Trojer, Johann: "RUTLUK – Ein Rückblick".
In: Föhn 10, 1981, S.7f.
>>1 Mittelpunkt<<
Als ich die Volksschule, die ja immer an die Kirche angehängt war, besuchte, bedrängte mich zweifache Not, die Kälte und die "Häuslzeit". Sie gehörten zusammen. Kirche und Schule, beide auf der Schattenseite gelegen und in hoher Lage, wo der Winter kein Ende nehmen will, dazu, machten uns, ohnedies nur notdürftig gekleidete Bauernkinder durch und durch gefroren. Ununterbrochen ausbrechende Hustenanfälle, die einander natürlich ansteckten, und die, je mehr wir sie zu verhalten versuchten, desto unvermeidbarer waren, bildeten den ständigen schaurigen Chor bei Messe und Unterricht. Es war, als wäre etwas zu verbellen gewesen, was sich nicht hatte verbellen lassen. Wer zum Dienst am Altar auserwählt war, wurde des Ofens in der Sakristei und der lodenen Ministrantenkittel und der warmen Krägen wegen regelrecht beneidet. Die anderen Kinder froren an Füßen und Händen, an allen Enden und Zipfen umso mehr.
Für die Häuslnot (fern vom Heimathaus) gab es im gegabelten Zwiesel Schule-Kirche keinen einzigen (Ab-)Ort, wo man das Nötigste halbwegs sauber hätte verrichten können. Volle Hosen, Lachen, Urin unter den Kirchenstühlen und Schulbänken, Gestank und Spott waren denn auch an der Tagesordnung.
Die Klos im Schulhaus waren gänzlich unbenützbar. An ein sitzendes Geschäft war überhaupt nicht zu denken. So standen die Haufen auf dem Brett und Boden herum. Wir Knaben urinierten von Ferne Richtung Öffnung, den Mittelpunkt des vollkommenen Kreises mit der Seele suchend. Am Boden bis zur Tür beulten sich die Eisgallen gelb. Wer ihnen mit genagelten Goiserern zu nahe trat, glitschte aus und schlug in den – prosaischen – Dreck.
Die Welt ist kleiner und klein geworden, seitdem der Mensch aus dem Mittelpunkt des Kosmos eigenhändig verrückte. Nowaja Semlja liegt geläufig um die nächstbeste Ecke. Wirklichkeiten, die es gar nicht gibt, wenn es die Medien nicht gäbe sind uns aufgegangen. Im Lustschloß Belvedere zu Wien macht Heinz Conrads heute seine Gala, strahlt strahlend sich aus in den Äther. Nur mit einem Satz in Versfüßen komme ich da drüber hinweg. Wenn die Werbehausfrauen ihre Mundränder zwischen hantigem Zweifel und erlöstem Glauben aufmerksam verziehen, muß ich wegschauen. Ich erbreche vor Erbrochenem.
Vom Schwarzsee im Krater wie auf dem Mond die Geschichte könnte ich erzählen. Der Stein, der versank, um im Grunde das goldene Hufeisen zu finden, hätte ich, hätte ich ihn nicht geworfen, sein können. Die Wellen, die er machte, schlug ich. Wie das Licht verhalte ich mich in Quanten und Wellen.
Als I-Punkt wird man in die Welt gesetzt, und der Tod macht einen Punkt zuletzt hinter alles. Dazwischen breitet man sich ein wenig aus. Man zeigt klare Überzeugungen her, wo man sie nicht hat. Den Arzt erkennt man an der Tasche, die Demagogen an der Masche. Die Vorstellung vom harmlosen Landleben stützt sich weitgehend auf die Deichsel eines Leiterwagens. Vorbeikommen an der Front bewaffneter Gesichter! In der Jugend mit Möglichkeiten gespielt, ohne Aussichten gesehen zu haben. Ich mache es kurz: Wo bleibt da ein möglicher Mittelpunkt? Ich stelle ihn in Frage um für mich es zu sein.
Wenn wir Kinder die runde Sau aus dem Stall, der zu allen heiligen Zeiten einmal auszumisten war, in die Weite schieben mußten, wo besser hätten wir anfassen können als vorn an den wunderbar großen Ohren und am Ringelschwanz hinten. An den Enden ließ sie sich bewegen. Am weitesten vor reichen nun einmal die Sinne. Wir sollten uns ihrer mit der größten Lust und Leidenschaft bedienen. Der Sinn mag irgendwie irgendwo dazwischen liegen, der Lungenbraten, das Beuscherl. Bei genauerer Betrachtung zerfällt eben alles.
[...]
>>Echter<<
Der Abschnitt fängt mit der echtesten Süßigkeit, die die Natur beschert, an: mit dem Bienenhonig in- und ausländischer Herkunft. Was sich als echter Gebirgshonig deklariert, wurde von emsigen Immen im oststeirischen Hügelland gesammelt. Einer meiner Brüder hat aus Großvaters Stand fürwahr echten Honig stehlen wollen, aber einen Fladen echte Brut erwischt. Er bekam einen ruhrartig schwarzen Durchfall und wäre beinahe daran gestorben. Die Frau Baldauf in Panzendorf hat ihn wieder gesundgepflegt. Jetzt ist er ein starker Bergbauer und Totengräber. Beim Fis-Rennen wurden er und einige andere brave Bauern vom obersten Versellenberg abkommandiert, in Rückenkörben Schnee zur homologierten Strecke zu bringen. Hat diese an sich äußerst unliterarische Sache nun etwas mit Kultur zu tun oder nicht? Mir scheint, sie entbehrt der tragischen Poesie nicht.
Inzwischen bin ich gegen das verlogene Schmuckwort >>echt<< unsagbar allergisch geworden, habe es aus meinem Munde verbannt, kann es nicht anhören. Zu oft habe ich es vernehmen müssen von Kulturpolitikern, Altertumshändlern und Politikern. Im >echten< Brauchtum wird es beschworen, in >echten< Volksliedern wird es besungen. Die >echt< tirolische Gemütlichkeit macht Krawall. Die >echteste< Tiroler Gastlichkeit ist das Wurzen. Je unechter etwas ist, desto >>echter<< gebärdet es sich. An diese Schlußfolgerung kann man sich unbesehen halten. Das >Echte< ist längst nicht mehr das Rechte. Die besonders >echten< Tiroler haben es verächtlich gemacht.
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>>Kultur zu sein<<
Heute, jetzt, wo ich so lebe, wie ich lebe, weiß ich mit der >>Kultur<< natürlich am allerwenigsten anzufangen. Von hohen Gebirgen eingeschlossen gehen die Tage und Wochen mit mir ihren Gang und ich komme (schön langsam?) in die Jahre, wo einem nach der allgemeinen Geltung nichts mehr zuzutrauen ist. [...]
So lebe ich in Abschnitten, zehre an Vergangenheitsresten und verzehre mich stückweise selber. Die chronische Krankheit, mit den haltbarsten Fasern meines Habitus eigentlich von Wochenend zu Wochenend immerzu zu leben, hatte mich bereits im bischöflichen Gymnasium befallen. Samstagnachmittag konnten wir immerhin Prüfungen und Prüfungsangst befristet >>vergessen<<. Am Sonntag gab es keine Lektio, statt >>Studium Freistudium<<, mehr Freizeit, längeren Morgenschlaf und besseres Essen. Die Dispositionen nach Wohlbefinden, Körpergefühl, Freude und Freiheit, die wir meinten, nach Wollen, was wir konnten, und nach noch nicht abgetöteter Lust waren schnurstracks auf die freien Tage hin ausgespannt. Von meinem Vater, einem unendlich fleißigen Weber, der sich zu Tode >>gewirkt<< hat, habe ich das Denken nach den textilen Begriffen von Zettel und Eintrag. Die abzuspulenden Werktage sind der grobe Eintrag in den baumwollenen Zettel. Aus solchem Garn ist die Tuchent gewirkt, nach der ich mich strecke.
>>Wo bleibt da die Kultur?<< fragt formhalber die rhetorische Frage. Sie pflanzt sich auf im Maibaum vor meiner Nase – eine sinnreiche Verlängerung aus 1938 –, sie liegt mir im Ohr wie der samstägige Rasenmäher eines meiner Nachbarn – einen hat jeder übrigens –, sie nimmt die Steigung der Kirchenzäune hinauf schwungvoll im dritten Gang, sie weht aus den Rauchfängen zur Kochzeit wie der Wind. In die Ochsenhörner der Einsteller und aus den Katalogen der Aussteller bläst sie. Am Tisch ißt und im Bett schläft sie (aber auch umgekehrt). Mit dem pensionierten Förster, der das maibaumrunde Geländer der Höhenstraße verlegen tätschelt, geht sie einher. Hut trägt sie oder hängt am Nagel. Sie ist nicht zu fassen, wenn sie da ist. Aber wenn sie fehlt, gehen wir ein. ]
>>Soll jeder Mensch trachten<<
Kultur ist, soviel läßt sich sagen, und das kennzeichnet sie und zeichnet sie aus, an sich vollkommen >>unbrauchbar<<. Die meisten Politiker, Kulturreferenten und Bildungsfunktionäre scheinen das auch durchaus dumpf zu fühlen. Denn sie pflegen im allgemeinen nur jene Kultur zu billigen und zu fördern, die ihnen (!) etwas>>bringt<<. Und diese fördern sie zudem mit öffentlichem Geld. Soweit hat sich bis ins abgelegenste Dorf der kategorische Imperativ, Kultur einfach zu haben durchgesetzt. Und haben wir sie etwa nicht in reichstem Maße, vielfältig wie die Veranstaltungskalender der Fremdenverkehrsorte und zeitgemäß ohne Frage? Wo wir was noch nicht haben, holen wir es aus der nahen oder fernen Vergangenheit her. Es muß nicht einmal unsere eigene sein. Im Notfall schaffen wir fremde, wiewohl >arteigene< Vergangenheiten bei. Denn schließlich brauchen wir Kultur unbedingt, hauptsächlich zum Herzeigen. Da langen wir am besten eben nach dem nächstbesten Tirolerhut, der steht uns ja so gut – je verfilzter, undurchlässiger er ist, desto besser, desto >>echter<< – und setzen ihn auf, uns, den Häusern, den Hirnen, den Kindern. Was da an organisierten und wohlwollend subventionierten >Kulturträgern< landesweit bis zur Präpotenz gerühmt wird, tritt dann so unerbittlich massiv – vom Gemeinschaftsgeist betäubt – auf, daß hinterher ein Boden wie verbrannte Erde ödet. Anfangs der sechziger Jahre war ich noch naiv genug zu glauben, daß von dem abgestandenen, abgelebten Brauchtum etwa eine ganze Menge endlich untergeht und neuen Formen einer Gemeinschaftskultur Platz macht. Im Gegenteil! Seit den Siebzigerjahren sind die restaurativen Tendenzen, die den Kulturbegriff einer unmenschlichen Vergangenheit gefährlich weiterführen, erfolgreich wie noch nie. Was dem Leben wie dem Zusammenleben, der Kultur, gleich, ob sie erhaltet oder erschafft, gut bekommt, die Vielfalt, die Toleranz, die Freiheit nämlich, fehlt weitgehend. Dagegen herrschen faustfeste politische Interessen, Dirigismus, Borniertheit und Organisation.
Mit der Kultur ist es (nicht zufällig) wie mit dem Orgasmus: Je verkrampfter man sie betreibt, desto mäßiger fällt sie aus. Sie mag es nicht, wenn die Leute – Kulturfunktionäre ausgenommen – immer an sie denken. Am besten ist, man läßt sie kommen. Damit sie kommt, muß man allerdings so sein, wie man ist, nicht wie >>Die Quelle<<, die Dorfverschönerer und die Volkstumspfleger haben wollen, daß man sei.
>>Den ganzen Tag blies der Wind sehr kalt vom Tyroler Gebirg<<, schrieb Goethe 1786 in München in sein Reisetagebuch. Seit Goethe, dem ersten Romantiker, ist alles >>Bergichte<< durch die Romantiker, andauernd verniedlicht und erniedrigt worden. Die Lug vom Trug der >sanften Matten< für harte Tat-Sachen hat sich ausgebreitet. Die ersten Bücher, die ich mir im Leben kaufte, waren Goethes Werke, zweibändig, und Winnetou I, II,III von Karl May, ohne recht zu wissen, daß ich tatsächlich die beiden deutschen Hauptklassiker erwischt hatte. Ich las beide von vorn bis hinten. Der eine versorgte mich mit einem hohen Begriff vom edlen Weißen Mann, der andere mit anspruchsvollen Lebensweisheiten, die ich heftlweis herausschrieb. Als Goethe dann in den obersten Klassen wirklich dranwar, widerstand er mir von Herzen. Die unaufhörlichen Lobgesänge des Professors auf die klassisch-humanistischen Ideale hatten mich abgestoßen. Von den alten Römern behielt ich soviel, zu wissen, daß sie ausgezeichnete Maurer gewesen waren. Gleichermaßen widerlich wurde mir die eigenartig zwiespältige Schwärmerei für die alten Griechen. Man stelle sich vor: Der geistliche Professor im Bratenrock besingt die Göttin der Morgenröte! Den Wohllaut der homerischen Verse hämmerte er uns mit einem winzig kurzen, scharf gespitzten Bleistift auf das Pult in die Hirne. Bei der schriftlichen Matura in Deutsch wurden drei Themen vorgegeben. Von den 21 Kandidaten wählten drei, darunter – ahnungslos wie ich war – ich, das folgende: >> Jeder Mensch soll trachten ein Mittelpunkt echter Kultur zu sein<<...
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