Rezensionen 2006
Eva-Maria Widmair, Gerhard Kofler & Ludwig Paulmichl (Hrsg.): Europa erlesen – Südtirol/Alto Adige.
Klagenfurt/Celovec: Wieser Verlag 2006, 315 Seiten
De rebus tirolensibus (lat.): Über Tiroler Dinge
Peri thes anthologías (griech.): Über Anthologien
Wie sagten die alten Römer eigentlich dazu?
Sie nannten sie Venosten, Isarken, Breonen und Genaunen.
Zumeist aber behalfen sie sich mit dem Sammelbegriff »raetium«.
Und die jungen Faschisten?
Jahrhunderte später lösten sie das Problem mit den Stammes- und Ortsnamen anders, brachten es zustande, innert 40 Tage 12.000 Südtiroler Ortsnamen zu italianisieren und anschließend 20.000 Familiennamen (was rein rechtlich gesehen einer Urkundenfälschung gleichkam). Wer nach 1924 den Namen »Tirol« gebrauchte, kam für vier Wochen hinter Gitter. Die Faschisten errichteten in Bozen/Bolzano sodann ein Siegesdenkmal, an dessen Inschrift – »hic patriae fine siste signa hinc ceteros excoluimus lingua legibus artibus« (Hier an der Grenze des Vaterlandes setze das Zeichen. Von hier aus lehrten wir die anderen Sprache, Gesetz und Kunst) – bis heute gekiefelt wird, es herrscht Unfriede auf dem »Siegesplatz«.
Unweit von dort hatte zum ausgehenden 19. Jahrhundert der deutschnationale Bürgermeister Julius Perathoner ein Denkmal des Minnesängers Walther von der Vogelweide errichten lassen, das nach einigem Hin und Her seit den 1980er Jahren wieder an seinem Ursprungsort steht, dem Waltherplatz. Die Idee, dass Walther ein Südtiroler sei, geht auf den Lajener Pfarrer Johannes Haller zurück, der in Ignaz Vinzenz Zingerle, Professor für deutsche Philologie in Innsbruck, einen akademischen Verfechter seiner These fand. Die Reaktion aus dem italinienischsprachigen Süden ließ damals nicht lange auf sich warten. 1896 wurde in Trient/Trento ebenfalls ein Dichter-Standbild enthüllt: Dante Alighieri blickt hier gestreckten Arms nach Norden, von wo ihm Walther mit vielsagendem Blick entgegensieht.
Diese beiden nationalen Säulenheiligen und Dichter, von denen vermutlich keiner Südtiroler war, stehen zu Beginn der »Europa erlesen. Südtirol/Alto Adige«-Anthologie: Der eine steigt lyrisch vom Hang hernieder, der andere legt sich unter die Linde. Oswald von Wolkenstein, der folgende dritte, zieht viel in der Welt herum, entsprechend makkaronisch ist daher so manches seiner Gedichte: »wesegg mein krap ne dirs dobro«, krauderwelscht es da (laut Dieter Kühn: ›mein Anker hält mich niemals fest‹). Es folgen Dietrich-Epik, Nikolaus von Kues, Michael Gaismair – Chronologie ist hier also ein Kompositionsprinzip dieser Anthologie.
Jetzt zu den alten Griechen. Seit der auf der griechischen Ferieninsel Kos verstorbene Meleagros aus Gadara knapp vor Beginn unserer Zeitrechnung nicht als x-ter Dichter eigene Werke, sondern als erster überhaupt repräsentative Werke seiner großen Kollegen herausbrachte, ist die damit erfundene so genannte Anthologie (Meleagros’ Einleitungsgedicht hieß »Anthologia Palatina«) zur folgenreichen und erfolgreichen Verlegerpraxis geworden. Hier haben wir nun eine Anthologie des Ferienlandes Südtirol vorliegen und sie ist Bestandteil der mittlerweile 99-bändigen Edition »Europa erlesen« im Wieser Verlag, Klagenfurt/Celovec. Andere Bände erzählen von Transkarpatien, Siebenbürgen, Lappland, Dublin, der Provence oder gar von einem Land, das »Senza confini« heißt. Es liegt in der Natur dieser Sache, dass neben der Zeit auch die Orte ein Kompositionsprinzip sind. Südtirol – das dreisprachige Land muss einem Verleger wie Lojze Wieser ganz besonders am Herzen liegen, wo er selbst in einem Land lebt, in dem zweisprachige Ortstafeln verrückt worden sind. Für seine Verdienste um die Erschließung der literarischen Landschaften Mittel- und Osteuropas bekam er allerdings den Professoren-Titel, wir sind schließlich in Österreich.
Nun aber zurück zu Meleagros und zur Anthologie. Der Grieche komponierte seinen Erstling voll Geschick, ordnete nach Motivketten, gruppierte nach exemplarischen Gestalten. Er nannte sein Florilegium »Kranz«, und der war kunstvoll geflochten. Wie steht es um das Arrangement dieser Anthologie?
Auf dieser literarischen Reise lernt man viel kennen, regionale und internationale Dichterflora, manches bislang noch gar nicht botanisierte Fundstück, und von diesen Kategorien jeweils Vorfahren und Zeitgenossen. An die 100 Beiträger sind es insgesamt auf 300 Seiten, unmöglich, sie hier aufzuzählen. Summarisch tut dies ein kurzes und kundiges Nachwort von Ludwig Paulmichl und Eva-Maria Widmair. »Ein roter Faden«, so die Herausgeber, »ist das Engagement für ein haßgeliebtes Land, gegen die Enge und Engstirnigkeit, meist Auftritte mit kräftiger Attitüde, selten ironisch elegant wie bei Paul Flora.« Damit ist ein Name genannt, und die Bandbreite dieser höchste gelungenen Zusammenstellung angedeutet. Von Orten war schon die Rede, und was die Zeit betrifft: Sie endet hier mit einer lakonischen Südtirol-Notiz von Mit-Herausgeber Gerhard Kofler vom 23. Juni 1999. Im November 2005 raffte den »starrköpfig in zwei Sprachen Schreibenden« der Krebs hinweg. Seinem Andenken ist diese Anthologie gewidmet.
Bernhard Sandbichler