Rezensionen 2006

Quart Heft für Kultur Tirol. Nr. 7 und 8/2006.
Hg. Kulturabteilung des Landes Tirol.
Innsbruck, Wien: Haymon 2006.


Seit mittlerweile drei Jahren gibt die Kulturabteilung des Landes Tirol halbjährlich die Kulturzeitschrift Quart Heft für Kultur Tirol unter der Chefredaktion von Heidi Hackl und Andreas Schett heraus. Die Liste der Mitarbeiter jeder Ausgabe ist lang und durchaus prominent besetzt, selbiges gilt für die Kuratoren, die namentlich erwähnt sind.
Auf den aufwändig produzierten Seiten, der Anzahl nach dem Umfang eines kürzeren Romans entsprechend, sind vielfältige Beiträge von Kunst- und Kulturschaffenden verschiedenster Sparten versammelt. So unterschiedlich wie die Themen sind auch die Ausdrucksformen: Gedankenskizzen, Interviews, Essays, Berichte, ein Drama, ein Langgedicht, ein Kochrezept sind einige der Textsorten, denen man in den Heften 7 und 8 begegnet. Fotografien, Skizzen, Zeichnungen, Malereien und die Originalbeilagen (unterschiedlich in Bezug auf Idee und auf die verwendeten Materialien) bilden einen Querschnitt aus der Vielfalt der Ansätze zeitgenössischer bildender Kunst.

Eine der Intentionen der Quart Hefte besteht offenkundig darin, zum Dialog anzuregen – einen Anfang machen die linken Seiten der Hefte, auf denen die Inhalte der rechten Seiten reflektiert, kommentiert, interpretiert werden.
Der Kulturbegriff ist weit gefasst, so unterliegt die Auswahl der jeweiligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht einer Begrenzung auf ,Künstler’ in engerem Sinne, sondern es kommen auch Menschen zu Wort, die gewöhnlich nicht zu den Kulturschaffenden gezählt werden.
Für Heft 7 beispielsweise gestalteten die Pharmazeutin Barbara Matuszczak, der Arzt Peter Scheer und die Köche Martin Sieberer und Heinz Winkler „vier fettfreie Seiten“, in Heft 8 spricht der Physiker Ferdinand Cap mit Ernst Trawöger über Zeit und Raum. Der Sektion „Klinik“ der Neuen Wiener Gruppe (Lacan-Schule), der es vereinfacht gesprochen um eine „Rückbesinnung auf Freud“ und um die „Weiterentwicklung der Psychoanalyse“ in Freud’schem Sinne geht, stehen die linken Heftseiten zur Verfügung, wodurch das Quart Heft Nr.8 „auch ein Beitrag zum ,Freud-Jahr’“ sei.
Kultur ist mehr als Literatur, Musik, bildende Kunst, Theater, Film, Architektur... – zur kulturellen Landschaft, wie sie in den Quart Heften präsentiert wird, gehören unter anderem auch gutes Essen und die Wissenschaft. Quart bricht begriffliche Grenzen auf und zeigt: Oft ist es der Rahmen (in diesem Fall ein besonders ästhetischer), der eine Idee zu Kulturgut macht.

Zu Heft 7/06:
Dem sehr ansprechenden Titelbild, der Fotografie eines auf einen Joghurtbecher gekippten Kleiderschranks, folgt eine Doppelseite, auf der die eigenwillige Kombination von Möbelstücken mit Nahrungsmitteln fortgesetzt wird: Margarine, Joghurt und Kräuterbutter (?) sind zwischen Stuhl und Wand geklemmt, ein geschnitzter Tisch ruht auf Extrawurstsemmeln mit Gurke. Erwin Wurms Fotografien regten Bernhard Studlar zu einem Text über das Essen an, der mit der Bemerkung endet: „So vergeht ein Tag. Frühstück – Mittag – Abendessen. Ich habe irgendwann zwischen dem vorigen Jahrhundert und jetzt vergessen, wie man sonst noch leben kann“. Abgesehen von den „vier fettfreien Seiten“ hat es (fast) wieder mit dem Thema Esskultur. Wir dürfen Krista Hauser ins Brenner-Archiv begleiten, die sich von Johann Holzner „durch die Wohngemeinschaft großer Geister“ führen ließ. Der mit 13 Fußnoten versehene Text von Helmut Jasbar, der auf einem Interview mit Helmut Lachenmann gründet, lässt uns über die „Unverdaulichkeit Neuer Musik“ nachdenken. Die darin enthaltene „Kleine Fibel für Komponisten auf dem langen Weg zur Unsterblichkeit auf Lebenszeit“ spricht wohl vielen Jungkomponisten aus der Seele: lesenswert! In eine ähnliche Kerbe, wenn auch in anderem Kontext, schlägt Martin Fritz mit seinen Überlegungen zur „Downtown Neuhintertux“: Wie sich die Postmoderne in der Tourismusarchitektur manifestiert, zeigt Fritz am Beispiel einer „hochverdichtete[n] – nahezu urbane[n] – Situation“, also anhand einer der Gletscherbahn vorgelagerten Gebäudeansammlung. 
Auch die Ortschaft Prettau ist an einem Talschluss gelegen. Doch nicht mit Tourismus, sondern mit einem großen Thema der Literaturgeschichte beschäftigen sich Bernhard Mertelseder und Christoph W. Bauer: Mertelseder edierte den „Prettauer Faust“, der in Südtirol noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts aufgeführt wurde, neu. Diese Neuedition ist hier neben einem ausführlichen Kommentar vollständig abgedruckt, gefolgt von einem „Epilog in der Hölle“ (Christoph W. Bauer). Dreizehn Strophen lang, in gewohnt dichter, durchdachter Sprache, ,spielt’ Bauer mit dem Teufel und seiner literarischen Überlieferung.
In einem Selbstversuch untersucht Andreas Altmann, ob und wie man in Innsbruck Sicherheit kaufen kann, ebenfalls als Selbstversuch kann Sven-Eric Bechtolfs Besteigung der Niederen Munde bezeichnet werden – sie erfolgte in untrainiertem Zustand, war trotzdem von Erfolg gekrönt. Mit seiner heiteren Beschreibung dieses Gipfelsiegs setzt Bechtolf die Serie „Landvermessung“ fort. Es folgen Bilder von und Gedanken zu Einfamilienhäusern: Bernhard Kathan versucht, anhand einer Analyse der Eigenheimmentalität ein Weltmodell aufzustellen. Man blättert weiter und bemerkt beinahe zu spät, dass man bei den Werbeanzeigen angelangt ist. Dem ästhetischen Prinzip dieser Zeitschrift folgend sind sie beinahe ausnahmslos ,gut gemacht’. Einen Blick auf die Werbung zu werfen ist in diesem Fall durchaus lohnenswert – und wird einem auch nahe gelegt, schließlich sind die Anzeigen in der Inhaltsangabe erfasst.
Die linken Heftseiten wurden diesmal von Peter Senoner gestaltet: „Neunundvierzigmal Bleistift und Buntstift auf Formular“ bedeuten neunundvierzig Variationen über Wespen. Die im wahrsten Sinn des Wortes schwerwiegende Originalbeilage für dieses Heft stammt von Eva Schlegel: Es handelt sich um ein auf Blei gedrucktes Amateurfoto, das die Künstlerin bei einer Problemstoffsammelstelle gefunden hat. In ihrem Kommentar weist sie auf das Spiel mit Erwartungshaltungen hin: „Das Motiv rekurriert auf die nackten Damen in den Boulevard-Zeitungen ... allein das Material verhält sich nicht erwartungsgemäß [...]“.

Zu Heft 8/06:
Wolken über dunkler Landschaft wählte Ernst Caramelle (Filmstill Monika Schwitte) für seine Umschlaggestaltung. Die Begriffe „Landschaft“ und „Raum“ ziehen sich durch die Ausgabe 8/06, den Anfang machen Bestandsaufnahmen von Martin Fritz, der Tiroler Autobahnraststätten besucht hat. Autobahn als Teil der Landschaft hier, bebaute Landschaft da: Der Fotograf Walter Niedermeier arbeitet mit der Architektin Marta Fütterer an einem „Handbuch der Landschaften“ und stellt Fotoarbeiten daraus vor. Raum ist auch zentrales Thema eines Werkstattgesprächs mit Joseph Zoderer. Hans Karl Peterlini besuchte den Autor in seiner Arbeitswohnung in Bruneck und befragte ihn über das Schreiben an diesem (neuen) Ort. Nach Jahrzehnten des Schreibens im Bergdorf Terenten hat Zoderer „ein bisschen Urbanität gebraucht“. Im Interview geht es um Vieles, nicht aber um Südtirol und nicht um Gott: „Über alles kann man nicht reden. Aber wart’, ich les dir noch ein paar Gedichte vor“  lauten Zoderers Schlussworte. Es folgt ein weiteres Gespräch, ein Brief-Dialog zwischen dem Schriftsteller und Kabarettisten Philipp Mosetter und Ernst Caramelle: „Lieber Ernst! Entschuldige mein tagelanges Schweigen, aber ich war zum größeren Teil damit beschäftigt, mir Gedanken zu machen.“ – „Ich melde mich in Kürze, liebe Grüße Philipp.“ Zwischen Anfang und Ende des Briefwechsels stehen viele anregende Sätze über Wände, Räume, Menschen, die Wände schaffen wollen... dazwischen Zeichnungen und Fotografien, die Wände, Räume, Menschen zeigen. Um einen besonderen Menschen geht es Barbara Gräftner, die einen Uheber im Zillertal besuchte und trotz ihrer Profession keinen Film darüber drehen wird: „Medien schaden. Sie verbreiten eine falsche Seinsauffassung“, so Sigmund R. (Name geändert), „[...] das, was hilft, ist genau das, was keiner hören will. Und darum steht das nie in einer Zeitung“. Gräftner macht keine Sensation aus Sigmunds Heilkräften, sondern berichtet respektvoll über seine Fähigkeiten. Die provokante Überschrift „Doppelt so schnell, halb so gut?“ überschreibt einen Text von Michael Cede, der sich mit einer Aufsehen erregenden Schrift des Organisten und Musiktheoretikers Willem Retze Talsma beschäftigte: 1980 erschien seine „Anleitung zur Entmechanisierung der Musik“, ein Plädoyer für eine wesentlich langsamere Tempowahl bei klassischen Musikstücken. Michael Cede stellt in seinem Artikel Talsmas Ansätze und die Wirkung seines Buches vor. Was in Heft 7 fettfrei war, ist hier „schön“: „Martin Kušej, Martina Steckholzer, Hanno Schlögl und Georg Friedrich Haas machen etwas Schönes“, verspricht die Inhaltsübersicht: Der Regisseur schreibt über Werktreue, die bildende Künstlerin legt zwei weiße Kreisflächen auf schwarzen Hintergrund, der Architekt präsentiert ein Foto von Autos in einer ehemaligen Kathedrale und der Komponist schreibt ein Gedicht über die Unmöglichkeiten und die Möglichkeiten der Musik. Eine „Topografie der Farbpigmente von Tirol und Umgebung“ schuf Christine Ljubanovic und kombinierte die Farben mit Mustern. Dabei verwendete sie für jede Darstellung Original-Farbpigmente und Grundmuster-Motive. Nicht auf einen Gipfel, sondern „von Untermieming über Mötz und Silz nach Sautens“ geht Thomas Stangl und „wird dabei zweimal gegrüßt“, sein Bericht über den Fußmarsch ist eine weitere Folge der Serie „Landvermessung“.

Die durchdachte und sorgfältige Gestaltung, die Vielfalt der Beiträge, das Einbeziehen unterschiedlicher Kunstsparten, das Ansprechen wissenschaftlicher Konzepte und Diskurse und nicht zuletzt die lange Liste namhafter Künstler, Kulturschaffender, Intellektueller tragen dazu bei, dass Quart zurecht die Bezeichnung „Heft für Kultur Tirol“ trägt.
Mit den Quart Heften hat Tirol eine Visitenkarte, die den Klischees aus Tourismusprospekten eine gehörige Portion lebendiger Kultur entgegensetzt.

Carolina Schutti

Nach oben scrollen