Der Einfluss der französischen Kulturpolitik 1945–1955 auf das literarische und kulturelle Leben in Vorarlberg und Tirol

 

„Einige meiner Freunde bewohnten eine für die Zeitläufte ziemlich feudale Villa im Innsbrucker Saggen, und ich zog zu ihnen.
Wir wurden bald zu einer Kontakt- und Übernachtungsstelle für alle möglichen und unmöglichen Menschen. Durchreisende baten um Obdach, die ersten Schweizer Sendboten erschienen, und dann kamen die französischen Kulturoffiziere, Susini, Rouvier und Maurice Besset, der zwölf Jahre im Land bleiben und unendlich viel für die Künstler und Intellektuellen Tirols und Österreichs tun sollte. Patrick Smith, der BBC-Mann für Österreich, pflegte prinzipiell nur bei uns zu nächtigen. Dieser fröhliche Ire war ein stets willkommener Gast, brachte er doch außer seinem einnehmenden Wesen reichlich Whisky, Zigaretten und Corned Beef mit. Auch Otto und Fritz Molden tauchten auf und bereiteten das erste Alpbacher College vor. […]
In Innsbruck grassierte damals eine ziemliche kulturelle Euphorie. Jedermann begann irgend etwas, niemand hatte Geld, niemand hatte Erfolg, also gab es keinen Neid unter den Künstlern, Pläne wurden gewälzt, Zeitschriften gegründet, die nie das Licht der Welt erblickten, man hatte unbeschränkt Zeit, pflegte Kontakte und half sich gegenseitig. Das Theater, ansonsten ein biederer Hühnerstall, war belebt von Paradiesvögeln. Paula Wessely, Attila Hörbiger, Fred Liewehr, Richard Eybner und Gustl Waldau traten da auf. Das ‚Wiener Werkl‘ war auch nach Tirol geflüchtet und eröffnete hier ein Kabarett, und Jean Rouvier organisierte eine große Ausstellung französischer Meisterzeichnungen aus der Albertina.“[1]

So erinnert sich der Tiroler Zeichner Paul Flora an die Atmosphäre der unmittelbaren Nachkriegszeit in Innsbruck. Wie viel von dieser Stimmung von den Aktivitäten der französischen Besatzungsbehörde maßgeblich beeinflusst wurde, wird aus seinen Zeilen bereits sichtbar. Denn die Verbreitung der französischen Kunst und Kultur und die Förderung regionaler Kultur waren einige der zentralen Anliegen der französischen Besatzer. Ihre Kulturpolitik intendierte mit zahlreichen Veranstaltungen eine Öffnung hin zu modernen französischen Kunstströmungen und regte damit einen Dialog der regionalen Kunst- und Kulturszene mit diesen aktuellen Tendenzen an.
Die Besatzung mit dem französischen Oberbefehlshaber General Béthouart wollte dabei aber nicht als aggressive Macht auftreten, sondern den Weg Österreichs in die Demokratie (auch) durch die Stimulation des kulturellen Lebens erleichtern.

Ein Niederschlag dieser Bestrebungen fand sich – wie auch Flora erinnert – unmittelbar im Theater, das bald nach 1945 damit begann, moderne französische Autoren und Stücke zu spielen. Neben Jean Giraudoux („Der trojanische Krieg findet nicht statt“ 1951) stand immer wieder auch Jean Anouilh („Antigone“ 1948/49, „Medea“ 1952 oder „Leocadia“ 1953) am Programm, daneben wurden katholische Autoren wie Paul Claudel, François Mauriac und Georges Bernanos gespielt, und im Tiroler Landestheaters wurde 1949 sogar Jean Paul Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ als Gastspiel aufgeführt. Dass Impulse dabei vor allem auch von „Durchreisenden“, wie sie Flora nennt, ausgegangen sind, zeigt sich beispielsweise an den Tätigkeiten der aus Wien stammenden Schauspielerin Traute Foresti, die 1948 in Innsbruck das Ring-Studio gegründet und vielen jungen Schauspielerinnen, Schauspielern, Künstlerinnen und Künstlern wie Axel Corti, Julia Gschnitzer oder Dietmar Schönherr die Welt des modernen Theaters eröffnet hat. Neben einheimischen jungen Autorinnen und Autoren, wie 1949 beispielsweise die Uraufführung von Raimund Bergers Stück „Papierblumenfrühling“, spielte das Ensemble 1950 auch Anouilhs „Antigone“.
An einen anderen Durchreisenden erinnert sich Birgit Schowingen-Ficker, Mitarbeiterin in der Bibliothek des Institut Français. Paul Celan machte auf seiner Reise nach Paris bei ihrem Vater Ludwig von Ficker halt, besuchte mit ihm das Grab Trakls am Mühlauer Friedhof und kam auch in Kontakt mit dem Institut Français. 

 

„Als Paul Celan auf der Reise von Wien nach Paris in die Bibliothek eintrat – an jenem Vormittag kannte ich noch nicht seine Bedeutung als Dichter – wurde mir ein starkes Erlebnis zuteil: Freudig wurde mir bewußt, daß es die Welt noch gibt, die zu meiner Kindheit und Jugend, zu meinem Leben, gehörte, die der sensitiven feinen jüdischen Erscheinungen, die das geistige Leben in Österreich bereicherten. […] Am selben Abend noch las er Lilly v. Sauter, Frau Porten (einer Journalistin) und mir die ‚Todesfuge‘ vor.“[2]

Manuskript „Der Sand aus den Urnen“. Der Buchbinder schnitt die Manuskriptseiten ohne Rücksicht auf den Text einfach ab. (Brenner-Archiv, Nachlass Ficker)

 

Celan schickte ein Manuskript seines ersten Buches „Der Sand aus den Urnen“ auch an Ludwig von Ficker, seine Gedichte wurden erstmals in der von Otto Basil herausgegebenen Zeitschrift „Plan“ 1948 veröffentlicht. Celans Gedichte hinterließen in vielen Werken junger Autorinnen und Autoren ihre Spuren, so auch in den Gedichten des jungen Tiroler Schriftstellers Walter Schlorhaufer. Zusammen mit seinem Schriftstellerfreund, dem später als Kabarettisten bekannt gewordenen Otto Grünmandl, trat er u. a. mit Veröffentlichungen in der von Hans Weigel herausgegebenen Anthologie „Stimmen der Gegenwart“ an eine breitere literarische Öffentlichkeit.

 

Texte von Walter Schlorhaufer und Otto Grünmandl in „Stimmen der Gegenwart“ 1953

Die junge literarische Szene Österreichs konzentrierte sich allerdings auf Wien, auch weil es dort Publikationsmöglichkeiten gab, Zeitschriften, Anthologien und Verlage arbeiteten hauptsächlich in der Hauptstadt. In Vorarlberg und Tirol wurden die Listen von Neuerscheinungen weiterhin von Namen wie Eugen Andergassen, Natalie Beer oder Richard Beitl, Anna Maria Achenrainer, Gertrud Fussenegger oder Josef Leitgeb dominiert – bezeichnenderweise ist keiner von ihnen nach 1912 geboren. Wie wichtig daher für das Schreiben junger Autorinnen und Autoren damals Mentoren und Förderer wie Hans Weigel, Otto Basil oder in Tirol Ludwig von Ficker waren, zeigt der Briefwechsel von Schlorhaufer und Grünmandl mit Rudolf Felmayer:

 

Hall, 22.III.49

Sehr geehrter Herr Felmayer,
[...] In der Beilage sende ich Ihnen 23 Gedichte. Sollte es Ihnen möglich sein und sollten Sie es für gut befinden das eine oder andere einer Veröffentlichung zuzuführen so bitte ich Sie mir darüber Nachricht zukommen zu lassen. Vor allem aber bitte ich Sie um 2 Dinge, einmal um Ihr persönliches Urteil und zum andern, dass Sie die Gedichte gelegentlich Herrn Jirgal zeigen.
Von den Prosaarbeiten ist außer der, in deren Besitz Sie ja bereits sind keine spruchreif. Ich werde Ihnen jedoch schreiben, sobald es soweit ist.
Bitte richten Sie Frau Busta herzliche Grüße von Schlorhaufer, Zwetkoff und mir aus und teilen Sie ihr mit, dass ich den beiden ihre Adresse bekanntgegeben habe.
Wenn ich das nächstemal nach Wien komme, werde ich Sie gleich besuchen.
Bitte antworten Sie mir, herzlichst grüßt Sie Ihr Otto Grünmandl[3]


Das Institut Français in der Kapfererstraße (Foto: Arno Gisinger. In: Barbara Porpaczy: Frankreich–Österreich 1945–1960. Kulturpolitik und Identität. Innsbruck 2002 (=Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte hg. von Rolf Steininger Bd. 18), S.174.)
Auch wenn beide Autoren später beruflich andere Wege einschlagen sollten, so war es wohl auch das offene kulturelle Klima in Innsbruck, das jungen Schreibenden den Weg in die Öffentlichkeit erleichterte.
Der Treffpunkt der jungen Künstlerinnen und Künstler war zweifelsfrei das am 8. Juli 1946 eröffnete und von Maurice Besset mit großem Enthusiasmus geleitete Institut Français d’Innsbruck. Zusammen mit Besset vermittelten u. a. die bereits
Buchbestellung des Institut Français Innsbruck 1948 (Ministère des Affaires étrangères et européennes, Bureau des archives de l’Occupation française en Allemagne et en Autriche, Colmar, AUT 186/1a)
erwähnte Birgit Schowingen-Ficker, vor allem aber die Kunsthistorikerin, Journalistin, Übersetzerin und Schriftstellerin Lilly Sauter moderne französische Kunst und Literatur. Sprachkurse, Lesungen und Vorträge zu französischer Literatur, vor allem aber die umfangreichen Bestände an französischen Büchern führten zahlreiche Besucher in die Bibliothek, wovon die teilweise noch erhaltenen ‚fiches de prêt‘ (= Entlehnkärtchen) zeugen. Monatlich versorgte die Militärregierung die Institute in Österreich mit Listen der neuesten Publikationen, aus denen die Leiter Bücher auswählen und bestellen konnten. So entstand im Laufe der Jahre eine ansehnliche Bibliothek mit aktuellsten französischen Publikationen, wovon auch die Leihbüchereien z.B. in Bregenz oder Kitzbühel profitierten.
Maurice Besset scheute sich auch nicht, kontroversielle Strömungen, wie z. B. den französischen Existenzialismus, auf das Programm des Instituts zu setzen. Emmanuel Mounier, Herausgeber der Zeitschrift „Esprit“ sprach dort in einem Vortrag 1949 über den Existenzialismus, Besset selbst 1950 über Sartre als Dramatiker.

Dass eine solche Atmosphäre Künstlerinnen und Künstler anregte, sich selbst intensiv mit französischer Literatur und Kunst auseinanderzusetzen, davon zeugen die zahlreichen Übersetzungen Lilly Sauters aus dem Französischen (von Aragon, Balzac, Claudel, Péguy, Prévert oder Supervielle). Bemerkenswert ist auch die deutsche Version des Weltklassikers „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry: Die Übersetzung entstand nämlich im Innsbruck der Nachkriegsjahre, Josef Leitgeb und seine Frau Grete verfassten den Text, der bis heute in höchsten Auflagen verkauft wird.
Neben den von der Militärregierung herausgegebenen Informationsorganen entstand in Zusammenarbeit mit Tiroler Verantwortlichen in Innsbruck die anspruchsvolle Kulturzeitschrift „Wort und Tat“ – neben dem „silberboot“ aus Salzburg die einzige Zeitschrift Westösterreichs, die sich explizit und ausführlich mit französischer Kunst, Kultur und Literatur beschäftigte und so neben Zeitschriften wie „Plan“, „Wort und Wahrheit“ oder „Der Turm“ zu stellen ist, die ihre Leserinnen und Leser ebenfalls immer wieder mit französischer Literatur in Kontakt brachten.

 

Wie groß die Bedeutung war, die die „Tiroler Franzosen“ der Kunst beimaßen, zeigt sich auch in dem Umstand, dass bereits zur Eröffnung des Institut Français eine Ausstellung von „Chefs d’oeuvre du Musée d’art moderne de Paris“ gezeigt wurde. Oberbefehlshaber General Béthouart wirkte mit großer Sensibilität sogar persönlich an der Auswahl der Werke mit, die „nicht zu progressiv“ sein sollten, damit die Ausstellung mangels lokaler Moderne-Tradition keine Ablehnungsreaktionen provozierte. Dabei wurde wohl auch ein wenig übertrieben, da man nun in der Ausstellung keine Beispiele surrealistischer Kunst oder abstrakter Malerei zu sehen bekam. Die 37 Werke repräsentierten vielmehr die längst vergangene Pionierphase der Moderne und stammten von Maurice Denis, Fernand Léger, Henri Matisse und anderen Spätimpressionisten, Fauvisten und Kubisten. Die lokale moderne Kunstszene, die ihre Vorbilder teilweise sogar schon während der NS-Zeit in Frankreich gesucht hatte, fühlte sich allerdings bestätigt. Beispielsweise hatte die Malerin Gerhild Diesner 1942/43 bei dem in der Schau ebenfalls vertretenen André Lhote studiert und war nun, gemeinsam mit Max Weiler oder Paul Flora, damit beschäftigt, der Nachkriegsmoderne in Tirol eine radikal neue Kunst zu schenken, die Österreich nach den vergeudeten Jahren zwischen 1934 und 1945 letztendlich wieder in Gleichklang mit der internationalen Moderne bringen sollte.
Zudem war diese erste Veranstaltung des Institut
Français in Innsbruck eine große Sensation, da z. B. Matisse, Dufy, Bonnard und Léger bisher noch nie im Original zu sehen gewesen waren. Auch die 1948 stattfindende Schau „Künstler aus Tirol“ war bemerkenswert, da sie – neben der Präsentation von Werken von Gerhild Diesner, Bodo Kampmann, Helmuth Rehm, Paul Flora, Fritz Berger, Werner Scholz, Ilse Glaninger-Huber, Walter Honeder, Jakob Lederer und Franz Santifaller – nicht davor zurückschreckte, durch die Präsentation von Entwürfen zu Max Weilers umstrittenen Fresken in der Theresienkirche auf der Hungerburg ganz direkt in eine damals mit größter Intensität ausgetragene öffentliche Kulturdebatte einzugreifen.[4]
Weitere wichtige Ausstellungen, die eine direkte Verbindung zwischen der österreichischen und der französischen modernen Kunst herstellten, waren unter anderem „Die Apokalypse in der französischen Kunst“ (1946), „Souvenirs
Français – Frankreich–Österreich aus Tiroler Kunstsammlungen“ (1947), „Religiöse Graphik von Georges Rouault“ und „Honoré Daumier“ (beide 1948), „Musik und Bildende Kunst“ und „Meister französischer Graphik der Gegenwart“ (beide 1949), „Wotruba, Léger, Matisse, Rouault“ (1950), „1940–1950. Französisches Kunstschaffen aus 10 Jahren“ (1950), „Moderne religiöse Graphik“, „Malerei, Graphik, Plastik aus Frankreich, Italien, Österreich“, „Wandteppichkunst und Graphik“ und „Auguste Rodin – Zeichnungen und Aquarelle“ (alle 1951), „Art Spontané – Spontane Kunst: Kinderzeichnungen aus Stadt und Land aus Frankreich und Österreich“ (1952), „Kurt Moldovan“ (1954), „Georges Rouault“ (1955), „Rudolf Purner – Menschen und Straßen in Paris“ (1956), „Le Corbusier“ (1957), „Reiseeindrücke. Tiroler Künstler in Frankreich“ (1957), „Picasso: Graphik“ (1958), „Französische Kunst aus privaten Tiroler Sammlungen“ (1959) sowie – als krönender Abschluss der Aufholperiode – die Schau „Ecole de Paris“ mit Werken von 50 Künstlerinnen und Künstlern von Bonnard bis Bissière.

General Béthouart (links) und Maurice Besset (rechts) in St. Christoph (In: Horizons 46)
Ein anderer wichtiger Eckpfeiler der französischen Kulturpolitik und des Institut Français war die Schul- und Hochschulpolitik. Vor allem der Jugend dieser Zeit fehlte das geistige Fundament für eine Auseinandersetzung mit Literatur und Kunst, hatten sie doch die letzten Jahre im geistigen Milieu des Nationalsozialismus verbracht. Neben dem Unterricht in französischer Sprache und ihrer Kultur, der die Jugend wieder dem „europäischen Geist“ zuführen sollte, wurden die Jugendlichen bei verschiedensten Aktivitäten zusammengeführt, um den Austausch auch mit Teilnehmern und Teilnehmerinnen aus anderen Ländern zu fördern.
Neben den vom Institut Français organisierten internationalen Hochschulwochen in St. Christoph und Pertisau, bei denen sich in den Jahren 1945 bis 1958 Literaten, Universitätsangehörige, Professoren und Studenten aus ganz Europa zusammenfanden, geht beispielsweise auch das Internationale Forum Alpbach (ebenfalls seit 1945) auf die Bemühungen der Franzosen zurück.
Während der 2. Tagung der Internationalen Hochschulwochen in Pertisau 1948 wurde André Gide eingeladen, eine Rede an die Jugend zu halten, die, von Lilly Sauter übersetzt, auch in den Tiroler Nachrichten abgedruckt wurde. 

 

André Gides Rede in Pertisau 1946 (In: Tiroler Nachrichten, 24.8.1946)


Neben diversen Preisen (z. B. der Österreichische Graphikwettbewerb) und Stipendienvergaben für junge Tiroler Künstlerinnen und Künstler (Wilfried Kirschl, Rudolf Purner, Kurt Moldovan, Fritz Berger, Franz Krautgasser, Franz Schunbach, Anton Tiefenthaler, Max Weiler u. a.), die Aufenthalte in Paris ermöglichten, gab es also vor allem vom Institut Français aus etliche Bemühungen, die junge Literatur und Kunst in Tirol und den Austausch mit der französischen Kultur zu fördern. Wie sehr sich z. B. diese Stipendien auf das Kunstschaffen in Tirol ausgewirkt haben, beweist nicht zuletzt die Tatsache, dass es sich bei diesen Namen um die spätere künstlerische Elite des Landes handelt.

Wichtigste Mitarbeiterin von Maurice Besset in diesen Jahren war Lilly Sauter, deren Schaffen nicht auf ein Arbeitsgebiet eingrenzbar und deren Werk nicht auf ein Genre festlegbar ist. Sie war vielmehr zwischen den Künsten zuhause und zwischen den Sprachen, sie vermittelte über die Grenzen hinaus Kultur, Kunst und Literatur. Ihr Interesse an oft weit auseinander liegenden Wissensgebieten sowie ihre Kenntnisse der modernen Künste und Schriften waren der Grund, warum Anfragen für Vorträge im In- und Ausland, Übersetzungen, Buch- und Theaterbesprechungen, Beiträge für Ausstellungskataloge und Führungen von vielen Seiten an sie herangetragen wurden. Lilly Sauter wurde somit beispielsweise auch Weilers Ansprechpartnerin im oben angesprochenen Fresken-Streit.

 

Brief Max Weiler an Lilly Sauter (Brenner-Archiv, Nachlass Sauter)


Als Mitarbeiterin des Institut Français war Lilly Sauter in den Jahren 1950 bis 1958 gemeinsam mit Direktor Maurice Besset nicht nur für die Vorbereitung und Gestaltung von Lesungen und Ausstellungen zuständig, sondern auch für die Organisation der Internationalen Hochschulwochen in St. Christoph am Arlberg. Außerdem war sie 1946/47 Mitherausgeberin der Internationalen Monatsschrift „Wort und Tat“ mit G. M. Bourgeois in Zusammenarbeit mit dem Französischen Kulturinstitut (Redaktionsanschrift gemäß der Ausrichtung nach Westen in Innsbruck, in Wien und Paris), die ein Beispiel für internationale Solidarität sein wollte. „Diese Jahre galten in zweifacher Hinsicht der Vermittlung: einerseits zwischen den beiden Sprachen, anderseits zwischen der modernen Kunst und dem Publikum.“[5]
Diese Vermittlertätigkeit ließ sie auch in ihr eigenes schriftstellerisches Werk einfließen und fand dabei über den Weg der Kunst zu einer neuen Form ihrer Lyrik. Schon in ihrem ersten Gedichtband „Spiegel des Herzens“ aus dem Jahre 1948 zeigt sich ihre Vorliebe, nach Bildvorlagen der Malerei zu schreiben. In der kurz nach ihrem Tod 1972 von ihr noch zusammengestellten Lyriksammlung in der Kulturzeitschrift „das Fenster“ finden sich viele weitere Gedichte, die von den diversen im Institut Français ausgestellten Kunstwerken „ihrer“ Maler Dufy, Picasso, Léger, Mirò, Braque, Manessier inspiriert waren. Ihr Anliegen war dabei aber nicht die klassische Beschreibung eines Bildes, ihr ging es vielmehr darum, die Inspiration, die von den Werken ausging, zu verschriftlichen bzw. die Technik der Kunstgebilde für ihre ganz eigene Form der Poesie „nachzuahmen“.

 

In memoriam Lilly von Sauter. In: das Fenster 10/1972, S. 893

Mädchenbildnis
(nach Georges Braque)

Halb zugewandt, halb abgekehrt,
licht hingegeben, schwarz verwehrt,
halb Schauende und halb geschaut,
unsäglich fremd und tief vertraut,
das Jetzt durchschnitten vom Profil
uralter Formen Widerspiel,
Mund, der versagt und der verspricht,
ganz Rätsel und nur halb Gesicht,
ganz Frage, die man zweimal fragt,
ganz Antwort, doppelt ausgesagt,
in sich zerteilt, in sich Musik,
ganz Widerspruch, ganz strenges Glück.

 

Wachende Frau
(Variationen zu Zeichnungen von Picasso)

I
Mein Wachen ist still
und dein Schlafen ist unversehrt.
Ich halte die Lider gesenkt
und dein Bild ist in meinen Gedanken.
Du machtest die Augen zu
und mein Bild schwebt am Rand deiner Träume.
Die Linie, die mich umschließt,
bewegt sich im Hauch deines Atems,
im Licht, das dein Dunkel erhellt,
durchdringt meine Schönheit den Schlaf.

II
Meine Schönheit ist einsam
und über das Meer deines Schlafes
gleitet ihr Licht wie der Schein eines fernen Leuchtturms.
Ich wache am Ufer und sehe dein fremdes Gesicht an.
Nichts trennt uns rascher
als nicht mehr geteilte Nähe.
Du bist allein in die Wildnis der Träume gegangen,
ich bin allein in das Rätsel des Wachen gebannt.

Auch wenn über Kontakte der jungen Vorarlberger Künstlerinnen und Künstler nach Innsbruck und zum Institut Français wenig bekannt ist, so kann man doch davon ausgehen, dass sie Impulse aus der französischen Kunst bei ihren Aufenthalten in Innsbruck und auch in Wien und durch ihre Kontakte mit anderen jungen Künstlern verarbeitet haben. So schreibt der Bildhauer und Maler Erich Ess in einem Brief an Max Riccabona:

 

Wien, 28.X.57.

Lieber Herr Dr. Riccabona!

[…] Mit Ihrem freundlichen Empfehlungsschreiben war ich letzte Woche bei Herrn v. Auer im Österreichischen College. Er empfing mich sehr freundlich, las aufmerksam ihren Brief, und unterstrich den Namen Wacker. Er erkundigte sich nach Ihnen, überlegte, was er für mich tun könnte, war leider etwas knapp an Zeit, so daß er versprach, mir innerhalb von 14 Tagen zu schreiben und dann eine Zusammenkunft zu vereinbaren, bei der alles ausführlich erörtert werden soll. Ich sehe dieser Zusammenkunft schon sehr gespannt entgegen.
Einen Ersatz für die Zusammenkünfte und Gespräche mit Ihnen haben wir hier noch nicht gefunden, das war auch nicht zu erwarten. Wir müssen uns also anders behelfen. Man kann schon manches Anregende und Interessante hier finden, aber auf etwas größeren Umwegen. […]
In Theater und Konzert wäre manches Verlockende, aber das sind fast durchwegs sehr teure Genüsse. Überhaupt ist Wien sehr teuer geworden, ich habe es in dem Punkt etwas unterschätzt, aus Optimismus.
Einmal habe ich Claus Pack getroffen, mich aber nur kurz mit ihm unterhalten. Er erscheint mir weniger gequält als im Frühjahr, soll viel gearbeitet haben. Ich denke, daß ich seine Produktion nächstens zu sehen bekomme. Jedenfalls ist er ganz gegen den Tachismus.
Wotruba habe ich noch nicht gesehen, dafür aber seine neuesten Arbeiten in fotografischer Abbildung. Er ist zweifellos ein großer Bildhauer, wenn auch kein großer Galeriedirektor. Marini scheint Ihnen ja eher zu liegen als Wotruba, das liegt wohl daran, daß er viel mehr Grazie hat.
Eine Ausstellung von Grebmer, Khüny und mir in der Galerie Würthle wird vielleicht bald möglich sein, jedenfalls sprach Kuchling davon.
Hat Khüny schon die Hausdächer von Ihrer Kanzlei aus gezeichnet? Ich hoffe, daß Khüny einmal nach Wien kommen kann, solange ich hier bin. Ein solcher Ausflug könnte gut für ihn sein. Auch Salzmann sprach davon, einmal nach Wien zu kommen. Er ist übrigens hier gar nicht unbekannt. […]

Mit den besten Grüßen Ihr Erich Ess[6]

Max Riccabona (1915–1997) war wohl „die“ Kristallisationsfigur in der kulturellen Szene Vorarlbergs nach 1945. Wenn er auch selbst damals noch keine literarischen Arbeiten veröffentlicht hatte, so orientierte er sich Mitte der 1950er Jahre doch schon stark an avantgardistischen Schreibweisen und stellte so eine Ausnahme im sonst eher konservativen Literaturbetrieb Vorarlbergs dar. Zudem brachte er junge Künstler wie Erich Ess, Claus Pack, Walter Khüny oder Walter Salzmann mit modernen Kunstströmungen in Kontakt. Auch junge Vorarlberger, die in Innsbruck studierten, z.B. Oscar Sandner oder Gertrud Ettenberger, brachten entscheidende künstlerische Impulse nach Vorarlberg mit. An den 1946 erstmals stattfindenden Bregenzer Festspielen waren in der Planung maßgeblich junge Künstler beteiligt. Der Einfluss moderner französischer Kultur und Literatur auf die Programmgestaltung der Festspiele ist zwar verschwindend gering, die französische Militärbehörde unterstützte aber die Idee und wieder waren es „Durchreisende“, vielfach Mitglieder des Burgtheaters in Wien, die an der Gestaltung mitwirkten. Die einzige Theateraufführung 1946 war das Stück „Die Sieben gegen Theben“ des durch seine NS-Vergangenheit umstrittenen Max Mell – was nicht gerade für Aufbruch Richtung Moderne steht. Doch die Festspiele und das ebenfalls 1945 gegründete Vorarlberger Landestheater (später Kornmarkttheater), das zwar nur wenige Stücke französischer Autoren aufführte (Paul Claudel, Marcel Pagnol und Beaumarchais), aber doch auch schon 1956/57 Jean-Paul Sartres „Schmutzige Hände“, die Arbeit des Bregenzer Kulturrats Arnulf Benzer und die liberale kulturpolitische Einstellung des Bürgermeisters Tizian stellten kleine Schritte in Richtung Moderne dar, die sich später in der Gründung der „Gruppe Vorarlberger Kulturproduzenten“ und der „Randspiele“ in den 1970er Jahren öffentlich manifestierten.

 

Franzi Gehrer (Frau des Bildhauers Emil Gehrer), Claudia Högler (Frau des Malers und Photographen Rudolf Högler), Dr. Erwin Heinzle (szt. Vorarlberger Landesmuseum, später Landeskonservator für Vorarlberg, Präsident der Berufsvereinigung der bildenden Künstler Vorarlbergs 1952–1958), Architekt Kurt Klaudy (Stadtplanung für Bregenz und Bludenz), Claus Pack (Maler, damals Feldkirch), Frau Kludy, Emil Gehrer (Bregenz) (v. l. n. r.)
(Foto: Rudolf Högler. In: Katalog des Landesmuseums Vorarlberg. Max Haller. Bregenz 1992, S. 135)


[1] Paul Flora: Damals. In: Vom Reich zu Österreich. Kriegsende und Nachkriegszeit in Österreich erinnert von Augen- und Ohrenzeugen. Salzburg 1983, S. 204–213.
[2] Brenner-Archiv, Nachlass Birgit Schowingen-Ficker, unveröffentlichtes Manuskript.
[3] Österreichische Nationalbibliothek Wien, Handschriftenabteilung, Nachlass Felmayer.
[4] Siehe dazu auch Barbara Hoiß, Sandra Unterweger: Ein Lokalaugenschein in Tirol 1900–1950. In: Stefan Neuhaus, Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen 2007, S. 314–343.
[5] Vera von Grimm: Anna Maria Achenrainer und Lilly von Sauter. In: Tirol, 42 / Sommer 1973, S. 52–57, hier S. 56.
[6] Brenner-Archiv, Nachlass Max Riccabona

 

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