Rezensionen 2006
Beatrice Simonsen (Hg.), Grenzräume. Eine literarische Landkarte Südtirols.
Bozen: Edition Raetia 2005, 230 Seiten.
„Hier stoßen zwei Kulturen aufeinander, die sich an ihrer Vergangenheit abarbeiten“, heißt es im Klappentext. Ist ,Südtiroler Literatur’ Literatur, die Südtiroler Geschichte und Politik thematisiert? Oft hat man den Eindruck, als gelte nur das als südtirolerisch, was sich mit der konfliktträchtigen Vergangenheit des Landes beschäftigt. Doch häufig wird übersehen, dass nicht nur die neue Autorengeneration (die in dieser Anthologie auch berücksichtigt wird) mit Themen aufwartet, die sich völlig losgelöst haben aus dem regionalen Kontext, sondern dass sich auch ein Joseph Zoderer mit überregionalen Themen beschäftigt hat und dass es einen Oswald Egger gibt, der unbegreiflicherweise in dieser Anthologie fehlt. Obwohl, dazu später mehr, in einigen Beiträgen auf die Themenvielfalt der Südtiroler Literatur verwiesen wird, hinterlässt dieses Buch einen schalen Nachgeschmack: „Für alle gemeinsam liegen die Wurzeln ihres Schreibens in dieser Heimat, mit der man sich kritisch auseinander setzt“, schreibt die Herausgeberin ziemlich unkritisch in ihrem Nachwort.
Zweifelsohne ist ein großer Teil der Südtiroler Literatur exemplarisch für eine Art des Schreibens, die sich aus der speziellen Geschichte des Landes speist. Politische und historische Ereignisse dringen vielleicht mehr als anderswo, vor allem aber besonders hartnäckig und mit weit reichender Konsequenz, ins private Umfeld ein. Die Folgen des Ersten Weltkriegs, die Option, die Attentate der sechziger Jahre sind explizite Themen vieler Texte. Aber vor allem indirekt, auf dem Weg über private, familiäre Schicksale stoßen Autorinnen und Autoren immer wieder auf die problematische Geschichte Südtirols. Letztendlich manifestiert sich das Politische in der wiederkehrenden, weil immer noch aktuellen Frage nach Heimat und Identität – und diese Frage lässt sich ablösen als etwas, das auch außerhalb der Region von Interesse ist. Insofern hat Beatrice Simonsen gut gewählt, als sie nach einem Beispiel für die Literatur eines „Grenzraums“ suchte. Sehr forciert hingegen ist die Herstellung eines Europabezugs: „Politische Grenzen werden aufgelöst“, schreibt sie. „Durch die Erweiterung Europas in Richtung Osten kommt den veränderten Grenzräumen neue Bedeutung zu.“ Simonsen räumt zwar selbst ein, dass ein „direkter Vergleich nicht möglich“ sei – doch würde ich meinen, dass die Situation in Südtirol bei allem Bemühen nun wirklich nichts mit der EU-Osterweiterung zu tun hat...
In dieser Anthologie sind sowohl literarische Texte als auch literaturwissenschaftliche Analysen und allgemein-theoretische Überlegungen zur Sprache und Literatur Südtirols versammelt (wobei der Untertitel eine rein literarische Anthologie suggeriert). Das Nebeneinander verschiedener Textsorten ist etwas ungewöhnlich, aber schlüssig – dem Buch als Ganzem jedoch fehlt es an einem Fokus. Das Konzept, die Intention bleiben vage, nicht zuletzt deswegen, weil eine fundierte Einleitung fehlt und Beatrice Simonsens „Ausblicke“ ein Fazit vermissen lassen. „Aus dem Blickwinkel aller hier zusammenlebenden Sprachgruppen“, so ihr Schlusssatz, „erfährt man von der Wirklichkeit eines vielschichtigen Grenzraumes, eingeschrieben auf einer differenzierten literarischen Landkarte.“ Stellt sich die Frage: Was ist die „Wirklichkeit“? Wie sieht es nun tatsächlich aus mit der Entwicklung, mit Tendenzen in der Südtiroler Literatur?
Es scheint so, als würde die Idee des Buches gänzlich an Armin Gatterers bemerkenswerten Text „Was erzählen wir Europa?“, der seinem 2002 erschienenen Essayband Augenhöhen entnommen ist, hängen. Denn er thematisiert hier Südtirols Grenzsituation, Bozen als „Begegnungspunkt zwischen Kulturen“, Südtirol als Land des Transits, des Tourismus, als Ort „politischer Minderheitenerfahrungen“. Und er ist es auch, der das Bild der Landkarte von Landschaften auf Texte überträgt, von „Landkarten der Narrativität“ spricht. Kein noch so guter Essay kann aber, sofern es sich wie in diesem Fall nicht um einen Originalbeitrag handelt, eine Einleitung ersetzen. Gerade in einer Anthologie, die nicht nur einen mehr oder weniger repräsentativen Querschnitt von Texten präsentieren möchte, sondern den Anspruch erhebt, die Situation eines „Grenzraumes“ umfassend darzustellen, sollte nicht nur der konzeptuelle Rahmen abgesteckt, sondern auch das Kriterium für die Auswahl der Texte begründet werden.
Die einzelnen Beiträge hingegen erlauben tatsächlich „Einblicke“ und „Ausblicke“. Die interne Ordnung, will heißen, die Gegenüberstellung von literarischen Texten und literaturwissenschaftlichen Analysen bzw. essayistischen und literaturgeschichtlichen Betrachtungen, geht auf.
Am Beginn der insgesamt acht nach Themen und teilweise nach Jahrgängen geordneten Blöcke steht ein Auszug aus Franz Tumlers Roman Aufschreibungen aus Trient (1965), dem eine Analyse der Erzählhaltung nachgestellt ist. Der Germanist, Schriftsteller und Musiker Martin Kubaczek denkt über Tumlers „Rekonstruktionsversuch einer problematisierten Wirklichkeitserfassung nach“ und nimmt immer wieder Bezug auf sein Gesamtwerk.
Der zweite Block ist Herbert Rosendorfer und Joseph Zoderer gewidmet. Leider fehlt hier ein analytischer Text, was die Ausgewogenheit des Konzepts beeinträchtigt und den Eindruck einer recht willkürlichen Zusammenstellung der Texte verstärkt. Während Rosendorfers Originalbeitrag „Bekenntnisse eines Angekommenen“ rein in der Erinnerung an die familiäre Situation zur Zeit der Option verharrt, wird am Ausschnitt aus Wir gingen deutlich, welche literarische Qualität Zoderers hohen Bekanntheitsgrad auch über die Grenzen hinaus begründet.
Mit Helene Flöss und Sepp Mall folgen zwei jüngere Autoren, die in Löwen im Holz (2004) und Wundränder (2004) anhand persönlicher Schicksale, zerbrochener Familien, traumatisierter Menschen die Auswirkungen der Geschichte auf die Südtiroler Bevölkerung aufgreifen. Diese Texte spielen in der ,Provinz’ – dass ein Schauplatz in der Provinz nichts mit provinzieller Literatur zu tun haben muss, legt die vielseitig gebildete Journalistin Nina Schröder in ihrem Beitrag „Nichts Neues im Land der ,Walschen’“ eindrucksvoll dar.
„Je kleiner die Region, umso stärker die Sehnsucht nach Aufbruch“, schreibt Wendelin Schmidt-Dengler in seiner Betrachtung über eine lyrische Gegenüberstellung der besonderen Art: Norbert C. Kaser und Gerhard Kofler teilen sich eine „fruchtbare Ausgangssituation“, die sich in der Unmöglichkeit äußert, „[i]hre Pointe, die das Fragile und Bizarre dieses Schreibens in einem zweisprachigen Gebiet umfasst“, auf Deutsch wiederzugeben. Er konstatiert den Gedichten der beiden Autoren ein von der Literaturkritik und Vergleichenden Literaturwissenschaft erst zu entdeckendes Potential und sieht in der poetischen Umsetzung der Zweisprachigkeit die Möglichkeit einer endgültigen Überwindung „nationalliterarischer Enge“.
Anita Pichler (hier mit Haga Zussa. Die Zaunreiterin, 1986 bzw. 2004), Sabine Gruber (mit Aushäusige, 1996) und Maria Elisabeth Brunner (mit Berge Meere Menschen, 2004) sind für Karin Dalla Torre, Publizistin und Leiterin der Dokumentationsstelle für neuere Südtiroler Literatur, drei Autorinnen, in deren Erstlingswerken das Sehnsuchtsmoment bestimmend ist und die sich über das „sperrige Erbstück“ ihrer Heimat hinwegsetzen, indem sie nach neuen Perspektiven und neuen Orten suchen. Dalla Torre setzt die Texte in Beziehung zur Lyrik Maria Ditha Santifallers, die 1904 in Kastelruth geboren wurde, in Weltstädten wie u.a. London, Paris, Wien und Buenos Aires lebte und anhand derer Gedichte „erste Konturen des Sehnsuchtmotivs“ nachgezeichnet werden können.
Um eine Sehnsucht der anderen Art geht es im Text von Rut Bernardi und im Reise-Essay von Karl-Markus Gauß. Letzterer passt thematisch zwar höchstens am Rande zu dieser Anthologie (es geht um den Untergang der zimbrischen Sprache), doch er besticht durch interessante Fakten und die gewohnt hohe sprachliche Qualität. Rut Bernardi schreibt über das Ladinische, in einer leider weniger gelungenen Mischung aus Erfahrungsbericht und (wissenschaftlichem) Aufsatz. In beiden Fällen geht es um aussterbende Sprachen, wobei das Zimbrische bereits in Wörterbüchern ,konserviert’ wurde, das Ladinische noch ums Überleben kämpft.
Mit einer Verbreitung von ca. 26% (Ladinisch etwa 4%) macht die italienische Sprachgruppe immerhin ein Viertel der Bevölkerung aus. Dem trägt die Anthologie Rechnung, indem auch italienische Beiträge aufgenommen wurden (die ins Deutsche übersetzt sind – allerdings gibt es keine italienische Übersetzung der deutschen Texte ...). Der skurrile Text von Alessandro Banda, „I treni da e per Meridiano“/ „Die Züge von und nach Meridiano“ ist seinem 2005 erschienen Buch La città dove le donne dicono di no entnommen und steht stellvertretend für die italienische Literatur aus Südtirol. Es folgen ein literaturgeschichtlicher Überblick von Carlo Romeo und ein Essay über die Situation des Schreibens von Paolo Valente. Man müsste viel weiter ausholen, um italienisch- und deutschsprachige Literatur aus Südtirol einigermaßen umfassend zueinander in Beziehung setzen zu können. Doch wird auf den wenigen Seiten klar, dass Begriffe wie ,Minderheit’, ,Heimat’ und ,Identität’ auch für italienischsprechende Autorinnen und Autoren von Bedeutung sind.
Der letzte Block dieses Buches ist der jungen Schriftstellergeneration gewidmet, die hier von Bettina Galvagni und Martin Pichler vertreten wird. Beide Texte verschließen sich einer historisch-politischen Deutung. Sie haben ihren Ursprung, wie Johann Holzner in seinen „Notizen“ darlegt, in der Autobiografie und führen von der persönlichen Erfahrung geradewegs ins Fiktionale: „Texte, die aus der Autobiografie heraus in die Fiktion hinein führen und also ein weites Feld von Beobachtungsmöglichkeiten öffnen, sträuben sich gegen jede Festlegung, die sie rigoros einzuengen, zum Beispiel auch zurückzufinden versucht an den Raum ihrer Herkunft.“ Losgelöst vom heimatlichen Raum, sich die Freiheit nehmend, über die Heimat zu schreiben oder auch nicht, in der Tradition zu bleiben, gegen sie anzuschreiben oder sie gar nicht erst zu beachten ... eine neue, vielleicht freiere Autorengeneration ist da, zweifelsohne.
Was empfiehlt man in diesem Fall nun als Rezensentin? Ich würde sagen, dass sich das Lesen dieses Buches trotz der unübersehbaren konzeptuellen Schwäche lohnt. Man wird Ausschnitte guter bereits publizierter Texte und interessante Originalbeiträge finden – doch sollte man das Buch keinesfalls unreflektiert lesen oder gar als objektiven und repräsentativen Querschnitt durch die Südtiroler Literatur ansehen. Denn bei all den interessanten Einblicken, die diese Anthologie gewährt, bei allem Bemühen um die Gegenüberstellung verschiedener Perspektiven gelingt es hier nicht, eine „Landkarte“ zu zeichnen – dazu ist der Blick zu unscharf, der auf die Literatur dieses „Grenzraums“ geworfen wird.
Carolina Schutti