Über die Widmung als Element eines Versicherungssystems. Mario Wirz, Michael Guttenbrunner, Karl Lubomirski

 
05.10.06 / Für / Karl Lubomirski / Dichterfürst und Freund / Seite 57 / und alle Seiten / mit Verehrung / und Sympathie / Mario Wirz

In: Mario Wirz: Sturm vor der Stille. Gedichte (Berlin: Aufbau 2006)
(Vorlass-Bibliothek Karl Lubomirski, Sig. 235/155)

   

Lieber Karl, / das darin ausgesprochene ästhetische Raisonnement ist auch für dich gültig, zu deiner Verteidigung. / Dein Michael / Okt. 02

In: Michael Guttenbrunner: Im Machtgehege VI (Aachen: Rimbaud 2002)
(Vorlass-Bibliothek Karl Lubomirski, Sig. 235/157)

 

© Brenner-Archiv

Ich konnte mich nicht entscheiden … sollte ich die Widmung von Mario Wirz (1956–2013) oder die von Michael Guttenbrunner (1919–2004) an Karl Lubomirski in einem kurzen Essay vorstellen? Die aufgeregte oder die abgeklärte? Beide schienen mehr zu sein als ein Produkt flüchtiger Bekanntschaft oder eines singulären Anlasses und luden zur Erforschung der Geschichte ihres Kontextes und also der Qualität des Kontaktes ein. Welcher Person, welchem Dichter sollte und wollte ich weiter nachgehen? Wirz ist in Österreich unbekannt, aber lohnt eine Beschäftigung. Guttenbrunner ist in Österreich weithin bekannt, nicht zuletzt als expliziter Adept von Karl Kraus, und findet sich als Briefpartner in einigen Beständen des Forschungsinstituts Brenner-Archiv. Ein Blick in die Korrespondenzen im Vorlass des 1939 in Tirol geborenen, seit 1962 in Italien lebenden Karl Lubomirski zeigte, dass sowohl Wirz (von 2001 bis 2013) als auch Guttenbrunner (von 1999 bis zu seinem Tod 2004) mit ihm jeweils in intensivem Briefkontakt gestanden haben. Beide schätzten sein Schreiben, er das ihre.

Im Rahmen der Korrespondenz erweist sich die von Wirz in der Widmung verwendete Bezeichnung „Dichterfürst“ nicht als devot oder als Schleimerei. Sie subsumiert den Dank für vielfache Unterstützungen und den Ausdruck von Respekt, sie war zu dem Zeitpunkt seit langem verwendet worden und blieb es bis zum Ende der Beziehung, dem Tod von Mario Wirz. Guttenbrunners Widmung greift auf Gemeinsamkeit zu, die nur die Beteiligten kennen. Mit Guttenbrunner einte Lubomirski der Versuch, eine Grenze zu behaupten zwischen ehrlicher, „existenzgespeister“, bis in Feinheiten gestalteter Literatur und der von Erwartungen, Steuerungen, Moden beeinflussten, zu der beide die konkrete und die Dialekt-Poesie zählten.

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Dann trat eine unerwartete Überschneidung ein: Lubomirski hat Wirz um die Jahreswende 2002/03 ermuntert, auch Guttenbrunner seine Texte zu schicken. Guttenbrunners Schreiben an Wirz kennen wir nicht, doch muss es traumatisch für diesen gewesen sein: Guttenbrunner habe die beiden ihm übersandten Prosabände mit dem Begriff „Sünde“ abgeurteilt, schreibt Wirz an Lubomirski. Wirz hatte die psychischen Implikationen seiner HIV-Erkrankung verarbeitet, seine beständige Todesangst, und er hatte nicht verschwiegen, dass die Erkrankung die Folge ungeschützter homosexueller Kontakte gewesen war – er war einer der ersten gewesen, die das literarisch zum Thema machten.

Hatte Guttenbrunner nicht berücksichtigt, dass der Untertitel des einen Prosabandes „Ein nächtlicher Bericht“ eine andere Rezeption braucht als ein Lyrikband und dass längere Prosa expliziter ist als ein Gedicht und auch als seine kurzen Prosaskizzen in Im Machtgehege? Könnte er – in dubio pro reo – eine literarische Sünde gemeint haben, nämlich dass die literarische Durchgestaltung zu viel Privatheit nicht habe bewältigen können und dass der Autor sein Werk an seine Psyche verraten habe? Und andererseits: Wenn der Brief Ausdruck offener Homophobie gewesen wäre – würden wir nicht auch Guttenbrunners Werke daraufhin anders betrachten und wollten uns nicht von ihnen, von gelungener Sprache, über persönliche Haltungen hinwegtragen lassen, die wir nicht akzeptieren wollen? Man kann nun den biographical turn in den 1980er Jahren dafür verantwortlich machen, kann es aber auch allein mit der Arbeit in einem Literaturarchiv erklären, Literatur nicht nur als Sprachgebilde zu begreifen, sondern sie mit biographischer Lebenswirklichkeit verbunden zu sehen, zu der moralische Haltungen gehören. Und so wie es Werk nicht ohne Autor*innen gibt, gibt es auch keine Wissenschaft ohne Autor*innen – auch die Bewertung von gelungener Literatur wird kaum von Werten unberührt bleiben, die außerliterarisch sind. Ohne Zorn und Eifer mag es gehen, aber wohl nicht ohne innere Haltungen. Guttenbrunner konnte sich hinter der Literaturkritik verbergen – die Wissenschaft könnte es nicht.

Zwischen Wirz und Guttenbrunner kam es zu Kurzschluss und Verfinsterung.
Guttenbrunner schreibt nach langen drei Monaten ohne Kontakt an Lubomirski; die Verbindung wird wieder aufgenommen und bleibt bis zu Guttenbrunners Tod 2004 wertschätzend aufrecht – Wirz wird mit keiner Silbe erwähnt.
Lubomirski und Wirz lesen im Oktober desselben Jahres 2003 gemeinsam in Berlin in der alternativen Szene.

Die Korrespondenz zeigt, wie sehr die Dichterkollegen einander brauchen, um sich zu vergewissern. Gegenseitige Widmungen gehören zur selben Symptomatik. Das schien mir in einem von relativen, aber weitreichenden Werturteilen schwirrenden Feld durchaus verständlich und legitim. 

Annette Steinsiek

 

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