Panel 7: Narrative und Deutungen der Corona-Krise

Martin Kriechbaum

Abstract

Mit Narrativen und Deutungen über die Corona-Krise sprechen, sie verstehen und bewältigen?

Dieses Panel befasste sich unter dem Vorsitz des Wirtschafts- und Sozialhistorikers Wolfgang Meixner (Innsbruck) mit Narrativen und Deutungen der Corona-Krise und damit mit dem Kern dieser Tagung. Es beschäftigte sich mit jenen großen Fragen, die sich unzählige Wissenschaftler*innen nicht nur an diesen zwei Tagen stellten: Was können die Geistes- und Kulturwissenschaften zum Verstehen der Corona-Krise beitragen? Welche Deutungsangebote wurden und werden gemacht, um das Geschehen der letzten Monate in einen größeren Zusammenhang einzuordnen und diese Zeit begreifbar zu machen? Welche Chancen, aber auch Gefahren birgt diese Erfahrung für unsere Gesellschaft?

Dirk Rupnow, Dekan der Historisch-Philosophischen Fakultät (Innsbruck) und Mitorganisator der Tagung, reflektierte in seinem Vortrag über einige der bereits im Frühjahr zu Beginn der Krise angestellten und häufig verfrühten Deutungen von Journalist*innen und Intellektuellen. Besonders thematisiert wurden die Beschreibung der Krise als der schwierigsten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und die Rolle des historischen Vergleichs mit der Spanischen Grippe 1918/19.

Die Krise im Alltag der Menschen untersuchte Silke Meyer, Prof.in für Europäische Ethnologie (Innsbruck), anhand von Erzählungen über die Corona-Zeit, die nicht zuletzt die wichtige Funktion der Sinnstiftung in der Krise übernehmen. Sie analysierte narrative Muster, die den Alltagsdiskurs bestimmten, und verdeutlichte ihre Überlegungen anhand eines ausgewählten Narrativs, der Retrotopie. So wurde beispielsweise der „Lockdown“ in der Antwort auf einen Schreibaufruf in eine positiv erlebte Stille umgedeutet, ein neues Biedermeier, das als Fluchtpunkt die Vergangenheit kennt, die gute alte Zeit. Diese positiv besetzte Vergangenheit wird biographisch gleichgesetzt mit der eigenen Kindheit, die dadurch in ein positives Licht gerückt und von einer negativ erlebten Gegenwart abgegrenzt wird. In der Retrospektive spiegeln sich die Sehnsucht nach Solidarität und Kontinuität wider. Insofern knüpft dieses konservativ-bürgerliche Narrativ auch an ein Narrativ der Vergemeinschaftung („Tirol haltet zusammen!“) an. Die Krise wird auch zu einer Pause umgedeutet, die uns allen guttut.

Diesen Einblick von Silke Meyer in ein Corona-Narrativ empfand ich als besonders bewegend, weil damit die menschliche Notwendigkeit gezeigt wurde, mit Erzählungen auf Situationen zu reagieren und die eigenen Erfahrungen in einen Sinnhorizont (des Kollektivs) einzuordnen. Dies verleitet – im positiven Sinn – dazu, eigene Erfahrungen und Erzählungen zur Corona-Krise zu verorten bzw. eine solche Verortung zu versuchen. Andererseits enthält das geschilderte Narrativ der Retrotopie auch den Wunsch nach Gemeinschaft und die Hoffnung auf eine neue Welt – orientiert an der eigenen Kindheit – für die eigenen Kinder in der Zukunft. Insofern frage ich mich, ob dieses Narrativ trotz der Ausrichtung auf die Vergangenheit und eigene Kindheit nicht auch implizit die Frage nach dem Bewahrenswerten und Veränderbaren stellt. Dies würde – trotz der gezeigten Rückwärtsgewandtheit – immer auch die Chance auf Wandel bedeuten.

Claus Oberhauser (Innsbruck), Geschichtsdidaktiker und Institutsleiter an der Pädagogischen Hochschule Tirol, befasste sich anschließend mit Erzählmustern, die verwendet werden, um die Krise als ein Machwerk böser Mächtiger zu inszenieren. Er erklärte, warum es in Krisensituationen zu einer Häufung und Verdichtung bzw. Vernetzung von Verschwörungstheorien bzw. -mythen kommt und welche Funktion diese erfüllen. Oberhauser konstatierte, dass Verschwörungstheorien zum Menschsein in der Krise dazugehören und eine von mehreren möglichen Bewältigungsstrategien darstellen. Sie sind ein Narrativ der moralischen Empörung und zeigen die Probleme unserer Gesellschaft in einer zugespitzten Art und Weise. Schließlich wies er darauf hin, dass die gesellschaftlichen Probleme und eine gescheiterte Identitätspolitik, die er mit Ruth Wodak als Politik mit der Angst (Edition Konturen 2016) interpretierte, der Nährboden für dieses tiefverwurzelte Misstrauen in das System sind.

Andreas Müller, Professor am Institut für Europarecht und Völkerrecht (Innsbruck), zeigte auf, dass die Begriffe Rechtsstaat und Überwachungsstaat zwar oft als Gegensätze empfunden werden, ihr gegenseitiges Verhältnis allerdings wesentlich komplexer geartet ist, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Denn die Gewährleistung der Menschenrechte sieht auch eine staatliche Schutzpflicht etwa bei Gefahren für die menschliche Gesundheit vor, welche zu einer Erweiterung des staatlichen Handlungsspielraums führt. Dass die staatliche Macht hier menschenrechtliche Schutzpflichten gegenüber konkreten Individuen wahrnimmt, macht die Grenzziehungen in diesem Bereich besonders schwierig und verlangt neben selbstbewussten Parlamenten und unabhängigen Gerichten nach einem öffentlichen Diskurs über die richtige Balance. Denn der Staat ist der größte Gefährder und Beschützer der Menschenrechte zugleich.

(Martin Kriechbaum)

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