Joseph Zoderer. Neuverortung und kritische Neubewertung seines Gesamtwerks unter Einbeziehung seines erstmals zugänglichen Vorlasses
DAS FORSCHUNGSPROJEKT
Das Forschungsprojekt ist der kritischen Untersuchung und Neubewertung des literarischen Werks von Joseph Zoderer, dem wohl bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Südtirols, gewidmet. Seit dem Erscheinen des Romans Die Walsche im Hanser-Verlag (1982) hat der Autor in der deutschsprachigen Literatur einen festen Platz. Viele seiner Romane wurden übersetzt, neben dem Italienischen auch ins Russische, Slowenische und Französische, zwei seiner Werke wurden fürs Fernsehen verfilmt – Das Glück beim Händewaschen (1982) und Die Walsche (1986). Zoderers literarischer Rang wird durch eine Reihe von Auszeichnungen, darunter der Franz-Theodor-Csokor-Preis (1987), der Hermann-Lenz-Preis (2003), der Walther-von-der-Vogelweide-Preis (2005) oder der Premio Ostana (für Minderheitenliteratur) (2012), unterstrichen. Neben dem publizierten Gesamtwerk steht dem Projekt der umfangreiche Vorlass (75 Archivkassetten), der seit 2007 am Forschungsinstitut Brenner-Archiv verwahrt wird und bislang von der Forschung wenig berücksichtigt worden ist, zur Verfügung. Hinzu kommt, dass der Autor noch lebt und als Informationsquelle einbezogen werden kann. Der konkrete Anlass für das Projekt ist eine Joseph-Zoderer-Gesamtausgabe beim Innsbrucker Haymon-Verlag, die von Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Johann Holzner, bis September 2013 Leiter des Forschungsinstituts Brenner-Archiv, betreut wird. Das Projekt soll mit dem Editionsvorhaben inhaltlich-wissenschaftlich sowie personell verzahnt werden.
ZIELE
Zoderers Schreiben bzw. sein schriftstellerischer Werdegang fallen in eine Zeit des literarischen Umbruchs sowohl in Österreich als auch in Südtirol, der im Ende der Naziherrschaft 1945 – und in den damit einhergehenden Veränderungen (nicht nur) im literarischen Betrieb – seinen Ursprung hatte und in den 1960er Jahren seinen Höhepunkt erreichte. In Südtirol fand – sogar etwas früher als in manchen österreichischen Bundesländern – ein Erneuerungsprozess statt, der vor allem in der Literaturrevolte von 1969 sichtbar wird und eine Politisierung der Literatur zur Folge hatte. Zoderer selbst nahm an prominenter Stelle daran teil – sein Essay Wozu schreiben? (skolast 4/1969) durchleuchtet kritisch den in Südtirol herrschenden, von konservativen Kräften beherrschten Literaturbetrieb; auch sein Lyrikband S Maul auf der Erd oder Drecknuidelen kliabn (1974), der sich – bezeichnenderweise in Südtiroler Mundart geschrieben – gegen eine verkitschte, Macht und Unterdrückungsverhältnisse verdeckende Mundartlyrik richtet, ist vor diesem Hintergrund entstanden. Überhaupt kann festgestellt werden, dass Zoderers gesamtes politisches und gesellschaftskritisches Engagement von Beginn an mit einer Reflexion der Sprache verbunden ist, was u. a. damit in Verbindung stehen könnte, dass er sich Ende der 1950er / Anfang der 1960er Jahre in Wien aufgehalten hat und mit der Sprachartistik bzw. den ‚Spacherneuerungen‘ der Wiener Gruppe in Kontakt gekommen ist. Dieses Augenmerk auf Sprache und Kommunikation, das Zoderers Texte nicht zu Widerspiegelungen Südtiroler Verhältnisse macht, sondern die wiederkehrenden Thematiken, wie die Suche nach der Ich-Identität oder die vielgestaltige Fremdheitserfahrung der Figuren, in seinen Werken und ihre Beziehungen zueinander aus dem spezifischen Südtiroler Kontext heraushebt und universalisiert, lässt sich in all seinen Werken (auch in den frühen, wie Das Glück beim Händewaschen oder Die Walsche) feststellen. Dennoch spielen Südtirol und Italien – der ländliche sowie der mediterrane Raum – als prägende Räume in Zoderers Werk eine zentrale Rolle. Dies hat bislang eine interkulturelle Rezeption favorisiert und bedingt, dass Zoderer vor allem von der interkulturell orientierten Literaturwissenschaft mit ihren Paradigmen von ‚Heimat‘ und ‚Fremde‘, ‚(individuelle und kollektive) Identität‘, ‚(individuelle und kollektive) Fremdheitserfahrung‘ als Romancier wahrgenommen wurde – als ein Autor, der ausgehend von den in Südtirol vorherrschenden Ethnizitäts- und Identitätsdiskursen den Nationalismus auf beiden Seiten literarisch verarbeitet. Hand in Hand damit geht eine Regionalisierung Zoderers, obwohl er sich selbst immer wieder gegen eine rein regionale Ausdeutung seiner Literatur gewandt hat. Ungeachtet dessen hat die wiederholte Thematisierung des Südtirol- und Italienkomplexes zweifellos bewirkt, dass Zoderer vor allem auch in Italien stark rezipiert wurde und bis heute wird. Seit einigen Jahren widmet sich auch die internationale Forschung mit zunehmendem Interesse dem bereits auf acht Romane, fünf Lyrikbände sowie zahlreiche Erzählungen angewachsenen Œuvre. Sind bis Ende der 1980er Jahre vereinzelt Arbeiten zu Zoderer erschienen, steigt die Anzahl der einschlägigen Publikationen seit spätestens Anfang der 2000er Jahre signifikant an – speziell hervorzuheben sind dabei zwei Sammelbände, die 2010 aus Anlass von Zoderers 75. Geburtstag erschienen sind (Grüning 2010, Höfler 2010). Vorwiegend hat sich die Literaturwissenschaft bisher mit den Themenkomplexen ‚Identität‘/‚Fremdheit‘ und ‚Interkulturalität‘/‚Heimat‘ sowie mit Fragen der Rezeption auseinandergesetzt. Zur Rezeption sind sowohl für den deutschsprachigen als auch für den italienischsprachigen Raum brauchbare Überblicksdarstellungen erschienen (Esterhammer 2006, Pedrazzoli 2009), die eine wichtige Grundlage für künftige, tiefer führende Analysen darstellen. Die beiden anderen genannten Themenkomplexe wurden insbesondere untersucht vor dem Hintergrund postmoderner und/oder soziologischer Identitäts- und Kulturtheorien wie jenen von Foucault und Marques/Paez (Ausgrenzungs- und Sündenbockmechanismen), Tajfel/Assmann (Gruppenzugehörigkeit bzw. kollektive Identität), Jenkins (soziale Identität), Straub/Renn (transitorische Identität) oder Wehler (Nationalismus). Es fällt auf, dass die meisten Arbeiten – auch die theoretisch fundierten – die Behandlung bzw. das Aufbrechen von kulturellen Grenzen in Zoderers Werken bloß überblicksartig darstellen und/oder außerdem sehr stark auf die Einordnung des Werks in einen Interkulturalitätsdiskurs gerichtet – um nicht zu sagen: darauf beschränkt – sind. Die Phänomene ‚Identität‘ und ‚Fremdheit‘ wurden bislang fast ausschließlich auf interkulturelle bzw. – die Angehörigen verschiedener Kulturen betreffende – interpersonale Gesichtspunkte hin beleuchtet. Die für Zoderers Werk so wichtige intrapersonale Komponente hingegen rückt in der Wissenschaft erst seit kurzem allmählich in den Fokus. Das Thema ‚Heimat‘ wurde bisher meist mit Herkunft und Lebensraum bzw. mit Südtirol gleichgesetzt, eine konkrete (theoretische) Begriffsbestimmung wird hingegen kaum vorgenommen. Als weitere Auffälligkeit der Zoderer-Forschung ist die starke Konzentration auf wenige Einzelwerke zu nennen – und zwar mit den Romanen Das Glück beim Händewaschen, Die Walsche und Der Schmerz der Gewöhnung genau auf jene, die für die Analyse der oben genannten Motive am ergiebigsten sind. Diejenigen Werke, die diesen Forschungsinteressen nicht oder nicht so offensichtlich entgegenkommen, sind hingegen noch kaum untersucht – dies gilt sowohl für die Forschung im deutschsprachigen Raum als auch für die internationale Forschung. Bis heute fast völlig von der Wissenschaft unberücksichtigt geblieben sind die Lyrik, die Erzählungen sowie das Frühwerk, auch gibt es noch keine umfangreicheren Unternehmungen, Zoderers Werk in der deutschsprachigen Literaturgeschichte zu verorten, lediglich die Stellung des Autors im Kontext der Südtiroler Literatur ist genauer untersucht. Dies ist auch mit ein Grund dafür, dass Zoderer – obwohl die Rezeption weit über die regionalen Grenzen hinausreicht – stark auf das Prädikat des ‚Südtirol-Autors‘ festgelegt ist – eine Reduktion, die angesichts der weit über räumliche/kulturelle Grenzen hinaus gehenden Themen und Stoffe dem Werk nicht gerecht wird. Auch dass Zoderer an Erzähltraditionen sowie an Formexperimenten vor allem der österreichischen Literatur teilhat bzw. daran anschließt und sich sowohl durch die Auswahl seiner Stoffe als auch der Erzählstrategien in überregionale literarische Strömungen der Zeit eingeschrieben und diese um neue Aspekte bereichert hat – weitere Gründe also, das Werk in einem größeren Zusammenhang zu deuten –, ist bislang nicht genauer untersucht worden. Angesichts der bis dato geringen Berücksichtigung vieler formaler, textgenetischer und über die oben genannten Themen hinausreichender motivischer und stofflicher Werkaspekte ist das Fehlen einer breiten Forschungsgrundlage festzuhalten. Die bestehenden Lücken sollen nun geschlossen werden.
DER VORLASS
Die Sammlung umfasst insgesamt 75 Archivkassetten. In fast 40 Kassetten liegen Zoderers Arbeiten – vom Frühwerk bis zum Erzählband Der Himmel über Meran(2005), von der Lyrik bis zur Prosa, von den gesellschaftspolitischen Essays bis hin zu den journalistischen Arbeiten – in durchwegs mehreren Werkstufen vor: von der ersten Handschrift über (mehrfach) korrigierte Typoskripte bis hin zur Endfassung bzw. zur publizierten Version. Darüber hinaus enthält der Vorlass in 14 Kassetten die Korrespondenz des Autors mit rund 900 KorrespondenzpartnerInnen, einschließlich Verlagen, LiteraturwissenschaftlerInnen und AutorenkollegInnen. Die Korrespondenz ist neben den ebenfalls zur Verfügung stehenden Tagebüchern (knapp 100 Stück) für die biografische und die literaturgeschichtliche Verortung seines Werks unabdingbar, darüber hinaus sind sowohl Briefe wie Tagebücher für die Annäherung an die Poetik des Autors wertvoll, finden sich dort doch zahlreiche Aussagen über Motive, Ziele und Bedingtheiten seines Schreibens. Teile des Vorlasses sind im Weiteren auch seine Sammlungen von Rezeptionszeugnissen zu den einzelnen Werken sowie Materialien zu Preisen, Stipendien, Lesungen und Tagungen. Die Tatsache, dass der Vorlass weitgehend vorgeordnet ist, gewährleistet einen reibungslosen Zugriff und die unmittelbare Auswertung und Erschließung. Die im Brenner-Archiv verwahrten Materialien sollen ergänzt werden durch jene im Verlag Hanser liegenden Sammlungen (Korrespondenz, Lektorat) und die bei Zoderer selbst befindlichen jüngsten Arbeiten.
Das Projektteam beim Nachordnen des Vorlasses. Foto: Ursula Schneider