Rezensionen 2007

Bernhard KathanNichts geht verloren
Lengwil: Libelle Verlag, 2006 

Starke Bilder vom Fortleben 

Nahezu zeitgleich hat Bernhard Kathan im Jahr 2006 eine kulturhistorische Studie „Strick – Badeanzug – Besamungsset. Nachruf auf die bäuerliche Kultur“ (StudienVerlag) und die Erzählung „Nichts geht verloren“ (Libelle) herausgebracht. Man spürt gleich, dass diese beiden Texte aus einem Geist heraus geschrieben wurden, dass sie einander ergänzen. In „Nichts geht verloren“ folgt Kathan der Spur eines einzelnen Bauern, wirft – von dessen Tod aus betrachtet – Schlaglichter auf sein Leben, seine Arbeit, sein Denken und auf die Menschen um ihn. Jodok tritt dem Leser als starke, autonome Figur entgegen und doch ist sein, wie unser aller Leben, zerbrechlich.
            Es ist immer spannend, die Dinge von ihrer fragilsten Seite aus anzusehen, wird doch das Gewöhnliche und Alltägliche dadurch zu etwas Besonderem. Faszinierend ist, wie einfach und zugleich fesselnd eine Erzählung sein kann, wenn sie mit einem klaren, aber auch einfühlsamen Blick geschrieben ist. Bernhard Kathan lässt seinen Erzähler – ob ein jüngerer Freund des Sterbenden oder sein Schwiegersohn, wir erfahren es nicht und es ist auch nicht wichtig –  keiner Chronologie folgen, vielmehr um die zentralen Ereignisse in Jodoks Leben kreisen. Dem offenbaren Anliegen des Autors entsprechend werden dabei vor allem die Brüche, manchmal sind es nur feine Bruchlinien, sichtbar gemacht. So wird etwa die Hochzeit mit Agnes, die nicht aus einer Bauernfamilie stammt, weniger als freudiges Ereignis, sondern mehr als Widerspruch oder Gratwanderung geschildert. Die sehr berührende Szene des Hochzeitsmahls, zweimal unter verschiedenen Blickwinkeln erzählt, lässt das Glatteis spüren, auf dem sich das Leben mit all seinen Hoffungen und Erwartungen abspielt: Der ausgeprägte Ordnungsdrang der Braut verdeckt Abgründe und die überall gegenwärtige Gefährdung, das Hochzeitsmahl wird nur für fünf Personen, jedoch mit Goldrandgeschirr und eigenhändig bemalten Tischkärtchen bereitet, Jodok ist ungeschickt und verschüttet Wein, die Bauern sind nicht geübt mit mehrteiligem Besteck umzugehen. Hinter dem Vordergründigen stehen schwerer wiegende Tatsachen, etwa dass einige aus Jodoks Familie schon früh herausgestorben und die Bauern arm sind. Doch: „Als Agnes starb, hinterließ sie das Goldrandgeschirr vollzählig.“ (S. 16)
Jodoks Schwester Bernadette ist früh an Typhus gestorben, sein taubstummer Bruder Walter hat sich aufgehängt, nachdem ihn ein Mädchen abgewiesen hatte und die Dörfler spottend über ihn hergezogen waren. Agnes’ Schwester Maria ist längst tot, Bernarda aufgrund einer viel zu spät gefundenen Stecknadel im Hals starr und auf „einen Rollwagen“ (S. 77) angewiesen.
Es wird gewaltsam gelebt und gestorben, vier Brüder aus dem Dorf geraten in Streit, einer von ihnen wird den Felsabhang hinab gestoßen. Der Mord ist zwar nie bewiesen worden, aber es könnte so gewesen sein. Der alte und kaum noch wendige Jodok erwürgt einen Rehbock, seine plötzlich aufflackernde Wut auf einen Jagdaufseher gibt ihm die Kraft dazu. Ferkel und ausgewachsene Schweine werden geschlachtet, andere Tiere verenden. Mehr und mehr wird deutlich, wir haben es bei diesem Buch mit einem Totentanz zu tun, doch bei Kathan wird keine Moral daraus abgeleitet. Dass alles stirbt, ist die schlichte Realität und gewaltsam ist nicht nur der Tod, sondern auch das Leben.
„Das Leben ist ein Durcheinander. Tröstlich ist deshalb die Vorstellung, dass zumindest Leben und Tod klar voneinander geschieden sind“ (S. 93), meint der Erzähler und muss doch zugleich wissen, dass das, was er selbst wahrnimmt, diese Vorstellung widerlegt. Dass Dies- und Jenseits nicht wirklich getrennt sind, sondern ineinander verschwimmen, durchzieht die Erzählung von Anfang bis zum Schluss und wird durch eingestreute surreale Szenarien bekräftigt: Der tote Jodok lässt seine Schritte auf dem Kies deutlich vernehmen, er streicht ums Haus, hinterlässt Zeichen seiner Anwesenheit vor und hinter der Tür, er schaut aus den traurigen Augen eines Siebenschläfers. Unter dem Tisch, an dem die Hochzeitsgesellschaft tafelt, liegt das sonnengebleichte Skelett der Maria und wird von den Anwesenden Stück für Stück verzehrt. Das Paradoxon, dass alles stirbt, doch nichts verloren geht, dass sich die Nachgeborenen die Toten einverleiben, dass notgedrungen eines aus dem anderen hervorgeht und ohne das Vorangehende so nicht denkbar wäre, scheint als Kernaussage des Buches zwischen den Zeilen hervor.
Es ist ein tiefgründiger, poetischer Text, den Bernhard Kathan hier vorgelegt hat, ein Text, der trotz der ständigen Anwesenheit des Todes nichts Morbides an sich hat, sondern die Dinge zeigt, wie sie sind. Diesem Autor geht es immer um die Wirklichkeit, was etwa auch an den Stellen deutlich wird, wo der lieblose medizinische Umgang mit den Alten und die Veränderungen in der bäuerlichen Gesellschaft und Kultur skizziert werden. Besonders schön an diesem Buch ist, dass die zentralen Figuren mit wenigen Strichen lebendig hervortreten: der widersprüchliche und vitale Jodok, die im Bauernhaus (gewissermaßen aus eigenem Willen) fremd bleibende Agnes, die Kinder der beiden: Sie alle sind konkrete Menschen mit einer ganz eigenen Geschichte, aber letzten Endes sind wir nicht anders als sie.

Erika Wimmer

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