Rezensionen 2006
Ingrid Strobl, Ich hätte sie gerne noch vieles gefragt.
Töchter und der Tod der Mutter.
Frankfurt/M.: Krüger 2002.
Bernhard Kathan, Nichts geht verloren.
Lengwil: Libelle Verlag 2006.
Kleine und große Impressionen über den Tod
Libelle, Tier und Mensch
Seit 1979 macht Ekkehard Faude Bücher für seinen Libelle-Verlag, durchschnittlich sieben Novitäten im Jahr, ca. 100 Titel sind lieferbar. Manuskripte langen, wie in der Branche üblich, auch bei ihm ein, unverlangt und zahlreich; durchschnittlich alle drei Jahre ist etwas Passendes dabei. Im Jänner 2006 war es ein Manuskript von Bernhard Kathan. «Eine Geschichte vom Sterben», wie der Verleger auf seiner Homepage lapidar anmerkt und beiläufig hinzufügt: «Dass die Literaturgesellschaft Vorarlbergs (Felder-Verein) diesen Band nun als Jahresgabe für ihre Mitglieder ausgewählt hat, ist das erste schöne Zeichen der Rezeption.»
Dieser Rezeptionsradius soll hier auf Tirol ausgeweitet werden, weil der Autor, 1953 in Fraxern in Vorarlberg geboren, als Kulturwissenschaftler und Künstler in Innsbruck lebt und arbeitet. In den letzten Jahren veröffentlichte er unter anderem eine «Andere Geschichte der Medizin» (Das Elend der ärztlichen Kunst, Wien: Döcker 1999), welche die Beziehung Arzt – Patient analysiert, oder eine Studie zur Beziehung Mensch – Tier (Zum Fressen gern, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004). Zuletzt erschien sein «Nachruf auf die kleinbäuerliche Kultur», welche er anhand von 60 traditionellen Gegenständen in Text und Bild nochmals vor Augen führt (Strick, Badeanzug, Besamungsset, Innsbruck/Bozen/Wien: StudienVerlag 2006).
Impressum und Eindruck
Ekkehard Faude hat in Kathans neuem Buch nun das gemeinhin eher schlicht gehaltene Impressum auf der letzten Druckseite genützt, um weitere Auskunft über seine Verlegerentscheidung zu geben: «Beeindruckende Texte über das Lebensende, die Vor- und Nachräume des Todes, über das veränderte Sterben in der Moderne finden sich nicht oft.» Im Verlagsprogramm stand so Katrin Seebachers Romandebüt «Morgen oder Abend» (1996), eines der großen stillen Bücher des Verlags, thematisch lange Zeit allein. Kathans «starke Bilder vom Fortleben und sein kulturwissenschaftlich genauer Blick auf die medizinische Entsorgung der Alten sowie die Abbrüche des Herkommens schließt sich unvermittelt eng an die dichterische Präzision von Katrin Seebacher an. Das Wispern zwischen diesen beiden Texten hat begonnen.» Hören wir einmal hin!
Aus dem Leben des verstorbenen Jodok
In 20 kurzen Betrachtungen erzählt Bernhard Kathan vom Leben, Sterben und Nachleben des Kleinbauern Jodok. Wie Seebacher ihren Roman thematisch in Erzählungen vorbereitet hatte, lässt der Autor den auktorialen Erzähler aus den eigenen kulturhistorischen Büchern schöpfen. Der Blick dieses Erzählers ist zart und pragmatisch, einfühlsam und gegenständlich zugleich: «Jodok, bereits Jahre begraben, streicht noch immer herum, sei es nun als Tier, Luftwesen oder als Mitteilung von Steinen und Gras.» Man erfährt viel über Jodoks Welt und einiges über die Dinge, welche den Erzähler umtreiben. Der Text mag einem, besonders zu Beginn, seltsam verschränkt erscheinen, aber er legt es auch gar nicht darauf an, gedrechselt zu sein wie etwa Handkes «Wunschloses Unglück» oder dramatisch zugespitzt wie Mitterers «Sibirien». Solches ignoriert er, seine Referenzgrößen haben schon eher Namen wie Pasolini, E.T.A. Hofmann oder Hartmann von Aue (Der arme Heinrich).
Mütterliches Sterben
Ingrid Strobl, Altersgenossin Kathans und in Innsbruck geboren, hat in ihrem Buch, das vier Jahre nach dem Tod der Mutter 1998 im populären Sachbuchprogramm des Krüger Verlags erschien, das Spektrum eingeschränkt, aber doch den Blick geweitet. Sterbende Mütter, so die Autorin einleitend, sind die Ausnahme in der Literaturgeschichte, etwa bei Handke oder Johnson (die Liesbeth Cresspahl der Jahrestage). Sie analysiert diese Leerstelle und erklärt: «Die Frauengeneration, die den Feminismus ins Leben rief und sich in der neuen Frauenbewegung engagierte, ist jetzt in das Alter gekommen, in dem die Eltern sterben.» Nur konsequent also, dass Strobl sich des Themas annimmt. Sie reflektiert das ambivalente Verhältnis unserer Gesellschaft zum Tod, die Beziehung Mutter – Tochter (Teil 1/2) und den «Tod der Mutter in der Literatur der Töchter» am Beispiel von «drei sehr unterschiedlichen Schriftstellerinnen, Virginia Woolf, Nelly Sachs und Simone de Beauvoir» (Teil 1/3). Kernstück des Buchs ist der zweite Teil, der eigene Eindrücke und die anderer angesichts des Todes der Mutter versammelt.
Wispern
Auch hier könnte sich ein Wispern zwischen den Texten einstellen. Auf seine Art changiert Kathan zwischen Studie und schöner Literatur, für die der Tod neben der Liebe eines der großen Themen ist. (Literaturkritiker werden nicht müde, diesen Stehsatz loszuwerden.) Seine Prosa verströmt Ruhe; nicht Totenstille wohlgemerkt, sondern jenen sanften Zeitfluss, der sich im Erzählen beim Zuhörer einstellen kann. Strobls Erzählfluss hat ein reportageartiges Tempo, stockt aber, so zielgerichtet er ist, wo von Toten und vom Tod die Rede ist. Seine Botschaften wird jeder selbst herauslesen, mit mehr Zuneigung für den einen oder andern Text. Solange Literatur aber derart am Puls des Lebens fühlt, ist es gut.
Bernhard Sandbichler