bes. 25f.

[14] Das Capriccio, ursprünglich vor allem in der Architekturmalerei verortet, beschreibt eine Bildform, die reale und fiktive Elemente in freier Kombination zusammenführt. Dabei steht nicht die mimetische Genauigkeit im Vordergrund, sondern eine „mimetisch kontrollierte Willkür", die poetische und imaginative Bildräume eröffnet. Diese Kompositionsweise lässt sich auf van Oosterwijcks Stillleben übertragen: Die gleichzeitige Darstellung nicht gleichzeitig blühender Pflanzen, das Nebeneinander von Vanitas-Symbolen und idealisierten Elementen folgt keiner realen, sondern einer imaginierten Logik. Im Sinne eines phantasmatischen Sehens wird so ein Bildraum geschaffen, in dem das Sichtbare auf vorgestellte – nicht darstellbare – Bedeutungszusammenhänge verweist. Vgl. Ekkehard Mai, Phantasie, Invention, Capriccio - kunsttheoretische Splitter und Randbemerkungen zu einem großen Thema", in: Ekkehard Mai (Hg.), Das Capriccio als Kunstprinzip. Zur Vorgeschichte der Moderne von Arcimboldo und Callot bis Tiepolo und Goya. Malerei - Zeichnung - Graphik, Ausstellungskatalog, Wallraf-Richartz-Museum Köln, Kunsthistorisches Museum Wien, Mailand 1996, 35-53.

[15] Ein aktueller Aufsatz von Alexandra Libby widmet sich den Trompe-l'œil-Darstellungen Gijsbrechts und beleuchtet dabei Fragen nach Innovation und künstlerischer Identität, vgl. Alexandra Libby, Innovation and Identity in Cornelis Gijsbrechts' A Hanging Wall Pouch, in: Artibus et Historiae 38/75 (2017), 207-223.

[16] Bernhard Siegert, Der Blick als Bild-Störung Zwischen Mimesis und Mimikry, in: Claudia Blümle / Anne von der Heiden (Hg.), Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, Zürich 2005, 103-126, 115ff.

 

Bibliografie

Celeste Brusati, Stilled Lives. Self-Portraiture and Self-Reflection in Seventeenth-Century Netherlandish Still-Life Painting, in: Simiolus: Netherlands Quarterly for the History of Art 20 2/3 (1990/1991), 168-182.

Sybille Ebert-Schifferer, Die Geschichte des Stilllebens, München 1998.

Claudia Fritzsche, Der Betrachter im Stillleben. Raumerfahrung und Erzählstrukturen in der niederländischen Stillebenmalerei des 17. Jahrhunderts, Weimar 2010.

Ernesto Grassi, Die Macht der Phantasie. Zur Geschichte des abendländischen Denkens (Athenäums Taschenbücher 173), Frankfurt am Main 1992.

Eckhard Hollmann / Jürgen Tesch, Die Kunst der Augentäuschung, München 2004.

Johanna Hornauer, Desillusioniert? Eine kurze Geschichte der Illusionismus-Theorie, in: Sandra Pisot / Johanna Hornauer (Hg.), ILLUSION. Traum. Identität. Wirklichkeit, Ausstellungskatalog, Hamburger Kunsthalle Hamburg, Berlin 2024, 40-49.

Berthold Hub, Platon und die bildende Kunst: eine Revision, in: PLATO: The Electronic Journal of the International Plato Society, 9 (2009), 1-82, URL: http://hdl.handle .net/10316.2/42200, (04.04.2025).

Konstanze Krüger, Blumenstillleben, in: Konstanze Krüger (Hg.), Stillleben: zeitlose Schönheit. Geschichte des Stilllebens, Ausstellungskatalog, Staatliche Kunstsammlung Dresden, Berlin 2023, 108-119.

Konstanze Krüger, Vanitas, in: Konstanze Krüger (Hg.), Stillleben: zeitlose Schönheit. Geschichte des Stilllebens, Ausstellungskatalog, Staatliche Kunstsammlung Dresden, Berlin 2023, 140-149.

Patrick Mauriès (Hg.), Trompe-l’œil. Das getäuschte Auge, Köln 1998.

Uta Neidhardt, Maria van Oosterwijck (Nootdorp 1630-1693 Uitdam), in: Stephan Koja / Iris Yvonne Wagner (Hg.), Aus dem Schatten: Künstlerinnen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Ausstellungskatalog, Dresden 2023, 116f.

Margot Rauch, 1.7 Vanitas-Stillleben, in: Wilfried Seipel (Hg.), Die Entdeckung der Natur. Naturalien in den Kunstkammern des 16. und 17. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog, Schloss Ambras Innsbruck, Kunsthistorisches Museum Wien, Wien 2006, 24- 26.

Bernhard Siegert, Der Blick als Bild-Störung Zwischen Mimesis und Mimikry, in: Claudia Blümle / Anne von der Heiden (Hg.), Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, Zürich 2005, 103-126.

Martina Sitt, Spiegel geheimer Wünsche, in: Martina Sitt / Hubertus Gaßner (Hg.), Spiegel geheimer Wünsche: Stillleben aus fünf Jahrhunderten, Ausstellungskatalog, Hamburger Kunsthalle Hamburg, München 2008, 39- 50.

Philip Ursprung, Augenwischerei. Trompe-l`oeil einst und jetzt, in: Martina Sitt / Hubertus Gaßner (Hg.), Spiegel geheimer Wünsche: Stillleben aus fünf Jahrhunderten, Ausstellungskatalog, Hamburger Kunsthalle Hamburg, München 2008, 25-37.

 

 

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