Anton Unterkircher: "Ich habe nichts erreicht". Carl Dallago (1869-1949). Eine Biographie

[siehe auch den Lexikonartikel in der Datenbank "Literatur in Tirol"]

Sonderling, Rebell, Pazifist, Anarchist, Neo-Taoist, Naturapostel, Prophet vom Berge, Antifaschist: dies sind nur einige der Bezeichnungen, mit denen zu verschiedenen Zeiten die Persönlichkeit Dallagos zu fassen versucht worden ist. Dallago war – um diese Reihe noch weiter auszudehnen – ein notorischer Neinsager. Folgerichtig stand er zeitlebens im Abseits, geriet gegen sein Lebensende immer mehr in eine bedrückende Isolation und in große finanzielle Nöte. Größere Anerkennung blieb ihm versagt. Dennoch, das Widerständige und Nonkonformistische seiner Persönlichkeit regte gleichwohl immer wieder zu einer Beschäftigung mit ihm an. Im Jahre 2000 erschienen unter dem Titel "Im Anfang war die Vollendung" ausgewählte Schriften (Innsbruck: Haymon) und Karl-Markus Gauß sprach damals von einer "überfälligen Entdeckung" (Neue Zürcher Zeitung, 5.9.2000). 2003 fand ein internationales Dallago-Symposion in Bozen statt, dessen Ergebnisse in einem italienischen und in einem deutschen Tagungsband publiziert wurden (Il grande inconoscente / Der große Unwissende. Brescia: Morcelliana 2006 bzw. Innsbruck: Studienverlag 2007). Allerdings zeigt gerade dieser umfangreiche Band, in dem Dallago von verschiedenen Perspektiven beleuchtet worden ist, dass der im Laufe der Jahre entstandene Mythos eines Querdenkers eine eingehendere Beschäftigung mit dieser Persönlichkeit nicht nur befördert hat.

Carl Dallago, 1926 

Grenzgänger zwischen Literatur und Philosophie

Eigentlich kennt man ihn nur als Mitarbeiter des "Brenners". Dass Ficker diese Zeitschrift eigens für ihn gegründet hat, ist schon weniger bekannt. Fast zur Gänze unerforscht ist das äußerst produktive Jahrzehnt vor dem Eintritt in den "Brenner" und die Zeit nach seinem Austritt im Jahre 1926. Daher ist auch in den gängigen Literaturgeschichten kaum mehr als die Erwähnung seiner "Brenner"-Mitarbeiterschaft zu finden. Aber, wie sollte er dort auch genannt werden? Als Lyriker und Dramatiker ist er gescheitert, und kulturkritische Essays gehören nur am Rande ins Feld literaturgeschichtlicher Betrachtung. In Philosophiegeschichten fehlt er naturgemäß ganz, denn dafür müssten philosophische Arbeiten vorliegen, was im engeren Sinne nicht zutrifft.

Dallagos Werk lässt sich also weder als literarisches noch als philosophisches so recht einordnen. Am ehesten lässt es sich noch mit dem Begriff Bekenntnisliteratur fassen und in Summe stellt es eine große Autobiographie dar. Sich in andere Gefühls- und Gedankenwelten hineinzuversetzen war seine Sache nicht. Aber auch der hohe Anspruch, sein rigides 'lebensphilosophisches' Denken mit der praktischen Lebensführung in Einklang zu bringen, war durch die Forderungen des Tages teilweise zum Scheitern verurteilt.

Bruch mit der bürgerlichen Welt

Im Jahre 1900 brach Dallago mit der bürgerlichen Welt, in der er aufgewachsen und als wohlhabender Kaufmann und Familienvater fest verankert gewesen war. Fortan lebte er als freier Schriftsteller zurückgezogen auf dem Lande. In ausgedehnten Wanderungen durchstreifte er die Gegenden des Gardasees und des Fleimstals und schrieb auch seine Werke vorwiegend im Freien. Die innige Verbindung mit der Landschaft, er bezeichnete sich selbst als Landschaftsmenschen, ließ ihn umso mehr die Distanz zur Welt fühlen, von der er sich abgewandt hatte. Anfänglich versuchte er sich als Lyriker, kurzfristig als Dramatiker, aber erst in seinen kulturkritischen Essays fand er seinen unverwechselbaren Stil. Diese beginnen immer mit Landschaftsbildern, wechseln zu kulturkritischen Überlegungen über und enden wieder mit einer Landschaftsstimmung. In eigenwilliger Abwandlung des Johannes-Evangeliums prägte Dallago sein Credo: "Im Anfang war die Vollendung". Um sich herum sah er eine Welt, die sich mit jedem Tag weiter von ihrem vollkommenen Urzustand entfernte: Die "Weltbildung", also Zivilisation, Institutionen, Herrschaftsformen, das alles war für ihn Sündenfall, Verfall. Daher stand er dem Fortschrittsglauben der Moderne ebenso skeptisch gegenüber wie dem Dekadenzgefühl seiner Zeit. Anfänglich stark von Nietzsche, Segantini und Whitman beeinflusst, galt sein Interesse ab 1910 verstärkt den fernöstlichen Lebensformen, in denen er mit seinen eigenen Anschauungen Verwandtes fand. Laotse war für Dallago einer der "reinen Menschen der Vorzeit", also einer Zeit, die historisch nicht mehr fassbar ist. Jesus war für Dallago der letzte reine Mensch dieser Vorzeit, die Katholische Kirche hingegen schien ihm verweltlicht und blieb zeitlebens Zielpunkt seiner Polemik. Vorbild wurde ihm dabei zunehmend die Kritik am Christentum von Sören Kierkegaard.

Den Lebensspuren dieses Individualisten nachzugehen ist doppelt spannend vor dem Hintergrund der Zeit, in die sein Leben fällt. Dallago war ein Kind der letzten Phase des Kulturkampfes, begann um die Jahrhundertwende seine schriftstellerische Arbeit im Umkreis der deutschnationalen und antiklerikalen Jung-Tiroler, die einen kulturellen Aufbruch versuchten, bewegte sich mit dem "Brenner" in der damaligen Avantgarde, nahm als Pionier am Ersten Weltkrieg teil, musste als Kritiker des Mussolini-Regimes nach Österreich emigrieren und bekämpfte den Nationalsozialismus, der in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs mündete. Seine zunehmend nur mehr im privaten Kreis oder in seinen unveröffentlichten Manuskripten geäußerte Kritik konnte naturgemäß keine öffentliche Anerkennung mehr finden.

Einzelgänger zwischen Moderne und Antimoderne

Obwohl Dallago zeitlebens ein Einzelgänger war, hatte er doch bemerkenswerte Kontakte und Begegnungen u.a. mit Otto Alscher, Alfred Baeumler, Otto Basil, Hermann Broch, Max Brod, Martin Buber, Ferdinand Ebner, Albin Egger-Lienz, Max von Esterle, Ludwig von Ficker, Marie Franzos, Theodor Haecker, Robert Heymann, Rudolf Christoph Jenny, Karl Kraus, Wilhelm Kütemeyer, Josef Leitgeb, Karl Röck, Wilhelm Schwaner, Franz Servaes, Ettore Tolomei, Georg Trakl, Heinrich von Trott, Arthur von Wallpach, Josef Viktor Widmann, Ludwig Wittgenstein. Engeren Anschluss fand er nirgends. Er gehörte weder zur Kerngruppe der Jung-Tiroler, noch fand er während seiner Aufenthalte in Wien (1901/1902) und München (1903/1904) Anschluss an die damaligen Moderne-Bestrebungen. Wohl prägte Dallago mit seinen Beiträgen den "Brenner", aber er war nur selten Gast bei der regelmäßig sich treffenden "Brenner"-Runde in Innsbruck. Nur die von Ficker veranstalteten Kraus-Lesungen ließ er sich nicht entgehen. Aber Dallagos Begeisterung für Kraus beruhte von Anfang an auf einem grundlegenden Missverständnis. Während Kraus am Zustand der Sprache den Zustand der Welt ausmachte und mit seiner meisterhaften Sprachhandhabung beißende Kulturkritik übte, war für Dallago Form letztlich nie die Hauptsache, auch nicht der Stil, für ihn musste das Geschriebene echt, wahr und existenziell beglaubigt sein. Georg Trakl, der ihm bald den Rang als Hauptmitarbeiter streitig machte, konnte daher für ihn nur ein Dichter des Verfalls sein. Mit Hermann Broch geriet er in eine Auseinandersetzung über das Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs übertrug Dallago – und er sah dies als "Friedensarbeit" an – Laotses "Taoteking", ohne des Chinesischen mächtig zu sein, aus der vergleichenden Lektüre von drei bereits vorliegenden Übersetzungen. Entstanden ist daraus einer der schönsten Dallago-Texte. Der Krieg und dessen Folgen bestätigten ihn in seiner Kultur- und Zivilisationskritik. In der im "Brenner" nach dem Krieg ausgetragenen Diskussion um Kirche und Christentum stand er in scharfer Opposition zu Ferdinand Ebners Ich-Du-Philosophie und dem Konvertiten Theodor Haecker, dem er vorwarf, päpstlicher als der Papst zu sein. Ficker stellte sich zunehmend auf die Seite von Haecker und Ebner, sodass Dallago 1926 seine Mitarbeit am "Brenner" aufgab.

Widerstand gegen Faschismus und Nationalsozialismus

In seinem letzten "Brenner"-Aufsatz griff er das Mussolini-Regime so scharf an, dass er aus Angst vor Repressalien nach Nordtirol emigrierte. Mit einer kleinen Gruppe von "Brenner"-Mitarbeitern und jungen "Brenner"-Lesern, u.a. Josef Leitgeb, Friedrich Punt und Werner von Trott, die mit der Linie der Zeitschrift nicht mehr einverstanden waren, beteiligte er sich 1932 an der in Berlin von Wilhelm Kütemeyer herausgegebenen Zeitschrift "Der Sumpf". Mit der Verbindung der Gedanken von Marx und Kierkegaard – Dallago sympathisierte zunehmend mit dem kommunistischen Gedankengut, ohne je einer Partei anzugehören – sollte der heraufkommende Nationalsozialismus bekämpft werden. Nach nur vier Nummern wurde die Zeitschrift 1933 gewaltsam eingestellt.

Seither fand Dallago für seine Werke keinen Verleger mehr. Während es ihm in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg noch gelang, Kritik und künstlerisch gestaltete Landschaftsschilderung einigermaßen im Gleichgewicht zu halten, trat nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend die Kritik in den Vordergrund. Seine Sätze und Aussagen gerieten immer mehr zu dem, was er selbst zeitlebens bekämpft hatte: zu einer dogmatischen 'Heilslehre'. In einem resignierenden Rückblick auf sein Schaffen musste er sich selbst eingestehen, dass er "nichts erreicht" hätte.

Dallago war ein zutiefst franziskanischer Mensch. Er war beseelt von einer großen Liebe zur Schöpfung, vor allem zur Landschaft, die ihm noch am wenigsten von Menschenhand in dauernde Mitleidenschaft gezogen schien. Er versuchte ein einfaches und ursprüngliches Leben zu führen und ohne Kompromisse der – einmal für sich erkannten – Wahrheit zu dienen. Daher führte sein Lebensweg zumeist abseits aller ausgetretenen Pfade. Die Außenseiterstellung und sein extremer Individualismus machten ihn hellsichtig gegen die totalitären Regime des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus, die er als widernatürlich und menschenverachtend brandmarkte. Sein ausgesetzter Lebensentwurf hat also im entscheidenden Moment standgehalten: Nicht nur in Tirol, das sich ob seiner Widerständigkeit gerne brüstet, sind solche Figuren selten.

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