Martina Wied an Ludwig von Ficker

 

© Brenner-ArchivMartina Wied: Rauch über Sanct Florian oder Die Welt der Mißverständnisse. Roman. (Österreichische Verlagsanstalt 1949)
Nachlass-Bibliothek Ludwig von Ficker, Sig. III-612

Martina Wied: Bewegung. (Verlag Ed. Strache 1919)
Nachlass-Bibliothek Ludwig von Ficker, Sig. III-610

 

Ludwig von Ficker zu eigen.

Martina Wied,  Wien, d. 19. Nov. 1919


Warum gerade dieses Buch
nicht Ihnen gewidmet;
Für Ludwig von Ficker,
Mühlau, am 8. August 1950

   Martina 

 

© Brenner-ArchivDie Autorin Alexandrine Martina Weisl (1882–1957), geb. Schnabl, reihte sich 1913 in die Riege der „Brenner“-AutorInnen ein und veröffentlichte in Ludwig von Fickers Zeitschrift vier Gedichte und zwei Essays.[1] Weisl hatte schon in ihrer Schulzeit Gedichte verfasst und diese unter dem Pseudonym „Martina Wied“, das sie zeitlebens beibehielt, veröffentlicht. Mit Ludwig von Ficker verband sie eine Beziehung, die über jene von Autorin und Verleger hinausging und über die auch die Widmungen in ihren Büchern, die sie ihm zueignete, Zeugnis ablegen.   


   Im November 1919 ließ Wied über den Wiener Strache-Verlag ein Exemplar ihres Gedichtbandes Bewegung [2] samt Widmung („Ludwig von Ficker zu eigen. / Martina Wied / Wien, d. 19. Nov. 1919“) an Ludwig von Ficker schicken. Anfang Jänner 1920 fragte sie bei Ficker über den Verbleib des Buches nach:

Der Verlag Strache hat im November ein Widmungs-Exemplar meines Gedichtbuches an Sie abgehen lassen, haben Sie es auch bekommen? Und darf ich Ihnen bei dieser Gelegenheit (ich konnte Ihnen zur Zeit als das Buch herauskam, nicht schreiben, weil ich gerade die Grippe hatte) sagen, in wie tiefem Sinne ich diese Zueignung begreife? Der „Brenner“ war mir immer Führer und Gewissen, trieb mich an, nichts Halbes, nichts Beiläufiges, nichts – im transcendenten Sinne – Unerlebtes bestehen zu lassen: möchten Sie also meine Widmung gütig entgegennehmen, und in ihr alle schweigende Verehrung fühlen, die ich Ihrem Wesen und Ihrem Werk entgegenbringe.[3]

© Brenner-ArchivFicker verständigte Wied brieflich über den Empfang des Buches (er ließ sich allerdings über einen Monat Zeit dafür); gleichzeitig gab er in seinem Brief ein Werturteil über Wieds Lyrik ab, das über den unmittelbaren Zusammenhang hinaus einen kleinen Blick darauf freigibt, wie es um sein Kunstverständnis und das literarische Netzwerk bestellt war. Ein Kernsatz aus seinem Schreiben lautet:

Fast scheint mir, daß Frauen heute, soweit sie Talent haben, im allgemeinen besonnener dichten als Männer, d.h. wenn man das Männer nennen kann, was heute in hysterischen Zuckungen expressionistische Lyrik à la – wie heißt er doch gleich, der Vertreter am Wiener Platz? – ja, richtig: à la Georg Kulka absetzt.[4]

Die Abwendung von der Literatur der Moderne, deren negative Seiten Ficker pars pro toto in den „hysterischen Zuckungen“ von Kulkas Lyrik zu erblicken glaubte, ist hier mit deutlicher Bestimmtheit formuliert. In der Ablehnung Kulkas folgte Ficker dem Beispiel des von ihm verehrten Karl Kraus;[5] der Gedanke, der hinter dieser Abwehrhaltung steht, ist jedoch ein anderer, wie aus den weiteren Ausführungen des Briefes ersichtlich wird. Ficker ging in der Analyse von Wieds Lyrik noch stärker in die Tiefe; so stellte er fest:

Dennoch kann ich eine leise Besorgnis nicht unterdrücken, daß auch Sie Ihr Erlebnis mitunter zu früh, zu leicht, zu unerschöpft in Verse entbinden. Lyrik müßte nach meinem Empfinden immer wie ein letztes Verhängnis wirken. Wie ein Blick, der entscheidet. [...] Ich möchte dichterischen Ausdruck heute überhaupt nur mehr insoweit gelten lassen, als er Autor und Leser nicht um den Ernst des Lebens betrügt, nur insoweit er Zuflucht und nicht Ausflucht des Erlebens ist. In Ihren Gedichten ist vielfach noch das letzte der Fall: sie sind Nachklang, Nachgestaltung, nicht im Gedicht selbst auf die Spitze der Leidenschaft getriebene Gestaltung des Erlebnisses.[6]

Dieses (im Grunde vernichtende) Urteil und seine vor allem in Hinblick auf Fickers Verständnis von

schreibenden Frauen schwierigen Implikaturen hat Evelyne Polt-Heinzl überzeugend in einem Aufsatz analysiert.[7] Der Gedichtband steht mit seiner Widmung am Anfang eines Prozesses der Ablösung Fickers von Wied, der spätestens im Herbst 1926 abgeschlossen war, als Ficker in einem kurzen Brief mitteilte: „Leben Sie wohl! Wir alle sind zum Schluß geprüfte Menschen.“[8] Der Kontakt zwischen Wied und Ficker brach zunächst nicht vollständig ab, beschränkte sich aber auf kürzere Mitteilungen und war von längeren Pausen geprägt, in denen keine Briefe gewechselt wurden. Insbesondere betraf der Rückzieher Fickers neben dem künstlerischen vor allem auch das persönliche Verhältnis zwischen der Autorin und dem Verleger – ein Umstand, der das Lebensschicksal Wieds für ihr restliches Leben prägen sollte, wie zwei weitere Widmungen in ihren Büchern illustrieren.
   © Brenner-Archiv1936 veröffentlichte Wied mit Rauch über Sanct Florian ihren ersten Roman, für den Alfred Kubin den Schutzumschlag gestaltete.[9] Der Brenner-Herausgeber erhielt ein gewidmetes Exemplar, „für Ludwig von Ficker zur Erinnerung / an / Martina Wied / November 1936.“ Der Roman wirkt im Kleid einer Dorfgeschichte zunächst wie ein Antipode zu ihrem 1934 in Fortsetzungen in der Wiener Zeitung erschienen Roman Das Asyl zum obdachlosen Geist.[10] Beide Texte können jedoch im Grunde als Abrechnungen gelesen werden, die ein gemeinsamer Impetus verbindet: Geschult an der Kierkegaard-Rezeption im Umfeld des Brenner wird das bürgerliche Leben in einer Gesellschaft hinterfragt, die immer stärker aus den Fugen gerät. Und in demselben Maße, in dem der Faschismus in den 1930er Jahren an Boden gewann, gerieten auch Wieds persönliche Lebensumstände aus den Fugen. Ihre berufliche Situation hatte sich seit dem Tod ihres Mannes 1930 merklich verschlechtert, und nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs an das Deutsche Reich war sie am 10. März 1939 gezwungen, ihren Weg nach England ins Exil anzutreten. Die Widmung an Ficker nimmt diese tragische Wendung, obwohl im eigentlichen Sinn an die vergangenen Brenner-Tage erinnernd,[11] bereits vorweg. In ihrem letzten Brief vor ihrer Abreise wird das Leid, das Wied erfahren musste, auf eindrückliche Weise manifest:

Sie haben mir einmal geschrieben, daß Gott niemandem mehr auflädt, als er zu tragen vermag: das glaube ich nun an mir zu erfahren, denn nun, da ich alles verloren habe: Gatten, Sohn, die gesicherte Existenz, das Heim und die Heimat, das bürgerliche Ansehen das ich von meinen Vorfahren ererbt und übernommen – das geistige und menschliche Ansehen, welches ich mir selbst erworben habe, die Hoffnung, einmal im Schrifttum meiner Nation einen dauernden Platz zu finden, ja, diese Nation und die Muttersprache – jetzt, da ich, eine Hiobide, wahrlich mit allem Elend (im altdeutschen und modernen Sinn) geschlagen bin, richte ich mich auf an der Möglichkeit, anderen Menschen zu helfen [...]: das wird in der nächsten Zeit mein Leben sein und damit durfte ich durch eine gütige Fügung schon hier beginnen.[12]

Wied gehörte zu den wenigen Exilant*innen, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dafür entschieden, in ihre alte Heimat zurückzukehren; 1947 remigrierte sie nach Wien. Bereits ein Jahr zuvor hatte Ludwig von Ficker über Franz Glück in Erfahrung gebracht,[13] dass die Autorin Krieg und Völkermord überlebt hatte und war mit ihr wieder brieflich in Kontakt getreten. Am 27. März 1950 kam es schließlich nach über elf Jahren zur ersten persönlichen Begegnung zwischen Ficker und Wied,[14] am 22. Juli desselben Jahres suchte sie ihn in Mühlau auf.[15] Im Zuge dieses Besuches überreichte sie ein Exemplar von Rauch über Sanct Florian, das in einer Neuauflage erschienen war.[16] Die Widmung im Buch lässt die Annahme zu, dass sie im Zuge dieses Besuches entstanden ist: „Warum gerade dieses Buch nicht Ihnen gewidmet? / Für Ludwig von Ficker, / Mühlau, am 8. August 1950 / Martina“. Weshalb die Daten aus dem Briefverkehr und der Widmung voneinander abweichen, erschließt sich aus den vorhandenen Quellen nicht. Sie gibt aber dennoch Aufschluss darüber, dass Wied mit der Wiederbegegnung zweierlei verbunden hat: Zum einen schwingt in den Zeilen noch die schmerzliche Erinnerung an vergangene Tage mit, zum anderen zeugt der deutlich ironische Unterton aber auch von einem Schlussstrich bzw. einer zukunftsgewandten Perspektive, die als Ausdruck einer endgültigen Emanzipation von ihrem ehemaligen Verleger und Mentor gelesen werden kann.
   Mit der Verleihung des Großen Österreichischen Staatspreises für Literatur, den sie als erste Frau 1952 in Empfang nehmen konnte, erhielt Wied schließlich zumindest auf dem Gebiet der Kunst jene späte Würdigung, die ihr im privaten Bereich weitgehend versagt geblieben ist.

Markus Ender


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[1] Martina Wied: Gedichte (Düstere Gebirgslandschaft/Der Tod des Li-Tai-Po). In: Der Brenner, III. Jahr, 2. Halbband, H. 12 (15.3.1913), S. 525–526; dies.: Fernweh. In: Der Brenner, III. Jahr, 2. Halbband, H. 14 (15.4.1913), S. 617; dies.: Romane der Lebensmitte. In: Der Brenner, III. Jahr, 2. Halbband, H. 15 (1.5.1913), S. 696–702; dies.: Die Versuchung des heil. Antonius. In: Der Brenner, III. Jahr, 2. Halbband, H. 17 (1.6.1913), S. 792–793; dies.: Otto Stoessl, der Erzähler. In: Der Brenner, IV. Jahr, 1. Halbband, H. 3 (1.11.1913), S. 120–128.
[2] Martina Wied: Bewegung. Wien, Prag, Leipzig: Verlag Ed. Strache 1919.
[3] Martina Wied an Ludwig von Ficker, 8.1.1920. FIBA, Nachlass Ludwig von Ficker, Sign. 41-52-37-5.
[4] Ludwig von Ficker an Martina Wied, 20.2.1920. FIBA, Sammlung Briefwechsel Ludwig von Ficker.
[5] Kraus hatte Kulka ebenfalls für dessen experimentell-dadaistische Kunst angegriffen und schließlich im April 1920 im Zuge der „Kulka-Affäre“ des Plagiats überführt; vgl. Dietmar Goltschnigg (Hg.): Karl Kraus im Urteil literarischer und publizistischer Kritik. Texte und Kontexte, Analysen und Kommentare. Bd. 1: 1892–1945. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2015, S. 84–89.
[6] Ludwig von Ficker an Martina Wied, 20.2.1920. FIBA, Sammlung Briefwechsel Ludwig von Ficker.
[7] Vgl. Evelyne Polt-Heinzl: Es ist... eine  Sache  des  Selbstbewusstseins.  Martina Wied, Georg Trakl und die Anthologie Die Botschaft. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 35/2016, S. 73–92.
[8] Ludwig von Ficker an Martina Wied, 25.11.1926. FIBA, Sammlung Briefwechsel Ludwig von Ficker.
[9] Martina Wied: Rauch über Sanct Florian oder Die Welt der Mißverständnisse. Roman. Wien: Carl Fromme 1936.
[10] Martina Wied: Das Asyl zum obdachlosen Geist. In: Wiener Zeitung, 26.2.1934–17.6.1934. Der Roman wurde unter dem Titel Kellingrath 1950 wiederaufgelegt (Innsbruck: Österr. Verlagsanstalt) und ist seit kurzem in einer Neuausgabe erhältlich: Martina Wied: Das Asyl zum obdachlosen Geist. Wien: Milena Verlag 2020.
[11] Man beachte hier auch das aussagekräftige gedruckte Motto „umbris amatis“ (lat.: „Schatten der Liebe“).
[12] Martina Wied an Ludwig von Ficker, 26.2.1939. FIBA, Nachlass Ludwig von Ficker, Sign. 41-52-45-6.
[13] Vgl. Franz Glück an Ludwig von Ficker, 14.7.1946. FIBA, Nachlass Ludwig von Ficker, Sign. 41-13-54-2.
[14] Vgl. Ludwig von Ficker an Franz Glück, 28.3.1950; FIBA, Nachlass Franz Glück, Sign. 217-1-17-3.
[15] Vgl. die Ankündigung Wieds in einem Brief an Ludwig von Ficker vom 23.6.1950; FIBA, Nachlass Ludwig von Ficker, Sign. 41-52-46-5. Dass Ficker dieser Besuch wenig willkommen war, illustriert eine Stelle in einem Brief an Paula Schlier; dort kommentierte er: „Nächsten Samstag (22 ds.) wird […] Martina Wied mit ihrem Sohn hier auf der Bildfläche erscheinen und drei Tage bleiben; sie hat sich auch bei meiner Frau höchst zuversichtlich-elegisch angekündigt: kurz, das hat mir noch gefehlt! Die Nerventorturen hören bei mir nicht auf.“ (Ludwig von Ficker an Paula Schlier, 15.7.1950. FIBA, Nachlass Paula Schlier, Sign. 117-8-20-9.)
[16] Martina Wied: Rauch über Sanct Florian oder Die Welt der Mißverständnisse. Roman. Innsbruck: Österreichische Verlagsanstalt 1949.

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