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- Aus: Das Kind (S. 29-35)
- Aus: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus (S.18-21 und S.69-73)
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Briefe
Im Lauchbeet hockt die Wurzelfrau,
zählt Zwiebelchen und Zehen.
Was wird mit mir geschehen?
Sie nimmt es so genau.
Ich bringe meinen Kopf nicht mehr
aus den verhexten Latten.
Nun zählt sie schon die Schatten
und schielt verdächtig her.
He! - sagt sie - da ist noch was frei,
mit Erde muß man sparen! -
und zerrt mich an den Haaren,
ich wage keinen Schrei.
So unter Zwiebelchen und Lauch
bin ich nun eingegraben,
die mich gesättigt haben,
vertrösten mich wohl auch.
Sie teilen mit mir Tag und Tau
und Saft und Kraft der Erde,
daß ich ein Rüblein werde
im Beet der Wurzelfrau.
Aus: Christine Lavant: Die Bettlerschale.
Gedichte. Salzburg: Otto Müller 1956. S. 16.
Ich könnte vielleicht ein Geheimnis haben
mit der breitmächtigen Frau im gehäkelten Tuch,
die sich zwischen den Bahnschienen sonnt
und hinterhältig und grundgutmütig
die Vorstandhühner an sich lockt.
Meine Mutter war wie ein Beichtstuhl für sie
und hat auch ihre Kinder gewandet,
die zahllosen Kinder der Weibin dort,
um Gottes Lohn - meine schmächtige Mutter.
Dafür soll die Frau ihr Geheimnis sagen.
Ich hege Hoffnung zu diesem Geheimnis,
das ganz und gar sich von dieser Welt
aufrechterhält und die Huhnsprache kennt
und vielleicht auch die Wurzel der Würde.
Heimsuchen will ich die mächtige Frau -
sie wird ihre Hühner vom Küchentisch scheuchen,
den Stuhl abwischen und ehrfürchtig tun
und verborgen sich meiner erbarmen.
Aus: Christine Lavant: Spindel im Mond.
Gedichte. Salzburg: Otto Müller 1959. S. 102.
Ich ordne die Verlassenschaft;
das Brustkern-Öl, den Schlauch der Schlange,
die Rippenuhr bleibt selbst im Gange
und schlägt auch in der Einzelhaft.
Mein Abgott, immer noch aus Blei,
wird ohnehin nie auferstehen,
ich darf verrückt im Kreise gehen
an meinem eignen Kreuz vorbei.
Auch atmen kann ich ganz getrost,
die Lunge krankt an einem Flügel
und bleibt gewiß am Marterhügel
trotz Feuerfolter oder Frost.
So wilde Freiheit war noch nie
in einer finstern Andachtsenge,
ich hebe ohne jede Strenge
mein Stiefgeschick aufs Mutterknie.
Aus: Christine Lavant: Der Pfauenschrei.
Gedichte. Salzburg: Otto Müller 1962. S. 11.
Ich möchte für Ingeborg etwas schreiben. Nicht irgendetwas, sondern einige Worte voll Sorgfalt, Wahrhaftigkeit und voll jenes trotzdem möglichen Glanzes, darin armes Alltägliches nicht weniger edel zur Geltung kommt als etwa ein Stück Schmuck in dem auf es gänzlich abgestimmten Behältnis aus Samt oder Seide.
Ingeborg fürchtet die Armut. Ich vergesse ihre entsetzten Augen nicht, als sie diesen mir so geläufigen menschlichen Zustand "furchtbar" nannte. Sicher fehlte nicht viel, und sie hätte das Wort "Geißel Gottes" gebraucht. Natürlich wäre sie damit im Recht gewesen, aber auch jene sind im Recht, welche annehmen, daß Gott die liebt, die er züchtigt.
Da wir eine sehr ernsthafte Freundschaft vorhaben, ist es notwendig, in Ingeborg diese Furcht wenigstens zu mildern, denn ich bestehe aus lauter Stücken purer Armut.
Nun handelt es sich also darum, diese Stücke zu reinigen und den ihnen innewohnenden Glanz zur Geltung zu bringen... Keine leichte Arbeit für eine gänzlich ungeübte Hand - und ich gebe zu, daß es eines Fachmannes bedürfte; - man müßte Lehrzeiten hinter sich haben, in denen keine einzige Stunde versäumt worden ist. Und nicht zu vergessen, das angeborene Talent! Möglich, daß ich einiges davon habe, aber dafür sind leider viele Stunden versäumt worden. Versäumt an nichtssagende kleine Lieder, eigentlich im Grunde nicht mehr als abgeleierte ernstlose Klagen, für niemanden bestimmt, von keinem erhört, eben nur abgetan, wie irgendeine andere Notdurft. Und dann die läßlichen Stunden vor dem Spiegel!... Wer kennt sie nicht, diese Abendstunden des Lebens, in denen das Licht jene ganz bestimmte Halbheit erreicht, die nötig ist, um jenen Zustand zu erreichen, der es einem möglich macht, auf sich selbst wie auf einen Zweiten zuzugehen. Ach, und wieviel Mühe und Aufwand dies immer wieder erfordert! Ich wenigstens erinnere mich, oft ein solch immenses Ausmaß an Kräften hierfür verbraucht zu haben, daß es mich hinterher dann wunderte, mein Herz noch schlagen zu hören.
Nicht zu vergessen, ich schreibe das für Ingeborg, deren Leben auch an jenen Grenzen verläuft, die mit der dunklen, aber verführerischen Markierung der Gefahr versehen sind. Den man liebt, möchte man stets vor Gefahr und Erfahrung bewahren... Man möchte!... Ingeborg, du Schöne, - dies alles zählt noch zu den Versäumnissen, mit denen ich mich um die Kräfte gebracht habe, die einen Talentierten erst zu einem richtig Ausübenden machen, zu einem Fachmann für die Erhaltung der echten, wertvollen Armut. Und es ist leider notwendig, dir dies zu sagen, damit du am Ende dem unzulänglichen Stückwerk genügend sanfte, verständige Geduld entgegenbringst. Ich möchte nicht, daß du meinst, es würde dir leichtfertig ein Abfall als Geschenk angeboten; es könnte dies dich, die der vorzüglichsten Gaben würdig ist, mit Recht verletzen. Aber wenn ich dich vorher zur Einsicht bringe, wenn es mir gelingt, dich zu überzeugen, daß in Wahrheit vollendet Heilige dazu notwendig wären, die Armut gerecht zu preisen, dann wirst du nicht nur Einsicht, sondern auch Nachsicht haben und das Gebotene so von mir nehmen, wie man von Kindern zu Geburtstagen oder Heiligen Abenden die ersten stummen, verstümmelten, naiven Zeichenblätter entgegennimmt, auf denen mit billigem Farbstift ein Herz oder eine Blume gemalt ist... Du hast Kinder. Allerdings - ich weiß nicht, ob es in deinen viel kultivierteren Kreisen vorkommt, daß Kinder so schenken, aber ich kann es mir gut vorstellen, daß du ein oder das andere Mal, zum Muttertag zum Beispiel, nichts als ein Blatt Papier mit einem ungeschickt gezeichneten Herzen bekamst, in welchem mit den ersten und so schwer erlernten Buchstaben die Worte: "Für Mutti!" standen... Nichts sonst... Kennst du das? Oder kannst du es dir wenigstens ausdenken, daß Kinder solches wie Könige verschenken, mit Ernst und Würde und dem Gefühl, etwas ganz Großartiges aus der Hand gegeben zu haben... Begreifst du?... Ich meine schon. Und deshalb - wenn mir auch, da ich kein Kind mehr bin, das königliche Gefühl der Großartigkeit und Würde abgeht, so fehlt mir doch auch die verhindernde Furcht, du könntest über meine so unvollkommene Gabe ins Lachen kommen. Lächeln darfst du. Ja, dies gerade möchte ich, daß du lächeln könntest endlich im dir noch so fremden und befremdenden Anblick der Armut... Doch ich greife vor. Ich bin ja noch nicht entschuldet, bis ich dir nicht gesagt habe, bis zu welchen Zerstreuungen ich mich verstiegen habe und wo meine Kräfte herumirren, die ich eigentlich alle dazu hätte verwenden müssen, um so heilig zu werden, als man es sein muß für die vollendete Herz-Zeichnung, darin groß und steil die Worte: "Für die Armut!" stehen... Wenn man über dieses Wort nachdenkt - und wie oft habe ich dieses getan!-, dann kommt man zu allerlei vielleicht richtigen, vielleicht aber auch verwegenen Schlüssen. Manchmal zum Beispiel meinte ich, es käme davon, daß man im Zustand der Armut arm an Mut wäre. Nämlich arm an jeglichem Mut. Aber wenn ich an meine Mutter denke, die in den allerbittersten, versorgtesten Stunden, wo sie selbst vor uns Kindern das Weinen nicht mehr in sich behalten konnte, doch noch so unbeschreiblich viel strahlenden Mut in ihren Augensternen hatte, dann komme ich von dieser Erwägung ganz und gar ab. Mehr Berechtigung - ach, wie nimmt sich dieses Wort hier kühl aus, wo sich doch alles um Gnade und nichts sonst als Gnade handelt, aber immerhin, sagen wir, mehr Berechtigung - hätte es vielleicht anzunehmen, daß Armut "Der Arm der Mutter" bedeutet. Denn: - sie hüllt ein, sie verschwistert und bleibt unentwegt treu, läßt sich durch keinen Verstoß abwendig machen, züchtigt und tröstet, bettet und weckt und tut überhaupt alles, damit ja nichts Fremdes Hand an ihre Kinder legen kann. Also nehmen wir an, daß in meiner späteren Herzzeichnung das Wort dieser Bedeutung entsteht.
[...]
Wir hatten eine junge Lehrerin bekommen. Nicht eigentlich wir, sondern die erste Klasse, für welche das alte Fräulein eben auch schon zu alt geworden war, und so bekamen wir die neue Junge für die Handarbeitstunden. Und sie war schön. Überdies hatte sie Kleider, wie wir sie im Dorfe noch kaum gesehen hatten. Auch gut war sie, wie ganz junge, eifrige Menschen eben gut zu sein pflegen. Alles sollte um sie her besser und gerechter werden, und da sie fand, daß ich bei so manchem wohl ziemlich benachteiligt wäre, fing sie nun an, bei mir Gerechtigkeit zu üben, indem sie mich eifrig und auffallend allen anderen bevorzugte. Sie scheute nicht davor zurück, mich als etwas ganz Besonderes den anderen hinzustellen und so, als wäre es auf einmal ein Vorteil, krank und zerbrechlich zu sein. Natürlich erreichte sie damit nur, daß der Abstand zwischen mir und den anderen ein noch weiterer wurde, aber das merkte sie nicht. Auch ich merkte es kaum, da ich sie und nur sie mehr wahrnahm. Es wurde eine recht arge und süße Zeit. Alle kennen wir diese Zeit, aber zu allen kommt sie auf eigene Art. Es sind die hilflosen und rührenden, aber auch unendlich stümperhaften Anfänge der Liebe. Es ist die Zeit, wo an dem inneren Aufbau des Menschen kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Was da alles zerstört wird, um vielleicht bloß den winzigsten und billigsten Rest eines Neuen zu erhalten, das müßte man einmal bis ins Äußerste verfolgen können, aber vor dem Ergebnis schrecken wir immer noch zurück. Denn wir wollen alle und ewig Lernende und Versuchende bleiben, wo es die Liebe gilt. Kämen wir darüber tatsächlich jemals hinweg und fänden dann, daß man entweder liebend ist seit jeher oder es überhaupt nie wird, dann würden wir uns zwar eine Unmenge an Mühe und Kraft ersparen, die wir immer bloß dazu anwenden, um das schon geliebt Geglaubte unliebenswürdig zu finden, aber wir wüßten dann eben mit unserer Kraft und Mühe auch nichts anderes mehr zu beginnen.
Es ist darüber hinaus so wenig Außerordentliches zu sagen, daß ich eigentlich damit genug täte, festzustellen, daß ich damals meine Eltern, meine Geschwister und auch Maria verlor, ohne dafür etwas nur annähernd Gleichwertiges zu erhalten. Zwei Jahre gingen vollkommen darüber hin, diesen längst schon wieder weit entfernten Gegenstand der frühen und unbeholfenen Liebe wie einen Stern zu halten, für den man morgens wach wird und abends einschläft, um vielleicht im Traum die leichte, fröhliche, immer etwas singende Stimme zu hören. Kein besonderer Zustand, und wir machen ihn alle ein oder öftere Male durch. Das Außerordentliche lag nur an der fast bösartigen Ausschließlichkeit meines Herzens. Aber erzählt soll dies nicht um dieser meiner Ausschließlichkeit willen werden, darin läge ja nicht der Sinn, der dem Ganzen zu Grunde erhalten werden muß, sondern die zarte und nachsichtige Schonung, die alle um mich herum bewahrten, darf nicht umsonst gewesen sein. Man darf nicht vergessen, wie hart gerade in dieser Zeit die Not daheim umging. Nie wußte die Mutter, ob das Geld für den nächsten Tag noch ausreichen würde. Der Vater und der Bruder waren schon arbeitslos, die Schwestern fast alle immer ohne Posten, und wenn es an der Tür klopfte, fürchteten wir alle, es könnte ein Bettler sein, der so ein armes Gesicht hätte, daß wir ihm doch noch ein paar von den letzten Groschen geben würden. Trotzdem, sooft ich die Mutter um das Wenige bat, das man für eine Briefmarke nötig hatte, gab sie es mir, wenn sie es nur hatte. Nie nahmen sie sich das Recht heraus, einen der ab und zu kommenden Briefe zu öffnen.
Natürlich hätten sie nichts dabei entdeckt als immer wieder die gleichen fröhlichen, freundlichen Worte, mit denen man eben den Ansturm eines allzu heftigen Herzens lächelnd abwehrt. Aber ich weiß, aus meinen damaligen harten Träumen weiß ich es noch, daß ich wie ein kleines wildes Tier geworden wäre, wenn man es mir einmal bloß angetan hätte. Nun, man tat es nicht, man ließ mich auch halbe Tage lang mit dem Schemel auf der Wäschekiste sitzen, um so auf dem Fensterbrett, dem einzig noch freien Platz, schreiben und schreiben zu können. Falls mich doch ab und zu eine der Schwestern ein bißchen necken oder zu einer kleinen Arbeit anhalten wollte, sagte die Mutter mit einem ganz wundervollen, scheuen und zugleich überaus mutigen Lächeln: "Laßt das Kind, sonst vertreibt ihr den Geist."... Ja, es ist seltsam, aber mit der Zeit gewöhnten sich alle, auch die öfter kommenden Verwandten, daran, von dem "Geist" als wie von etwas wirklich Vorhandenem und durchaus nicht mit Spott Abzutuendem zu reden. Sie verdrehten zwar das Wort ein bißchen, als ob es ihnen sonst zu groß oder zu schwierig im Munde würde, sagten, wenn sie mich schreibend auf der Kiste fanden: "Ist der Guist also wieder da?"..., aber sie traten doch etwas leiser auf, redeten bloß flüsternd über die Neuigkeiten und gingen nicht aus der Türe, ohne mir und dem "Guist" zart und begutend auf den Rücken zu klopfen.
Christine Lavant: Die Schöne im Mohnkleid.
Im Auftrag des Brenner-Archivs (Innsbruck). Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Annette Steinsiek. Salzburg: Otto Müller 1996. S.7-12 und 77-81.
Wrga, die Einäugige, hatte ein Wechselbälgchen. Aber sie tat so, als ob sie das nicht wüßte und nannte das Bälgchen manchmal bei seinem schönen Namen. Ja, sie fand diesen Namen überaus schön, obgleich der Duldiger-Pfarrer gesagt hat, daß der Name eigentlich eine Strafe sei, weil die verräterische Königin so geheißen hat, und wenn es ein Bub wäre, müßte es nach dem verbrecherischen Kaiser "Napoleon" heißen. Nein, er kannte kein Erbarmen, wo es um eine große Sünde ging, und ein Kind bekommen, zu dem man keinen Vater hat, ist eben eine große Sünde. Nein, er hatte auch bei Wrga keine Ausnahme gemacht, wenn sie auch ein gläsernes Auge hatte, das größer und viel schöner als das andere war. Er war gerecht, und wenn er mit seiner eigentümlichen schwarzen Kappe durch das Dorf ging, legte er immer die Hände auf den Rücken [und] verstrickte sie dort zu einem Knäuel, so daß er sie beim besten Willen nicht mehr von einander und nach vorne bringen konnte, wenn etwa Kinder daherkamen und ihm diese Hände hätten küssen wollen. Dorfkinder haben ab und zu noch solche unbegreiflichen Einfälle, nichtwahr, und vielleicht denken sie an bunte Bildchen dabei. Und wie leicht könnte es dann sein, daß unter diesen Kindern welche dabei sind, denen man es zuerst gar nicht anmerkt und die vielleicht gar nicht viel schmutziger und ungekämmter als die anderen sind und die zum Schluß dann doch ganz unschuldig sagen, daß sie Zita oder Napoleon heißen. Davor hatten die Hände des Herrn Pfarrer Angst, und so wollten sie lieber ganz und gar ungeküßt bleiben, als solches auf sich nehmen. Aber deshalb brauchte es noch immer nicht wahr zu sein, daß er - wie die Leute sagten - Vögel unter seiner schwarzen Kappe hätte. Er war einfach gegen die Sünde und für die Gerechtigkeit, und wenn er allein herumging, beredete er das mit sich und wurde wohl auch manchmal ein bißchen laut dabei und dachte vielleicht, er sei auf der Kanzel, mein Gott, was ist auch dabei? Ein Pfarrer kann schließlich reden, wo und wann er will, und wenn die Leute dann behaupten, er hätte auch noch ein Spinnrad unter seiner Kappe, so war das nicht nur erlogen, sondern auch unmöglich. Aber so sind die Menschen. Da gehen sie her und streuen unwahre Reden über einen aus, und wenn sie dann einmal so oder so in Not sind, dann gehen sie wohl am Ende gerade zu diesem einen, von dem sie eben noch Ungeheures behauptet haben, und bekommen gleich im voraus schon beim Frühbirnenbaum vor dem Pfarrhof Tränen in die Augen und Kummerfalten um den Mund und sagen drinnen dann Hochwürden hin und Hochwürden her und wie schön er beim letzten Hochamt wieder gesungen hätte, so recht zum Herzergreifen, und wenn sie dann fortgehen, haben sie das Geld für einen Anzug oder eine Nähmaschine oder was sie halt sonst unbedingt gebraucht haben. Und oft ist es sogar so, daß von dem Geld ausgerechnet eine Zita oder ein Napoleon ein Paar Schuhe bekommt zum Schulanfang. Denn die Gerechtigkeit hat zwei Seiten, und Willibald, der Pfarrer, muß mit seinen Händen immer wieder daran herumdrehen, und dabei werden sie alt und fangen an zu zittern. Seine Kappe und sein Anzug werden dünn und sein Atem kurz. Nur bei der Taufe wagt er nicht an der Gerechtigkeit zu drehen, da bleibt er unerbittlich, auch wenn es noch solche Kämpfe gibt. Bei Wrga hatte es keine Kämpfe gegeben. Sie hatte das Kind selbst zur Taufe getragen, weil sie niemanden belästigen wollte, und vielleicht auch, weil sie es niemandem sagen wollte, woher sie das Kind genommen hat. Und als er sie um der Gerechtigkeit willen strafen mußte, begriff sie es gar nicht und geriet vor Freude über diesen feinen Namen außer sich, und ihr gewöhnliches Auge erstrahlte fast so schön wie das gläserne. Was hätte er da anderes sagen sollen als einfach: "Gehe hin und sündige nicht wieder!" Ach nein, das wollte sie gewiß nicht, denn zwei Mädchen können nicht Zita heißen und Napoleon gefiel ihr nicht und einen Vater würde sie kaum je haben, wo sie doch bloß eine alte einäugige Kuhdirn war.
Aus: Christine Lavant: Das Wechselbälgchen.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider. Salzburg, Wien: Otto Müller 1998. S. 7-10
„Du bist heute Assistenzarzt, Kleine!“ Sagt Liselotte. Ja, solche Ausdrücke versteht die schon, und es ist wirklich ohne starken Engel unmöglich, etwas nicht zu tun, was sie will. Und er kommt nicht und kommt nicht!! –
Nun muß das Kind die armen, heiligen Blumen nehmen, denn das sind ja nun die Spritzen für die Augen, weil sie so lang sind und grad so aussehen wie Glasspritzen, sagt Liselotte. Aber da hat sie bestimmt nicht recht.
„Machen Sie schon, Doktor! Immer eine nach der andern. Erst eine große, dann eine kleine. Nein! – – Warten Sie: heute nur große. Die Augen sind alle viel schlechter geworden, und es soll nur richtig brennen. Das heilt.“ – Und wütend: „Du, Kleine, du kriegst deine Puppe bestimmt nicht wieder zurück, wenn du noch lange so blöd schaust.“
„Aber – was soll ich denn mit den kleinen Blumen tun?“
„Erstens sind es keine Blumen und zweitens wegschmeißen. Verstanden!“
Und immer noch vom Engel keine Spur!
Voll Furcht und Verwirrung und zwischen hineingeschleuderten Anrufungen nestelt das Kind – immer in Angst vor der Großen – die kleinen Blüten abgewandt in den dreimal aufgebundenen Spitalkittel, der ihm trotzdem noch bis zu den Knöcheln geht und ihm schon am ersten Tag den Namen „Großmutter“ eingetragen hat. Aber eben die Große war es dann schließlich gewesen, die das allen energisch verboten hat. „Sie kann nichts dafür, daß ihr der Kittel zu lang ist. Und wenn sie so klein ist, heißt sie halt die Kleine!“ Ja, so ist diese Liselotte! – Eine von den beiden Unzertrennlichen sitzt schon auf dem Schoß der Großen, wird aber trotzdem unentwegt von der Freundin an der Hand gehalten. Dieses vermag selbst Liselotte nicht zu verhindern. Sonst gebärdet sie sich sehr streng. Viel strenger als der wirkliche Herr Primarius.
„Sie, Doktor! Sie müssen mich schneller bedienen, sonst fliegen Sie!“ Und leiser: „Wenn du uns immer jedes Spiel verpatzt, dann scher dich fort, und sie können auch ruhig wieder Großmutter zu dir sagen – ich rühr keinen Finger mehr für dich, verstanden!? –“
Wo ist bloß der starke Engel? Hast du mir vielleicht den gewöhnlichen, den Alletageengel auch fortgenommen als Strafe für irgendwas?
Ach, es geht alles weiter wie immer. Der Reihe nach werden alle behandelt vom Herrn Primarius, dem ein stummer, aber beinah verbitterter Assistenzarzt, wenn auch willig und mit hastiger Eile, zur Seite steht. Sein Gesicht ist rot wie von Fieber, und die Augen fast ganz zu wie bei einem Schlafenden.
Eine fremde Patientin geht am Pavillon vorüber, eine von der Sechser-Abteilung. Sie hat schon ein paar kleine Kinder zu Haus, schaut sich aber immer fremde auch noch gern an. Sie kommt zum Eingang und lacht freundlich hinein. „Tut's Doktor spielen? Ist schon recht so. Was muß man ja haben, damit die Zeit nicht so lang wird, gelt ja! Und wie sie es schon kann! Wie ein richtiger Doktor! –“
Ob vom Lob angeeifert oder überhaupt – noch nie waren die Gebärden dieses großen, schönen Mädchens, der geborenen Schauspielerin, von so unheimlicher, ja geradezu erschreckender Ähnlichkeit mit der des großen Arztes. Ja, selbst die Erwachsene steht für einen Moment wie angerührt von etwas Befremdendem, Gewaltigem.
Liselotte hat mit einer unendlich liebevollen, warmen Art, wie sie der große Arzt für die kleinsten seiner Patienten hat, den Arm um Pepis Schulter gelegt, die sie eben aus der Behandlung entläßt. „So, mein Kind, das war brav. Morgen tut's dann nimmer so weh, gelt ja!“
Starker Engel! Starker Engel! Alle Heiligen und Nothelfer, steht mir bei! ...
Ist tatsächlich etwas Großes, Starkes gekommen? Die erwachsene Patientin geht aufeinmal so schnell fort.
Aufeinmal spürt Liselotte, daß etwas an ihren Zöpfen reißt. Sie ist viel zu erstaunt, ja erschreckt, als daß sie sich irgendwie wehren könnte.
„– – Du! Du! – Heute Nacht kommt zu dir der Teufel. Ja, wirst sehen! Aber der richtige, der Höllteufel. Und wenn du auch Liselotte heißt – und wenn du auch Zöpfe hast – und ein Kinderzimmer und alles, alles! Der Teufel nimmt dich mit. Dich und alles!!! Weil du – du tust Gspötttreiben mit den heiligen Dingen!“
Die Zöpfe werden weggeschleudert, und was nun dasteht, ist zwar klein und über und über verbunden, aber eine Feierlichkeit, eine Inständigkeit und zugleich Wildheit ist rundherum und läßt alle starr stehen wie Holzpuppen.
Ganz leise ist die Stimme, aber krank und heiß: – „Die Weinberger-Vevi, die einmal im Kloster gewesen ist und alle heiligen Dinge versteht, hat uns beim Viehhalten gesagt, wie wir „Tod“ gespielt haben, daß das eine Todsünde ist. Mit Gott und dem Tod und überhaupt allen heiligen Sachen darf man nicht spielen. Es ist eine Sünde mit dem Heiligen Geist, hat sie gesagt. Ja, genau so. Und wenn du Primariusdoktor spielst, so ist das auch so eine Sünde mit dem Heiligen Geist, und das ist die einzige, wo Gott nie vergeben kann, hat sie gesagt. – Tu's nicht mehr, Liselotte, bitte, tu's nicht mehr! –“
Die Große hat tiefrote flammende Flecken über den eigentümlich starken Backenknochen. Irgendeine unerhörte Entrüstung über diese geradezu herausfordernde Auflehnung gerade der Schüchternsten ihrer Gefolgschaft kocht in ihr. Aber aufeinmal kriegt sie so um die Mundwinkel herum etwas wie ein Lachen. Ganz klein ist es und hat eine leise Zärtlichkeit an sich. – „Großmutter!“ – sagt sie bloß. Und dabei ist ihre Stimme tief und weich und ganz erwachsen. Es klingt auch gar nicht wie Rache oder Hohn. Auch wie die andern alle nun pflichtschuldigst und im Chore „Großmutter“ sagen, ist sehr wenig Spott dabei. Eher klingt es wie eine Erleichterung nach all dem Schreck.
Als das Kind mit einer raschen – wie verscheuchten – Bewegung hinausgestürzt ist, sagt die Große ganz streng: „Wer noch einmal „Großmutter“ zu ihr sagt, ist ein Aff. Und mit Affen spiele ich nicht, verstanden?! – –“ Tiefes Erstaunen über so viel Unbegreiflichkeit sieht ihr entgegen, aber dahinter wie immer vollkommene Ergebenheit.
Nur Pepi sagt, während sie mit leichtem Bedauern dem letzten Bissen Torte nachschmeckt: „Der hätte ich eigentlich keine Schnitte geben brauchen.“ – „Kusch!“ Damit ist die Sache erledigt, und das Spiel geht weiter, aber – nicht mehr dasselbe.
Christine Lavant: Das Kind.
Hg. nach der Handschrift im Robert-Musil-Institut und mit einem editorischen Bericht versehen von Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider. Mit einem Nachwort von Christine Wigotschnig. Salzburg, Wien: Otto Müller 2000. S. 29-35.
Es wachsen hier ewig Berge der Qual, aber die Gipfel bilden jene, die täglich liebend hierherkommen und verzweifelt wieder gehen. Diesen kann man nicht ins Gesicht sehen, man ertrüge es einfach nicht.
Es ist überhaupt schamlos, dabei zu sein, und doch lege ich mich mittags nur deshalb oft auf ein paar Stunden hin, um zur Besuchszeit im Schlafsaal zu sein. Und da kenne ich nun eigentlich schon alles auswendig. Den schmalen, gebogenen Rücken der alten Dame, wenn sie die Haare ihrer Tochter vom Boden hebt, die breiten, hilflosen Schultern des Mannes, mit denen er immer soviel als möglich von den Rosen oder Nelken verdecken will, welche er stets auf die Bettdecke und ganz nahe an das Gesicht seiner Frau legt. Ach, wie sie immer wieder etwas von diesem Gesicht erwarten können! Das leiseste Zeichen des Erkennens, ein Lächeln, den Abglanz eines früheren Lächelns vielleicht nur, oder einen veränderten Ton in ihrem Wimmern. Aber es geschieht und verändert sich nichts. Leise und hoch schneidet der ewig gleiche Ton in fast wie berechnet wirkenden Abständen durch den Saal, man denkt immer wieder an eine junge Katze in Dornen dabei. Wie oft mag das Herz dieser Mutter schon durchbohrt worden sein?! Nein, ihr Gesicht kenne ich nicht und will es nie kennen. Ihr Rücken und die blasse Biegung ihrer Hand, welche für Sekunden oft zitternd über der Stirne der Wimmernden hängt, genügen für jede Aussage. Manchmal, ehe sie den Saal verläßt, wendet sie sich für einen Augenblick dem Bett der Majorin zu. Zwei Mütter, zwei alte Damen aus der Gesellschaft, zwei unendlich Leidende. Gläsern und dünn wird die Luft um die beiden, und oft tritt dann gerade der Sohn ein. Er grüßt Hansis Mutter fast wie eine Heilige, sonst grüßt oder sieht er niemanden. Mit ein paar großen Schritten ist er am Bett seiner Mutter und küßt ihr die Hand. Diese Hand ist nun aber keine Vogelkralle mehr, sie ist das Vornehmste und Zurückhaltendste, das man sich denken kann. Immer wirft jemand Schleier um diese beiden, und man kann eigentlich nur mit geschlossenen Augen ahnen, was wahrhaft vor sich geht. Denn, dieses ist nicht das Wahrhafte, daß der Sohn stets eine Zeitung entfaltet und leise daraus vorliest, auch nicht die paar Sätze, die sie auf französisch zu einander sagen, nicht das Klirren des Gitterbettes, wenn eine Bewegung etwas stärker oder jäher ausfällt. Nein, dieses alles geschieht nur außen herum, etwa wie ein undurchdringlicher Glassturz über etwas unendlich Kostbarem. Innen haben sie Verzückung aneinander. Ich weiß es, ich spüre es, wenn ich mit geschlossenen Augen in meinem Bett liege. Hier gehen noch Veränderungen vor, die keinem Wunder nachstehen. Das ist nun keine Irre, keine Tobende und Fluchende mehr, nicht der leiseste Hauch von Haß lebt in diesen Stunden in der alten Aristokratin. Wie Christus über das Wasser, geht diese Mutter in der Gegenwart ihres Sohnes über das Meer ihres Irrsinns. Und er glaubt ihr. Er fürchtet keine Sekunde, daß sie plötzlich wieder einbrechen könnte. Und sie bricht nicht ein. Nie bricht sie früher ein, als bis sich die letzte Türe des Irrenhauses hinter dem Sohn geschlossen hat, dann aber wird es furchtbar. Es ist, als ob sich eine ganze Hölle rächen wollte, daß sie für eine Stunde aus ihrem Eigentum verwiesen worden war. Aber das kann man mit Worten nimmer sagen, das ist fast noch schlimmer als der Anblick der Gekreuzigten. Ob ich nach den Wochen hier noch einmal die Lust oder den Mut haben werde zu lachen? Ach, vielleicht sogar sehr? Vielleicht soll man überhaupt an solchen Orten erst das Lachen erlernen, um es ganz unverlierbar in sich zu haben.
[...]
Nicht zu vergessen, daß es Samstag war. Samstage haben alle – weiß Gott warum? – etwas unbedingt Feierliches an sich. Man denkt an gekehrte Höfe, leise wehende, reine Fensterflügel, darin Abendrot oder gar ein schon aufkommender Stern sich spiegelt, sanftgeschwungene, unter den bloßen Füßen nachgebende Wiesenwege mit Pfützen da und dort, die fast auch wie spiegelnde Fenster in eine tiefere, innere, seltsame Welt schimmern. Alles ist an Samstagen weitaus möglicher als irgend sonst einmal. Immer meint man, nun müßte das kommen, worauf man ständig und seit langem, seit frühester Kindheit her gewartet hat. Das ists, das Erwarten! Die wunderbare Bereitschaft zu Erlebnissen, die endlich einmal kommen müßten. Nicht das Leben ist ja wichtig, nur das Erlebnis. Und vielleicht wußten sie das alle irgendwie, vielleicht hat jedes hier noch soweit eine heile innere Stelle, die es befähigt, manchmal von Zeit zu Zeit ruhen und warten zu können. Nur wirkte es hier so seltsam und verkehrt, diese feierliche Ruhe. Sogar der Buckligen brach aus ihren sonst immer so bösartigen Runzeln, leicht und seidig wie von irgendwoher ganz zart beschienen, dann und wann ein Schimmer von stiller Güte durch. Niemand tobte, niemand bekam einen Anfall, und wer dies bis zu Ende bedenkt, müßte eigentlich zugeben, daß die Zeit der Wunder immer noch nicht vorbei ist. Wir wollen sie nur immer ganz auffallend und glänzend bekleidet auf uns zukommen sehen, darin liegt es. Allerdings, aber das ist noch lange kein Gegenbeweis, die Majorin drinnen schrie und fluchte weiter, und trotzdem Schwester Marianne befahl, die Schlafsaaltüre geschlossen zu halten, hörte man es unentwegt in die Stille heraus. Aber die drinnen hat eben andere Gezeiten als wir, wie sie früher ja auch andere Lebensgewohnheiten und Lebensbedingungen hatte. Hansis Wimmern fiel nicht auf, denn es gehört hierher wie das Schlagen einer Uhr. Die Gekreuzigte lag unter dem Lautsprecher, knapp an die Mauer gepreßt, um niemanden zu stören, und sie bat auch um nichts. Schwester Marianne ist sicher gut, aber noch sicherer kein gutes Ziel für Bitten ihrer Art. Und so ging dann der Abend weiter vor, verkehrt oder richtig, er war ein Samstag-Abend und wollte feierlich sein auch hier. Der auserwählte Kreis bestand aus einigen Lehrerinnen, einem kleinen, älteren Fräulein, das, obwohl es auch nur eine Schneiderin ist, irgendwelche Ausnahmestelle hier einnimmt, aber ich meine jetzt nicht die elfenbeinerne Prinzessin, die hatte sich schon in ihren Schlafsaal zurückgezogen. Das Fräulein, man ruft sie hier Fräulein Hermine, ist ebenfalls eine nicht ans Ziel gekommene Selbstmörderin, hat eine klagende, sanfte, aber doch irgendwie selbstherrliche Stimme, ihren Aufenthalt hier bezahlt ja eine Krankenkasse. Darin liegt viel. Zur Rechten von Schwester Marianne, und aufeinmal wie eine Persönlichkeit, fand sich die Sängerin, ein mächtiges, vollbärtiges Geschöpf mit manchmal unheimlich wilden Augen, die schnarcht immer wie ein Motor, und wenn man ihr nahekommt, meint man in einem Zirkus zu sein, sosehr erinnert ihr Geruch an fremdartige Tiere. Aber sie hielten es aus, alle. Denn sie sang ja. Nicht sie allein, auch Schwester Marianne tat es, und die anderen halfen nach Vermögen. Wenn sie ein Volkslied, ein schwermütiges Liebeslied oder auch nur einen Schlager gesungen hätten – auch Kirchenlieder meinetwegen –, dies alles wäre vielleicht angegangen und auf seine Art möglich gewesen, aber sie sangen: „Früh morgens, wenn die Hähne krähn, eh noch der Wachtelruf erschallt ...“ Ach du lieber Gott, sie sangen wirklich: „Dann gehet leise, nach seiner Weise, der liebe Herrgott durch den Wald!“ ... Denkt das bloß aus, ihr alle, für die ich es vielleicht außer für mein eigenes armes Herz niederschreibe –: hier im Irrenhaus, in dem hinter ewig verschlossenen Türen zusammengepferchten Hunderterlei verschiedener Wahnsinnsarten, sangen sie: „Dann gehet leise, nach seiner Weise, der liebe Herrgott durch den Wald!“ ... Ein vollbärtiges, halbvertiertes Weib, das nie mehr in seinem Leben einen Wald zu sehen bekommen wird, mußte dies hier singen, weil es Samstagabend war und eine junge, frömmige Schwester, die in ihrer Freizeit so viel sie will in den Wald gehen kann, dies wünschte. ... Und ich hatte mir eben vorher noch vorgenommen gehabt, alle, auch diese, zu lieben, und nun kam es dahin, daß ich ihr den erdenklich größten Schmerz hätte zufügen mögen. Irgend welche Anfälle stehen mir leider nicht zur Verfügung, sonst hätte ich es leicht gehabt, alles auf eine geläufige Art zu unterbrechen, die Zwangsjacke schreckte mich nicht. Aber Verstellung ist hier so schwer, viel schwerer als anderswo, man stößt hier ja gleich auf alle die echten Ausbrüche wie auf lauter Gegner und müßte dazu schon sehr geübt und sehr stark innen sein. Beides bin ich nun nicht, und da hatte ich es schwer. Nun, nun, nur nicht weinen, ... Buddha mag zwar hart und durchsichtig wie der edelste Stein sein, aber an irgendeiner Stelle wird auch an ihm noch so etwas wie Gnade oder Vergebung herrschen. Wenn alles Ursache und Wirkung ist, dann liegt darin allein schon wenn auch nicht Vergebung, so doch Berechtigung. Und Ursachen waren da, waren in dem durch den Wald gehenden Herrgott, der sich in einem Irrenhaus ansingen ließ.
Aus: Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus.
Hg. u. m. e. Nachwort versehen v. Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider. Salzburg, Wien: Otto Müller 2001. (2. und 3. Auflage 2002.) S.18-21 und 69-73.
Sehr verehrter Herr Ludwig von Ficker!
Ihr Brief hat mir so wohl getan und ich hätte Ihnen am liebsten gleich wieder geschrieben; aber dann hab ich mir doch Zurückhaltung auferlegt gerade weil ich in Ihnen so viel Nachsicht Güte und Verständnis spüre. Auch um meinetwillen hab ich es getan um es immer nah vor mir zu haben.
Jetzt aber weiß ich daß über Kurzem wieder alle Härte und Drangsal über mich kommen wird (man spürt das vor) und da möchte ich meinen Brief bei Ihnen wissen und auf Antwort von Ihnen, hoffen und warten können.
Ich muß Ihnen was sehr Ernstes schreiben: Es ist so, daß ich glaube, daß Sie mir sehr viel helfen könnten. Das - nämlich, was ich am meisten brauche, ist eine Stelle im Menschlichem, welche Ehrfurcht und Vertrauen in mir auslöst.
Für Geschöpfe meiner Art ist es sehr weit bis um Herzen Gottes. Deshalb mangelt es ihnen dann so sehr, so am allermeisten, an der wichtigsten Nahrung des Gemütes, - an Ehrfurcht und Vertrauen. Geraten sie in ein normales Leben so wird dieser Mangel durch Liebe und menschliche Wärme verdeckt oder auch ersetzt, ist ihnen das aber vorenthalten, dann bricht wider alles Dämonische immer und immer wieder der tragischste und zugleich naivste Zustand durch, in welchem ein menschliches Gemüt sich überhaupt befinden kann, der Zustand wo alle Kräfte darauf aus sind die Entfernung zu Gott hin zu verringern und das um jeden Preis - (und meist mit verfehltesten Mitteln.)
Man muß nicht östlich eingeweiht sein - die verborgene Weisheit in jedem von uns zeigt mittels Begehr auf das Tägliche Brot dessen wir am meisten bedürfen. Und schon als Kind hatte ich die größte Sehnsucht nach Ehrfurcht und Vertrauen. Nicht jeder bekommt das Tägliche Brot unmittelbar von Gott. Ich glaube, daß es in den meisten Fällen innerhalb des Menschlichen von Stufe zu Stufe hinabgereicht wird.
Dies alles hab ich Ihnen, verehrter Herr von Ficker, geschrieben, schon mit den leisesten Anfängen jener beiden Empfindungen die ich so sehr mir erwünsche, die meine "Seele" für mich wünscht.
Vielleicht mögen Sie mir helfen wenigstens eine Strecke lang? Freilich müßte sich diese Hilfe ganz natürlich in Ihnen herstellen, nicht als Verpflichtung und noch weniger als Last. Denn das Brot das von oben nach unten gereicht wird muß - glaube ich - wie aus Überfluß kommen, und nicht wie etwas vom Munde Abgespartes. Überfluß freilich kann auch kommen wenn von den Unteren her die Not so hoch hinaufsteigt daß es dem Nächsten oben den Herzboden erhöht. Auf Grund solcher Ausgleiche können manchmal langwährende u. ausschlaggebende Hilfeleistungen entstehen ohne daß Gott gezwungen wird ein Wunder zu tun (oder sonst, eine Seele zu verlieren).
Um es noch einmal und ganz klar zu sagen: Kreaturen meiner Art die sich erst entkrampfen müssen um endlich eine Mitte zu bekommen welche kein Knoten ist, brauchen als Erstes und Wichtigstes einen Menschen der in ihnen Ehrfurcht und Vertrauen auslöst und ich glaube das Sie verehrter Herr von Ficker, dies bei mir vermögen.
An diesen Brief sind Herz und Verstand beteiligt und somit Hoffnung und Einsicht.
Ich brauche einen Menschen bis ich Gott habe.
Christine Lavant.
Kommentar
Ihr Brief: nicht erhalten. Christine Lavant konnte 1966, auf Gegenbriefe von Ficker hin befragt, nur einen Brief (vom 7.8.1955) und eine Karte (vom 21.9.1956) übermitteln.
Aus: Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1940 - 1967.
Herausgegeben von Martin Alber, Walter Methlagl, Anton Unterkircher, Franz Seyr, Ignaz Zangerle. Innsbruck: Haymon 1996, S. 277f.
An Otto Müller, Otto Müller Verlag, 27.12.1954
27.12.54.
Christine Lavant
St. Stefan i. Lavanttal
Kärnten.
[Eingangsstempel:] 29.XII.1954
Sehr geehrter Herr Otto Müller!
Bei Ihrer Auswahl für mein Weihnachtsgeschenk müssen Sie fast luziferisch beraten gewesen sein. Möglicherweise war es aber auch nur die ganz kluge Erwägung zu zeigen: So kann man bei Otto-Müller herauskommen. Ob Luzifer oder angewandte bildliche Überredung – das End vom Liede ist ein heilloser Schreck. Sie können natürlich das End nicht begreifen, weil Sie das Lied nicht kennen. Aus diesem Grunde ist mein Dank auch so als wären Sie von Engeln beraten gewesen. Nur gibt es Dinge die sich weder von Dank noch irgendeinem anderen Gefühl beeinflussen lassen. Hier liegt Sowas vor.
Also:
Ich will in d i e s e Anthologie nicht hineinkommen.
Ich weiss – Verleger haben nicht nur eine Schutzfarbe sondern unter Umständen auch eine Schutzvorrichtung die sie aller Sinne entledigen. Trotzdem will ich hoffen, dass Sie in diesem Fall nicht ganz taub sind und mich verstehen wenn ich ganz laut und ganz deutlich sage: Ich will in diese Anthologie nicht hineinkommen!
So! – Nun zur anderen Seite Ihres Briefes:
Wenn Sie nach all dem noch den Wunsch haben meine Gedichte als ganz selbständigen Band herauszubringen ihn in keine Reihe keine Verbindung mit anderen zu zwingen, dann wollen wir die nötigen Dinge zunächst einmal gründlich besprechen.
Schreiben Sie mir bitte ( - Ihr Wunsch ist hier immer noch vorausgesetzt!) – die Mindestanzahl die zu einem Band nötig ist. Ich habe Ihren Brief nicht zur Hand dank einer göttlichen Unordnung – weiss daher also nimmer welche Trostgründe Sie wider meine Einwände gebracht haben. Wissen tu ich nur, dass die meisten meiner Gedichte so persönlich sind, dass jeder Verleger dabei seine arme Haut riskiert. Nicht dass ich mich um die Ihre besonders ängstige aber ich halte es für eine Anstandspflicht Sie darauf aufmerksam machen zu müssen.
Wahrscheinlich ist all dies sowieso schon ein Schlag ins Leere weil Sie sich – so nehme ich an – schon nach den ersten Zeilen verflüchtigt haben werden.
Ich möchte den Namen Gottes nie missbrauchen aber was ich Ihnen hier geschrieben habe, von allem Anfang an, geschah – soweit es ein Mensch wollen kann – in seinem Namen.
Darum ist mir auch um das End d i e s e s Liedes nicht bang. Wenn es sein soll so werden meine Gedichte erscheinen bei Ihnen oder in Tripstrilien, wenn nicht so werden sie das Ihrige ohne jede hiesige Erscheinung tun.
Zum Schluss möchte ich Ihnen noch sagen, dass es lieb von Ihnen war, mir zu Weihnachten etwas zu schenken. Und noch was: Grüssen Sie bitte Ihre Tochter schön von mir.
Auch Sie grüsse ich herzlich und mit viel guten Wünschen für das Neue Jahr und für Ihr Leben überhaupt.
Christine Lavant
Aus: Christa Gürtler: "Fluchtwurzel" oder "Spindel im Mond"?
Anmerkungen zum Briefwechsel zwischen Christine Lavant und dem Otto Müller Verlag. In: Arno Rußegger, Johann Strutz: Die Bilderschrift Christine Lavants. Studien zur Lyrik, Prosa, Rezeption und Übersetzung. 1. Internationales Christine Lavant Symposion Wolfsberg 11. - 13. Mai 1995. Salzburg, Wien: Otto Müller 1995, S. 180f.
An Ingeborg Teuffenbach, 24.08.1948
am 24.8.48.
Liebe gütige Ingeborg.
Ich glaub jetzt werde ich nie mehr eine wirkliche Angst haben daß ich Sie auf eine kleinliche Art verlieren könnte. (Denn dies wäre ja das bitterste daran gewesen, diese für alles Bisherige so ganz und gar nicht zuständige Art). Jetzt werde ich mich auch nie mehr wenn ich zu Eurem Haus einbiege, unwillkürlich ducken oder krampfhaft aufzurichten versuchen, denn was schlimmstenfalls sein kann, ist höchstens eine zufällige nicht vorgesehene Abwesenheit Ihrer Person oder daß Sie mal nicht Zeit haben, - und so.. Aber anderes steht nun wohl nimmer zu befürchten, gelt nein?.. Und wenn ich mir dann noch ernstlich Mühe gebe, nie was zu tun - gar nichts - was ich nicht vor Ihnen offen sagen könnte, dann kann es eigentlich nur ein Unglück sein, wenn es je zu den Verlust dieses meines liebsten und greifbarsten Trostes käme. (Unglücke kann man ertragen auch der Empfindsamste von uns.)
Ich denk ich werde Sie nun doch vielleicht nimmer sehen ehe ich wegfahre, denn Sie haben ja so viel Beanspruchung vor sich, daß es nicht zu verantworten ist und besonders, wo ich es nimmer gar so bitter not habe, mit dieser schönen ganz neuen Sicherheit im Herzen. Meine liebe Ingeborg!....
Aber wenn ich dann wiederkomm und das und das zu erzählen hab, dann gehen wir - wie freu ich mich schon darauf! - ein bißchen hinaus in die Sonne, (falls welche ist), Sie brauchen ja soviel Sonne und ich trauriges Anhängsel hab Sie Ihnen Nachmittage-lang genommen. .. Und denken Sie bloß wie es im Winter sein wird! Schnee draußen und milchiger Himmel darüber oder ein tiefer föhniger, mit Wolken die wie Botschaften über das Land gehen, und wir haben es darunter immerhin gut ob wir nun die Botschaften begreifen oder nicht... Und manchmal wird der frühe Mond da sein wenn ich heimgehe und die tagsüber ziemlich schüchternen Bäume, werden erstarken so daß man getrost über ihre wunderlichen Schatten wegschreiten kann ohne Furcht ihnen was Arges damit anzutun. Dann und wann wird einem ein altes vermummtes Weiblein begegnen - ach mein Gott jetzt fällt es mir ein -: warum haben wir alle letztes Mal (ich meine gestern wie wir in die Stadt gingen) für den alten Mann der unter einem Baum Zeitung las, nichts gehabt? Sicher weil wir nicht einzeln waren, sonst hätte wohl keines von uns an ihm vorüber können. (er hatte ein so abgebrauchtes aber längst noch nicht un-williges Gesicht.) Leider ist mir erst daheim eingefallen daß ich noch ein paar Zigaretten gehabt hätte, im Augenblick aber trotzdem ich rasend nachdachte fiels mir nicht ein. Und so werden wir immer auf eine fast lächerlich unschuldige Art schuldig. .. Hoffentlich komm ich Ihnen nun nicht schon wie eine Anwärterin zur Heilsarmee vor? Solche Sachen sind nämlich ausnahmslos schrecklich, aber gelt Sie merken schon wie ichs mein, das nämlich, daß wir nie für den gerade möglichen und vielleicht auch ein wenig nötigen Liebesakt unvorbereitet sein dürfen. Das Herz unsere herzlichste und gültigste Herzstelle soll immer wie auf "dem Sprung" sein so daß der leiseste Anstoß genügt die Schwingung zum Anderen hin auszulösen. "Wohltaten" sind furchtbar, aber wohltuen tut immer beiden Teilen wohl. Ach bitte lachen Sie mich nicht aus, ich meins sonderbar ernst darin, es gibt nämlich so wenig darüber hinaus Gültiges.
Aber ich wollt ja bloß sagen daß ich mich auf den Winter freu, denken Sie, der erste Winter wo ich eine Ingeborg hab!!! Wie neu wird alles sein.. und gelt, einmal darf ich auch zwischen den Feiertagen kommen, bloß für ein bißchen bloß für so viel daß ich weiß wie Sie um Weihnachten herum aussehen, reden, was für [ein] Kleid Sie anhaben... Ich weiß nicht ob, - aber es könnte immerhin sein, - daß Sie manchmal ein bißchen bange werden es könnte hinter meinem so jähen Zuneigungswinkel was Dunkles Verbogenes stehn, aber ich glaub da kann ich ganz offen "nein" sagen. Sicherlich ist ein Herz das sich so ausschließlich vom Liebhaben nährt manchmal recht wahllos wenn es ums liebe Brot geht und besonders wenn lange Zeit nichts da war, aber eine Unlauterkeit schlechthin ist schwer denkbar. Gerade so gut könnte man ein Kind unlauter nennen, das völlig harmlos Steine Blumen Tiere Menschen Sterne und überhaupt alles was "schön" ist zu fassen versucht. Ich werde immer noch Kind sein auch dann noch wenn ich vielleicht vom Fürchterlichsten überwältigt im Irrenhaus zu Grund geh. Es ist dies zum Teil sicherlich Veranlagung zum größeren aber wohl der Umstand daß ich als Jüngste und ewig-Kranke immerfort das Kind war für die Anderen auch dann noch wie die Bögen meiner alten greisenhaften Trauer schon weit über ihr Den[k]en fortging[en]. Und es ist gut so, ist sicher eine Art Ausgleich die mir zugebilligt worden ist. Ich müh mich deshalb auch nicht ernstlich nach einer Veränderung, sie würde mir bloß das letzte Fußbreit Boden, das ich hier noch hab, wegziehen und ich stünde dann völlig überm Abgrund. Ist's Ihnen öde soviel "Bespiegelung" mit ansehen zu müssen?... Schweigen und Verhalten ist gut, aber wo es um Dinge geht die so heickel sind daß die leiseste Ungeklärtheit schwere Irrtümer hervorrufen könnte da hat Sprache und Deutung einzusetzen.
Denken Sie, daß ich heute Nacht kein bißchen geschlafen hab. Toni (Nona) war doch herausgefahren, und hatte Gertrud "überfallen" (solche Überfälle versetzen Gertrud - wenn wie eben ihr Mann nicht daheim ist - in einen wahren Taumel der Begeisterung) und wie ich erst ums Eck bieg daheim, sagt mir die Hausfrau schon daß ich zu Lintschnig kommen soll. Um nicht noch ein Versäumnis auf mich zu nehmen flog ich gleich hinauf wurde von Toni fast zu Tod geboxt und von beiden unverschämt beschimpft (ach wie ich sie gern hab diese Kindsköpfe!!!) und dann kam Nachtmahl und Wein, (der Gebieter hätte blutige Tränen vergossen wenn er es wüßte!) aber ich wurde vorher nochmals heimgejagd um meinem Mann zu überreden, daß ich oben übernachten dürfe. Natürlich schlug der meine Bitte nicht ab. Und dann erst wurde ich gelabt - unter tödlichen Beschimpfungen natürlich (gegen diese beiden Furien komm ich nicht mal in meinen besten Stunden auf!) und dann - gnade mir Gott, (ich hatte wohl vorsichtigerweise meine Brieftasche fast ganz geleert) hieß es, mit diesen beiden Todfeinden die Nacht durch "Kartenspielen"... Gertrud hat natürlich am meisten gewonnen, wo Tauben sind fliegen Tauben zu, ich mußte mich mit lumpigen 20 Groschen zufriedengeben und Toni haben wir geplündert. Ha-Ha-Ha-Ha!! (geschieht ihr ganz recht, zu was hatte sie auch immer soviel Glück in der Liebe. Mindestens Zehn wollten sich ihretwillen vorzeitig ins Jenseits bringen, haben sich aber gottlob noch rechtzeitig besonnen, bravo!!) Dann hatte ich die Ehre auf Gertruds Diwan zu "schlafen"... Indische Fakiere sind Waisenknaben gegen mich, das können Sie getrost glauben. Wenn mich von unten mal nichts stupfte schlug bestimmt die vorsintflutliche Uhr ober mir getreu die Viertelstunden... Toni aber lag um neun Uhr noch wie ein Frischgeborenenes unschuldig in einem der Ehebetten und ich habs nicht übers Herz gebracht den "süßen Schlummer" zu stören, obwohl ich brennend gern ihre Schmachtlocken irgendwo angebunden hätte.
Ach Ingeborg - merken Sie wie leicht und herzlich lustig das Leben sein kann wenn - wenn - ...
Liebe Ingeborg ich muß nun fertig kochen und nachmittags mit Toni in die Stadt sonst bringt sie mich um. Und vielleicht schreib ich Ihnen bald wieder. Jetzt darf ich es ja wieder - in den letzten Wochen da alles so unklar war wäre jede Beeinflussung von meiner Seite unanständig gewesen, nämlich, so wie ich annahm daß die Dinge lägen.. Gelt das begreifen Sie und sicher hätten auch Sie nichts als warten können wenn Sie sich je in eine solche Lage eingeredet hätten..
Liebe Ingeborg ich dank ihnen viel Frohsein viel Mut - und bedenken Sie bloß, was dies einem Menschen mit meiner Schwere bedeutet, und was Ihnen da alles - vielleicht bloß wie neben her, - gelungen ist. Was muß Ihnen dann erst gelingen, wenn [Sie] ganz und hauptsächlich sich einsetzen? Ich könnte mir Ihr Leben denken wie eine Glocke hoch über dem Dasein der Andern immer - Aufruf nach hoch hinauf!.. Liebe liebe Ingeborg - und ein wenig auch - meine...
Christl.
(Vergessen hab ich's nicht, aber ganz zum Schluß kommt mir erst der Mut Sie zu bitten auch Ihrer lieben Frau Schwester zu danken, weil auch sie immer so gut zu mir ist, bitte!)
Kommentar
Diesen Brief schickte Ingeborg Teuffenbach am 13.4.1964 an Ludwig v. Ficker (vgl. Anm. zu Brief 33) mit folgendem Begleitschreiben:
"Lieber verehrter Herr Professor Ficker,
es fällt mir nichts besseres ein, als Ihnen zum Geburtstag einen alten Brief von Christl zu schenken - einen, aus der Zeit, wo sie noch ganz arm und unsicher war. Ich tue es - wie Sie sich denken können - nicht, weil ich in Christls Leben damals eine Rolle spielte, sondern, weil ich Ihnen ein Stückchen von der damaligen Christl schenken will. Sie verstehen und lieben diesen Menschen wie kaum jemand anderer, lieber Herr v. Ficker, deshalb sollen Sie auch mehr, als die anderen Leute von ihm erfahren.
Mit den allerbesten u. herzlichsten Wünschen für ein glückliches Lebensjahr verbleibe ich
Ihre Ingeborg C. Teuffenbach" (handschr., Nachlaß L. v. Ficker, Brenner-Archiv)
"ehe ich wegfahre": Ziel und genaueres Datum dieser Fahrt sind nicht bekannt; der folgende Brief ist sicherlich von dieser Fahrt geschrieben worden.
"ewig-Kranke": Als Kind hatte sie Skrofulose (eine veraltete Bezeichnung, die die Prädispositon zur Tuberkulose meinte; seltene Haut- und Lymphknotenerkrankung im Kindesalter, geht einher mit einer Verhornung der Bindehaut, nässenden Ausschlägen usw.); es blieben ihr davon eingeschränkte Seh- und Hörfähigkeit. Die Formulierung "ewig-Kranke" sollte sich auch für ihr weiteres Leben bewahrheiten; in den Briefen spricht sie immer wieder von Bronchitis, Grippe und Verkühlungen, Hinweis auf eine stark geschwächte Abwehrkraft; überhaupt war ihr Körper von einer ungeheuren Empfindlichkeit. Sie hatte Nervenentzündungen in den Armen, leidet später an Basedow und an manchem anderen. Ihr Organismus ist vorzeitig verbraucht, an Gerhard Deesen schreibt sie: "Ich bin biologisch nicht 48, sondern 68 Jahre alt." (Ende Okt. 1963, ensemble, Heft 5, 1974, S. 151; Deesen war damals Rechtsanwalt in Kaufbeuren; er nahm aufgrund seiner Begeisterung für ihre Gedichte 1962 den Kontakt zu ihr auf. Persönlich trafen sie sich nie; der Kontakt dauerte wohl bis zu ihrem Tode; der letzte Brief an ihn stammt vom Juni 1972.) Auch Depressionen nahmen ihr körperliche Kraft.
"Toni (Nona)": Christine Lavants Schwester Antonia Kucher, geb. Thonhauser, geb. 16.10.1907 (St. Stefan), gest. 18.6.1978 (Klagenfurt), ein Sohn, wohnte seit den frühen 20er Jahren in Klagenfurt.
"Gertrud", "ihr Mann", "Lintschnig": Gertrud und Johann (Hans) Lintschnig. Sie führten seit 1933 in St. Stefan einen Gemischtwarenladen. Gertrud Lintschnig, geb. Puntigam, geb. 7.3.1908 (Groß St. Florian, Stmk.), gest. 6.5.1965 (St. Stefan), war eine der ältesten Freundinnen Christine Lavants. Christine Lavant lernte sie früh über die 'Wettl-Tant' kennen, d.i. Barbara Hans (die einzige Schwester von Christine Lavants Mutter). Diese sah als Hausangestellte der Lintschnigs auch auf deren vier Söhne und brachte dazu wohl manchmal eine eigene Nichte mit. Im Herbst 1950 zogen Christine Lavant und ihr Mann nach dem Ausbau des Lintschnigschen Hauses dort in eine Dachkammer als Mieter ein.
"die Hausfrau": die Frau des Hauses = Vermieterin, zu diesem Zeitpunkt Frau Maria Juri (1900-1969). Nach dem Tod der Mutter 1938 (der Vater war im Jahre zuvor gestorben) mußte Christine Lavant den kleinen Wohn-Raum, den die Familie sich geteilt hatte, aufgeben und bezog in der Nähe ein winziges Dachzimmer im Haus des Bergarbeiters Johann Juri (1897-1977) und dessen Frau. Nach der Heirat 1939 zog zudem noch ihr Mann dort ein. Sie war dort neben den ärmlichen Verhältnissen auch Härten durch die Vermieter ausgesetzt (vgl. Briefe 10, 11, 12).
Hinweis: Der Begriff "die Frau" bezieht sich nach dem Zeitpunkt des Umzugs in das Haus der Lintschnigs (Herbst 1950) in allen Briefen auf ihre neue 'Vermieterin' Gertrud Lintschnig.
"Kindsköpfe": Im Original steht 'Kinsköpfe'. Es ist trotz der hier durchgeführten Korrektur nicht ganz auszuschließen, daß es sich im Original nicht um eine Verschreibung als Flüchtigkeit, sondern um das Muster 'schreiben-wie-sprechen' handelt.
"meinem Mann": Josef Benedikt Habernig, geb. 4.5.1879 (Aich/Klagenfurt), gest. 4.10.1964 (Klagenfurt), Kunstmaler (Landschaft, Ansichten). Habernig konnte seiner Absicht, in Wien an der Akademie Malerei zu studieren, nicht folgen, da er den elterlichen Gutshof (Aich bei Klagenfurt) übernehmen mußte. 1911 Heirat mit Maria Elisabeth Sablatnig. Drei Töchter, ein Sohn. In den folgenden 15 Jahren wegen der Führung des Hofes keine künstlerische Tätigkeit möglich; Interesse an Kunstausstellungen. 1926 wegen ökonomischer Schwierigkeiten Verkauf des Hofes. Scheidung von seiner ersten Frau. Wiederaufnahme seiner künstlerischen Tätigkeit. Armut. Etwa 1930 kam er nach Wolfsberg, war beeindruckt von der Landschaft des Lavanttales, lebte vom Verkauf seiner Bilder. 1936 erstmals Ausstellung auf der Biennale Venedig, ebenso 1942, 1950. 1937 Bekanntschaft mit Christine Thonhauser, die ihm angeblich interessiert bei der Arbeit zugesehen hat. Heirat mit Christine Thonhauser am 22.4.1939. Mitglied des Kärntner Kunstvereins. Während der Kriegszeit mit kunstinteressierten Freunden jeden Sonntag Gesprächsrunde im Gasthaus 'Schwarzer Adler'; davon angeregt, wurde 1949 die 'Gilde für Kunst und Kunstgewerbe Unterkärnten' gegründet, deren Ausstellungen Habernig regelmäßig beschickte und die ihm auch Aufträge vermittelte. Schon früh und dann seit 1947 alljährlich mehrwöchige Studienreisen nach Italien (zwei seiner Töchter aus erster Ehe leben in Italien verheiratet). 1961 als einziger Kärntner bei einer repräsentativen Ausstellung in Innsbruck (wohl aus diesem Anlaß findet 1961 der zweite Besuch Christine Lavants bei Ingeborg Teuffenbach statt, vgl. den Notizkalender: Mi., 12. Juli "Christ. Lavant zum Übernachten"), ansonsten geht sein Name nicht über Kärnten hinaus. Von einem Schlaganfall mit Sturzfolgen 1963 erholte er sich nicht mehr. (Diese Kurzbiographie folgt im Prinzip den beiden einzigen Veröffentlichungen, die es über Habernig gibt: Helga Kraigher: Josef Benedikt Habernig - ein vergessener Kärntner Künstler, in: Die Brücke. Kärntner Kulturzeitschrift. Heft 4, 1982, S. 61-65. Dieser Aufsatz beruhte u.a. auf Mitteilungen von H.K. Granati, einer Tochter Habernigs, die später selbst ein Buch über ihren Vater als Maler herausgab: Josef Benedikt Habernig. 1879 - 1964, Klagenfurt: Carinthia 1985, Abbildungen.)
Aus: Christine Lavant: Herz auf dem Sprung. Die Briefe an Ingeborg Teuffenbach. im Auftrag des Brenner Archivs (Innsbruck) herausgegeben und mit Erläuterungen und einem Nachwort versehen von Anette Steinsiek. Salzburg: Otto Müller 1997, S. 27-34; 143-146.