Rezensionen 2007

Hubert Flattinger, Als ich Lord Winter war. Eine Reise zu Astrid Lindgren
Innsbruck: Kyrene 2005

Die Welt im Kopf des Tintenmanns 

Mit Als ich Lord Winter war legt der bekannte Tiroler Kinder- und Jugendbuchautor, Dramatiker, Journalist und Zeichner Hubert Flattinger sein zweites Buch für Erwachsene vor. (Das erste war Das Lied vom Pferdestehlen, Innsbruck: Berenkamp, 2000.)
Eine Reise zu Astrid Lindgren ist der Untertitel des Bandes, und um eine solche – nämlich den Flug eines Journalisten zu einem Interview mit der großen schwedischen Kinderbuch-Autorin - geht es auch auf einer der Erzählebenen des fast wie ein Musikstück konstruierten Texts. Auf einer anderen (hier ist die Ausgangssituation eine Zugreise) handelt das Buch von der Wirkungsweise der Phantasie und der Entstehung von Geschichten im Kopf des Erzählers.
Ein Gespräch zwischen der Schriftstellerin und Flattinger, bzw. einen Phototermin mit ihr, hat es tatsächlich gegeben, wie einige Bilder im Anhang von Lord Winter belegen. In der Erzählung wird das Interview allerdings nicht behandelt; die Geschichte endet vor der Wohnungstür der Lindgren. Einen Türausschnitt mit einer schneebedeckten Klinke zeigt denn auch der Buchumschlag. Der Schnee verweist wiederum auf den Namen Lord Winter im Titel.
Dieser ist, wie wir im Buch erfahren, eine „Monica“, d.h. ein Spitzname, den ein Landstreicher oder Vagabund in Holz ritzt - in diesem Fall einer der Übernamen des Erzähler-Ichs. Der Philologe denkt angesichts dieses Namens an den Ex-Gespons der Mylady, der intriganten Bösewichtin aus den drei Musketieren von Dumas-père, d.h. an den edlen Ritter Athos.
Flattinger arbeitet in dieser neuen Talentprobe viel mit z.T. mehrdeutigen Verweisen - solchen innerhalb der Erzählung und solchen aus seinem Privat-Mythen-Schatz, aus dem sich real existierende Personen und erdachte Figuren in die Erzählung schmuggeln. Manche tragen Namen aus der Literatur, dem Film, von musikalischen Werken oder sind Gemälden entsprungen. Sie erscheinen aber in verwandelter Gestalt (z.B. Gin-Kelly, der weiße Gamaschen über Cowboystiefeln trägt und dessen „Art, in eine Gefängniszelle zu schreiten, einem kleinen Tänzchen gleicht“ oder Mister Bojangles aus dem u.a. von Sammy Davis Junior interpretierten Song). Bekannte literarische Figuren tragen dagegen einen anderen Namen. (Pippi Langstrumpf etwa hat sich in eine Aztekenprinzessin verwandelt.) Das Ergebnis ist eine phantastische, d.h. eigentlich eine wunderbare Erzählung nach Todorovs Klassifikationsschema.
Im ersten Kapitel werden verschiedene Tagtraum-Sequenzen erzählt, die der Reise nach Stockholm vorausgehen. Der Einstieg in diese Träume oder Phantasien erfolgt auf ganz unterschiedliche Weise. Einmal kippt z.B. das, was der Protagonist durch die Fensterscheiben eines fahrenden Zuges sieht, in das von der Fensterscheibe reflektierte Bild der Insassen des Abteils. (Das erinnert daran, wie manche Escherbilder beim Betrachten plötzlich umspringen.) Ein andermal sieht der Protagonist (der auch Quiqueg, der Tintenmann, heißt wie der tätowierte Harpunier in Melvilles Roman Moby Dick) die Gedanken und Einfälle eines kleinen Jungen namens Boo (Mister Bojangles) als Projektionen auf dessen Stirn. Seine Schuhe verwandeln sich in Eisbrecher, und sein Kopf in eine Cessna, die diese Eisbrecher steuert usw. Im zweiten Kapitel des Buches sorgt der Sekt-Orange der Fluggesellschaft und der Gin aus dem Flachmann des Sitznachbarn dafür, daß nicht zu viel Realismus aufkommt. Das dritte kurze Kapitel erzählt von einer Bank im Stockholmer Vasapark, in die „Monicas“, Namen von Lindgren-Figuren, eingekerbt sind, und von der Ankunft des Erzählers vor dem Haus der Autorin.
Das Buch ist zu Anfang verwirrend, wenn man jedoch das Prinzip durchschaut hat, sehr amüsant und sprachlich brillant geschrieben. Der Kyrene-Verlag hat sich da ein kleines Juwel gesichert.

Als ich Lord Winter war. Eine Reise zu Astrid Lindgren soll noch in diesem Jahr bei Polyglobe Music als Hörbuch Musik von Frajo Köhle erscheinen. Der bekannte Schauspieler und Radio-Sprecher Johannes Nikolussi leiht dem Erzähler seine Stimme. 

Sylvia Tschörner

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