Theodor W. Adorno an den „wirklich ehrwürdigen Baron von Ficker“
Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur III (Suhrkamp 1965)
Nachlass-Bibliothek Ludwig von Ficker, Sign. BA II - 203
Herrn Ludwig von Ficker
ein kleines Zeichen
der herzlichen Verehrung
Theodor W. Adorno
Frankfurt a. M., Mai 1965
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Noten zur Literatur III enthält literarische Essays u. a. zu Karl Kraus und zu Hölderlin, der allerdings auch eine messerscharfe Kritik an Martin Heideggers Hölderlinbild beinhaltet. Ficker stand dem Philosophen Heidegger seit den fünfziger Jahren freundschaftlich nahe und er sah gerade in Heideggers Essays zu Trakl und Hölderlin den Inbegriff seines dichterisch-philosophischen Denkens. Die kritische Distanz Adornos zu Heideggers Philosophie musste Ficker bekannt sein, Adorno konnte daher in seinem Brief auch offen von „nicht koinzidierenden Positionen“ sprechen. Die Divergenz von Adorno und Heidegger (und es ist geradezu typisch für Ficker, dass bei ihm Fäden der Unvereinbarkeiten zusammenliefen) war so offenkundig, dass Lotte Tobisch ganz unverblümt Adorno berichten konnte: „Noch etwas – ein gspaßiger Zufall: Ich sah in Innsbruck Heidegger – auf Entfernung – und [Ludwig von] Ficker begrüßte mich mit den Worten: ‚Eben ist Heidegger von mir weggegangen, schade, daß Sie nicht ein bissl früher gekommen sind!‘ Na, das wäre was gewesen, wenn ich ihn getroffen hätte und ihm erzählt hätte, daß ich grad von Euch komme!“[3]
Das „kleine Zeichen“ der Verehrung sowie die später von Adorno an Ficker gesandten Meditationen bedeuteten für Ficker allerdings eine irritierende Konfrontation mit Adornos Negativer Dialektik und mit der kritischen Dekonstruktion der Philosophie und Seinslehre Heideggers. Ficker sah in Adornos „Positionen“ jedes noch so subtil philosophisch und eschatologisch ins Positive gewendete Denken einer unerbittlichen Revision preisgegeben. Aber Ficker stellte sich dieser Herausforderung:
So teilte Ficker Lotte Tobisch mit: „ich bin eben von manchem ergriffen, das Adorno nur unter stärksten Vorbehalt gelten läßt – doch immer so, daß es unter dessen Begründung auch mir wiederum bis auf den Grund einzuleuchten beginnt“[4] Und wenige Tage später: „Im Hinblick auf ihn habe ich mir übrigens noch einiges durch den Kopf gehen lassen, das mich beunruhigt, gerade weil es sich auf Bewunderungswürdiges und scheinbar Unanfechtbares bezieht.“[5] […] Liebe Lotte, im Grunde ist doch wieder glasklar – alles, was Adorno zu bedenken gibt, das stimmt schon. L.F.“[6]
Adorno, der Denker der Kritischen Theorie und Kulturkritiker, reicht Ficker über Trennendes hinweg in seinem Brief die Hände: „aber es gibt ein Anderes, in sogenannter Weltanschauung nicht Auszudrückendes, was tiefer ist – wodurch ich mich Ihnen erst recht verbunden fühle.“[7]
Christine Riccabona
[1] Theodor W. Adorno, Lotte Tobisch: Der private Briefwechsel. Hg: Bernhard Kraller, Heinz Steiner, Graz: Droschl, 2003, S. 104.
[2] Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1940 – 1967. Innsbruck: Haymon, 1996, S. 384.
[3] Theodor W. Adorno, Lotte Tobisch: Der private Briefwechsel. Hg: Bernhard Kraller, Heinz Steiner, Graz: Droschl, 2003, S. 31f.
[4] Anm. 2, S. 404.
[5] Ebenda, S. 407.
[6] Kopiensammlung Briefwechsel Ludwig von Ficker, Forschungsinstitut Brenner-Archiv.
[7] Anm. S. 384.