Jehane Kuhn an Ernst und Charlotte von Glasersfeld

© Ernst-von-Glasersfeld-ArchivCompact Edition of the Oxford English Dictionary (19. Auflage, März 1980)
Nachlass-Bibliothek Ernst von Glasersfeld, ohne Signatur.

 

First things first –
for Ernst + Charlotte, with much affection
August 2002
from Jehane

 


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Seine erste Stelle als Forschungsassistent verdankte Ernst von Glasersfeld dem Kalten Krieg. Um die wissenschaftlichen Entwicklungen in der Sowjetunion verfolgen zu können, förderten die amerikanische Regierung und das Militär in den 50er und 60er Jahren in großem Stil Projekte, die Aussicht auf effiziente Übersetzungen vom Russischen ins Englische versprachen. Am Zentrum für Kybernetik an der Mailänder Universität begann Glasersfeld 1959 in Zusammenarbeit mit dem Linguisten und Philosophen Silvio Ceccato ein Projekt, das sich der automatisierten Sprachübersetzung widmete und von der U.S. Air Force finanziert wurde. Anfang 1961 reiste aus Cambridge eine neue Mitarbeiterin an. Jehane Barton hatte dort gerade ihr Studium beendet und war von Margaret Masterman, einer Pionierin der Computerlinguistik und ehemaligen Studentin Wittgensteins empfohlen worden. 

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An das erste Treffen mit Jehane Barton Anfang 1961 an der Mailänder Universität erinnerte sich Ernst von Glasersfeld so: „Die Tür öffnete sich, und herein kam eine schlanke Erscheinung in einem schlichten schwarzen Kleid, einem breit umrandeten Quäkerhut auf dem Kopf und einem schwarzen Aktenkoffer unter dem Arm. Ein Geist hätte nicht für mehr Überraschung sorgen können.“ Die Zusammenarbeit war begleitet von gegenseitiger Wertschätzung. Für Glasersfeld waren es vor allem ihr Sinn für die Sprache, das literarische Wissen, ihre Offenheit gegenüber philosophischen Fragen und ihre Vorurteilsfreiheit gegenüber von Linguisten damals üblicherweise gering geschätzten Computern, die sie zur idealen Mitarbeiterin machten. Sie bezeichnete ihn als ihren Mentor, dem sie © Ernst-von-Glasersfeld-Archiveine solide Vorbereitung auf ihr weiteres Berufsleben verdankte. Die Zusammenarbeit wurde auch nach Glasersfelds Übersiedlung in die USA fortgesetzt bis die Abteilung der Air Force, die auch die folgenden Projekte finanziert hatte, von Präsident Nixon geschlossen wurde. Glasersfeld erhielt in der Folge eine Stelle am Department für Psychologie an der Universität von Georgia, Barton verbrachte das nächste Jahrzehnt als Assistentin der Designer Charles und Ray Eames. Eines Tages rief sie aus Boston an und verkündete, dass sie den Wissenschaftsphilosophen Thomas Kuhn geheiratet hatte. Glasersfeld hatte dessen epochemachendes Werk The Structure of Scientific Revolutions mehrfach zitiert und hielt ein Treffen mit ihm für vielversprechend. Wegen einer unüberlegten Aussage Glasersfelds geriet ein gemeinsames Abendessen dennoch zum Desaster, das er viele Jahre später noch bereute – nachzulesen in seiner Autobiographie.
Zwanzig Jahre später fiel einem Brand in Glasersfelds Haus unter anderem ein großer Teil seiner Bücher zum Opfer. Jehane Kuhns Beitrag, diesen Verlust wieder wettzumachen, war die zweibändige Kompaktversion des Oxford English Dictionary in Kleindruck und mit Lupe ausgestattet. Das Geschenk sollte nicht nur ihre Zuneigung ausdrücken, sondern auch die Wichtigkeit einer fundierten Sprachanalyse, die Glasersfelds gesamtes Werk begleitete.

Michael Schorner 

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