Panel 14: (Dis-)Ableism in der Krise

Nadja Volderauer

Abstract

(Dis-)Ableism in der Krise

Das Panel zum Thema „(Dis-)Ableism in der Krise: Menschen mit Behinderung zwischen Fürsorgeversprechen und Utilitarismus“, das im Zuge der „Corona Verstehen“-Tagung abgehalten wurde, behandelte den Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen im Zuge der Krise. Herangezogen wurden dafür zwei Expertenvorträge, welche sich näher mit einer Perspektive beschäftigten, die bis dahin nur wenig Beachtung gefunden hatte.  Der Biochemiker Gregor Wolbring (Calgary) stellte seine neuesten Forschungen unter dem Titel „Disabled people. Covid-19 and its aftermath through an ability studies lens“ vor. Zentral für seine Studie sind die Begriffe „Ableism“ und „Disableism“, welche Fähigkeiten bzw. eben fehlende Fähigkeiten (bspw. auf zwei Beinen zu gehen) von Menschengruppen definieren. Basierend darauf würden vor allem Menschen mit Behinderungen seitens der Gesellschaft beurteilt, diskriminiert und ausgeschlossen. COVID-19, um an aktuelle Gegebenheiten anzuschließen, stellt die gesamte Menschheit vor eine große Herausforderung. Wolbring zeigte in seinem Vortrag jedoch klar auf, dass vor allem beeinträchtige Menschengruppen, die selbst sowohl medial (wie aus von ihm präsentierten Zeitungsartikeln im Raum Kanada abzulesen ist) als auch gesellschaftlich nur wenig zu Wort kommen, stark unter den aktuellen Geschehnissen und deren Nachwirkungen leiden. Gemeint sind beispielsweise extreme Risikozustände in Pflegeheimen oder auch die Angst, aufgrund ihrer Beeinträchtigungen hinsichtlich medizinischer Kapazitäten als zweitrangig eingestuft zu werden. Wolbring definierte diese Umstände in seinem Forschungsansatz in elf konkret ausformulierten Aspekten, die im Zuge der Covid-19-Pandemie in Bezug auf „disabled people“ eine Rolle spielen. Sehr spannend, war vor allem seine Sichtweise, dass soziale die Vulnerabilität beeinträchtigter Menschengruppen nicht einfach existiere, sondern dass die Gruppen von der Gesellschaft im Laufe der Zeit diesen Status zugeordnet bekommen haben und in der Folge diese Gruppen sich diesen besonderen Status auch selbst zuschreiben. Diese hinge mit den sogenannten Fähigkeitserwartungen (ability expectations) zusammen, die auch beständig Konflikte provozierten. Fähigkeitserwartungskonflikte bestünden zwischen Einzelpersonen sowie zwischen und auch innerhalb von diversen Gruppierungen. Bestandteile von Ability expectations und Ableism, kurz AA, sind kombinierte Fähigkeiten von Körper und Geist, bestimmte Werte und Überzeugungen sowie die Fähigkeit, ein gutes Leben zu führen. Essenziell, in jeglicher Hinsicht, ist, dass AA immer eine doppelte Perspektive umfasst. Dieses gesellschaftlich zugeordnete Muster kann also fördernd bzw. ermöglichend wirken (bspw. Inklusion) aber auch beeinträchtigend (bspw. Ungleichheit). Der Vortrag mit den elf von Wolbring erarbeiteten Punkten bot einen Überblick über die wesentlichen Herausforderungen von COVID-19 und dessen Nachwirkungen für beeinträchtigte Personen. Daneben zeigte er, dass die „ability studies“ im Generellen ein lohnender Ausgangspunkt sind, um gesellschaftlich gegebene Strukturen zu hinterfragen.

Prof.in Sophia Falkenstörfer (Freiburg) erweitere Wolbrings Präsentation und konkretisierte in ihrem Vortrag den Schwerpunkt „Abhängigkeit in der Krise“. Sie lieferte eine „Reflexion über den ‚fürsorglichen’ Umgang der Menschen mit Behinderung“. Falkenstörfer betonte dabei, dass der Fokus ihrer Forschung sich auf die Abhängigkeit und Fürsorge von Menschen mit komplexen Behinderungen richte. Im Zuge der COVID-Pandemie sei Falkenstörfer zufolge ein neues Spannungsfeld wahrzunehmen, welches sich einerseits durch Fürsorgeversprechen und andererseits durch utilitaristische Handlungsformen definiere. Konkret ausgedrückt steht dabei auf der einen Seite das Versprechen, Menschen, die bereits vorher schutzbedürftig waren und es immer noch sind, aufgrund der erhöhten Vulnerabilität Sicherheit bereitzustellen. Auf der anderen Seite wurde die Aufmerksamkeit seit Beginn der COVID-19-Pandemie auf die Zunahme von Risikopatienten (bspw. ältere Menschen) gelegt, die ebenfalls auf einen gewissen Schutz angewiesen sind. Um dieses Spannungsfeld zu untermauern, zog Falkenstörfer eine Medienanalyse heran. Diese zeigte aus einer übergeordneten Perspektive, in welchen Bereichen unser System festgefahren ist und wo systematische Veränderungen, vor allem in finanzieller Hinsicht, nötig wären. Falkenstörfer beleuchtete auch Beiträge, in denen Menschen mit komplexen Behinderungen selbst eine Stimme bekamen. Diese zeigten vor allem die Angst und Hilflosigkeit der Betroffenen sowie eine gewisse Abhängigkeit vom System. Kritisch zu beleuchten sei auch die Tatsache, dass die genannten Medienbeiträge hauptsächlich um den 9. Mai veröffentlicht wurden, im Kontext der europäischen Protesttage zur Gleichstellung der Menschen mit Behinderung. Ansonsten würde die Perspektive von Menschen mit komplexen Behinderungen in den Medien kaum bis gar nicht gezeigt. Insgesamt würde die soziale Situation von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen stets unterbeleuchtet und verschwiegen und die Abhängigkeit vom System sowie nötige Umstrukturierungen seien durch die Pandemie enorm verschärft worden.

Letztendlich musste festgehalten werden, dass die von beiden Experten*innen aufgezeigte Perspektive gesellschaftlich derzeit nur wenig Aufmerksamkeit erfährt. Die Forschungsansätze in diesem Bereich seien aber gesellschaftspolitisch hoch relevant und gerade im Zuge der COVID-Pandemie als essenziell zu beachten. Letztlich ging aus den dargestellten Inhalten aber vor allem hervor, dass es wichtig ist, Phänomene wie eine Pandemie stets aus diversen und auch neuen, ungewöhnlichen Zugängen kommend zu beleuchten, um ein umfassendes und gut ausgeleuchtetes Gesamtbild zu erhalten.

(Nadja Volderauer)

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