Rezensionen 2006

Alois Hotschnig, Die Kinder beruhigte das nicht.
Erzählungen.
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006. 


Beginnt man, über Alois Hotschnigs neues Buch zu schreiben, so drängt sich dessen Rhythmus beinahe auf. Oder: Vielleicht sucht man unwillkürlich nach dem Ton dieser Geschichten, um sie annähernd erfassen zu können, liegt doch in der Sprache - in Rhythmus und Tonfall eben - die nachhaltige Wirkung der Texte. Freilich wird auch Außergewöhnliches erzählt, in dem Sinne, dass Hotschnig das vordergründig Gewöhnliche in genau bemessenen Schritten auf seine tiefere Dimension hin untersucht und vor dem Leser ausbreitet. Darin liegt die Spannung der Geschichten, von denen Peter Bichsel im Klappentext sagt, sie seien „in die alltägliche Langeweile eingebettet“. Und, so Bichsel: „Hotschnigs Geschichten werden mir beim Lesen zu meiner eigenen Erinnerung.“
     Man hat den Eindruck, der Autor habe sich schreibend vorangetastet, um etwas zu erkunden, wovon er zunächst selbst nur vage Kenntnis besessen hat. Ich stelle mir vor, dass das erzählende Ich ohne spezielle Absicht (etwa, die oder jene Figur einer Geschichte abgeben zu sollen oder zu wollen) durch die Welt spaziert, schließlich einen Eindruck davon mit nach Hause zurückbringt. Möglicherweise hat sich ihm das Gesicht einer vorbei gehenden Person eingeprägt, oder es hat sich ihm die Bauweise eines Hauses aufgedrängt, oder es ist das Verhalten eines Tieres, das einen Moment lang fesseln konnte. Ich stelle mir also vor, dass der Erzähler etwas von dem aufgreift, was sich tagtäglich hundert Mal vor unseren Augen abspielt und gar nichts Besonderes darstellt. Vielleicht geht dieser Erzähler nicht einmal aus dem Haus, sondern sieht sich dort, in seiner eigenen Umgebung um, vielleicht schiebt er bloß den Vorhang zur Seite und schaut einmal mehr zum See hinaus, sieht dort einen Mann in seinem Boot mit einer Taschenlampe ins nächtliche Schilf leuchten. Plötzlich kommt dem Erzähler vor, der Mann hat eine erzählenswerte Geschichte, die überdies in Verbindung zu seiner eigenen Stimmung steht, die sich im Moment der Wahrnehmung eingestellt hat. Noch ahnt er diese Geschichte nur. Er kennt sie nicht und befindet sich doch schon mittendrin. Der Erzähler sucht in seinem Inneren nach der hintergründigen Dimension der eigenen Gestimmtheit.
     Alois Hotschnigs Geschichten, das will ich sagen, verschmelzen die gewöhnliche Wahrnehmung im Außen mit dem Inneren dessen, der erzählt, der die gemeinsame Geschichte des Außen und Innen durch konsequente Intuition herausschält. Das Wahrgenommene wird nicht verlassen, nicht zurückgelassen, um etwa der Phantasie des Erzählers allen Raum zu geben. Andererseits wird auch nicht der Logik des Außen gefolgt und dabei das innere Wissen vernachlässigt. Die beiden gehen Hand in Hand, die ganze Geschichte lang, und so wird das Erzählte tatsächlich zur gemeinsamen Erinnerung.
     Freilich sind solche Mutmaßungen einer Rezipientin spekulativ. Doch hat man beim Lesen des Buches  den Eindruck eines literarischen Verfahrens, das sich bewusst auf dem schmalen Grat zwischen Überprüfbarem und Phantastischem bewegt und beidem gerecht wird. Zwei Menschen etwa, die tagtäglich, von morgens bis abends, in ihren Liegestühlen auf einem Steg am See sitzen und nichts anderes tun, als dem Erzähler Gelegenheit zur Irritation zu geben, sind ein exemplarischer Fall: Die beiden Leute werden wahrgenommen in ihrer ganz eigenen Art, einen Sommeraufenthalt zu gestalten, die Beobachtung würde für sich gesehen nicht mehr besagen als nur das. Die Irritation des Beobachters aber macht das Beobachtete zur Geschichte. Ähnlich verhält es sich mit dem Text über ein Insekt, das im Zoomverfahren beim Sterben betrachtet wird. Hundertfach hat man so etwas gesehen und es doch nicht gesehen. Hotschnigs Erzähler aber sieht, er lotet das Geschehen als Erfahrung aus. Er verbindet die Bemühungen des Tieres, trotz allen Bedrohtseins noch das Terrain des Lebens zu erobern, mit dem inneren Wissen um den Todeskampf als Lebensimpuls. Dabei hat der Erzähler die Erfahrung nicht eigentlich gemacht, er könnte ja sonst nicht davon berichten. Aber es gibt ein Wissen um die elementaren Dinge, es gibt sie als innere Erfahrung jenseits individuell gemachter Erfahrungen, doch freilich muss sich ein jeder erst dorthin vortasten, die Schraube des Universalen tiefer und tiefer ins eigene Fleisch drehen.
     Das Beeindruckende der Erzählweise Hotschnigs liegt darin, dass bei der „äußeren Wahrheit“ geblieben wird, dass das Phantastische, das über die sogenannte Realität Hinausgehende nur in der Lust des Erzählers liegt, genau zu sein, Lupe und Zeitlupe einzusetzen und dabei das eine oder andere Mal eine Zuspitzung zu wagen. Großartig sind jene Texte, die bei Letzterem nicht zu weit gehen, die nicht zu weit von jenem schmalen Grat abweichen, der die bloße Wahrnehmung mit der inneren Schraube verknüpft. Die Sprache entspricht dem Verfahren, sie ist so präzise, wie Sprache nur sein kann, doch ist sie nicht kühl, auch nie manieriert, sie kreist nicht in sich, sondern steht dem zu Erzählenden zur Verfügung.
     Wunderbar ist zum Beispiel ein Text („Morgens, mittags, abends“), in dem einer durch die Straßen geht, um einen Arzt aufzusuchen und das dabei Registrierte aufzeichnet, den gewöhnlichsten Dingen durch genaues Hinsehen zu Recht verhilft. Der Arztbesuch kommt zunächst so beiläufig daher wie nur was, er ist nur der Anlass zum Gehen und darum nicht wichtig. Tabletten gegen Halsweh werden abgeholt, und nun geht es den gleichen Weg wieder zurück, nun werden die (durch die vergangene Zeit logisch folgernden) Verschiebungen des zuvor Wahrgenommenen protokolliert. In diesen Verschiebungen oder, so könnte man auch sagen, Entwicklungen liegt die Spannung in der (nicht ausgesprochenen) Erkenntnis: alles ist noch da, aber schon hat es sich verändert. Am Ende eine Überraschung: Der beiläufige Anlass für den Spaziergang rückt plötzlich in den Mittelpunkt, der Arztbesuch wird durch ein nur angedeutetes, späteres Ereignis doch noch ganz wichtig. Drei Kreuze hat der Arzt auf die Medikamenten-Packung für die empfohlene Einnahme (morgens, mittags, abends) gekritzelt. Und dann stirbt er bei einem Autounfall, seine Mutter und seine Frau saßen bei ihm im Wagen.
     So ist es, das Leben, doch ohne Alois Hotschnig hätten wir es so nicht gesehen. Nicht so magisch, nicht so verstrickt, nicht so ausgesetzt, nicht so sehr dem Unbegreiflichen unterworfen, gleichzeitig in allem auch nicht so liebens- und lebenswert. Denn in der Unterschicht liegen die eigentlichen Beweggründe.
     Überall in Hotschnigs neuen Erzählungen lauern unter der Alltäglichkeit unbegreifliche Unruhe, untergründige Bedrohung, Aufruhr und Frage - der Erzähler schiebt den Schleier zur Seite, manchmal benennt er die Unrast, doch nie wertet er sie. In der Irritation scheint der Motor für die Veränderung zu liegen, nach der das Lebendige immer strebt. Beruhigen lässt sich da nichts. Und so ist auch die Titelerzählung vielleicht zu verstehen: Was die Kinder, die noch unmittelbarer fühlen, nicht beruhigt, das sollte auch den Lebensgewohnten nicht beruhigen. Geht man direkt auf die Beunruhigung zu, so zeigt uns die Titelgeschichte, geht man sogar geradewegs in die Beunruhigung hinein und lässt sich auf sie ein, so erfährt man etwas über sich, so lässt man Entwicklung zu und lebt darum intensiv.  

Erika Wimmer 

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