Rezensionen 2006

Jakob Philipp Fallmerayer, Hagion-Oros oder der heilige Berg Athos.
Mit einem Nachwort von Ellen Hastaba, Zeichnungen von Paul Flora, Fotos von Wolfgang Pfaundler und Audio-CD (Gert Westphal).
Bozen: Edition Raetia 2002



»Geht doch nach Byzanz, da braucht ihr nichts zu wissen!«
Jakob Philipp Fallmerayer fragmentiert den Berg Athos

 »Montag 22. April, fahle Sonne« – so Jakob Philipp Fallmerayers letzter Tagebucheintrag. Er starb 1861, hatte stets Journal geführt und dabei vor allem auch meteorologische Zeitläufte erfasst. Etwa: »Schöne Zeit, keine Wolken bei vollkommener Windstille und lauen Lüften« (19. April); oder: »Wolkig, kalt, etwas Schnee Nachts, unfreundliche Zeit; Nachmittag herrlich und wolkenlos« (20. April). Das erinnert nachgerade an den englischen Dichter und Priester Gerard Manley Hopkins, in dessen Diarien derlei wettrige Notate ebenfalls zahlreich zu finden sind. Etwa im Journal aus 1868: »19. Ap. Trüb mit Regen und Wind. 20. Ap. Regen; dann schön – der Sturm spreitete die jungen Kastanienblätter.«1)

»spreitete« – diese Wortbildung verdanken wir übrigens dem Hopkins-Übersetzer und Lyriker Peter Waterhouse. Fallmerayer nun hat mit Übersetzer-Deutsch nur insofern zu tun, als Passagen seines »Berg Athos« in Klang und Ton an den deutschen Nachdichter Homers denken lassen, an Johann Heinrich Voß mithin. Das mag auch daran liegen, dass der Neuausgabe des »Glanzstücks seiner orientalischen Reisetexte« (NZZ, 05.07.2003) in der Edition Rætia eine CD beiliegt. Wie Gert Westphal hier Ausschnitte des Textes liest, kommt jener Intensität nahe, mit der Thomas Holtzmann die Voss’sche Odyssee-Version  rezitiert.2) Schade nur, dass Westphal lediglich eine halbe Stunde liest (wo Holtzmann sich über 6 CDs ausbreiten darf)!

Aber nun zurück vom Hörbüchlein zum Textbuch, das über 16 wunderbare S/W-Fotos von Wolfgang Pfaundler, 4 lakonische Stiche von Paul Flora (davon einer doppelt), ein ausführliches Nachwort der Herausgeberin Ellen Hastaba, und vor allem – auf 23 plus 43 Seiten schön gesetzt – Fallmerayers »Hagion-Oros oder der heilige Berg Athos«, Teil 1 plus 2, enthält. Wie Voss vermag er hier schwärmerische (und in seinem Fall orientalisierende) Idyllen zu bieten; aber seine satirisch-pointierte Feder stellt ihnen immer wieder okzidentale Anti-Idyllen gegenüber. Sie weisen ihn dann eben doch als Nachfolger Heines aus, ohne dass man freilich die spöttische  Schärfe schmeckt, mit der dieser seine »Reisebilder« zuweilen überwürzt. Solcherart Polemik behielt Fallmerayer seinen Tagebüchern vor.

Geschrieben hat der Byzantinist und Orientalist dieses und weitere »Fragmente aus dem Orient« zunächst für die seinerzeit weit verbreitete »Augsburger Allgemeine Zeitung«. Wiewohl er dem Feuilleton-Publikum gegenüber vorgab, diese Reiseepisoden direkt aus dem Tagebuch zu übernehmen, ist ebendiesem zu entnehmen, dass ihr Verfasser »sinnt und liest [und] auf der Hofbibliothek de fontibus nachsucht«, um seinen Elaboraten nur ja den gehörigen Schliff zu geben. Nach der ersten Lieferung des Athos-Fragments an die AAZ darf Fallmerayer so in sein Tagebuch notieren: »Der Artikel thut große Wirkung, ist Gegenstand aller Gespräche, selbst zu uncultivirten Geistern drang der Ruf, quod felix faustumque sit!« Für die Buchausgabe 1845 bei Cotta schließlich überarbeitet er die Fragmente teilweise nochmals. Sie sollte ihm höchstes Lob eintragen: »Um 6 Uhr warme Conferenz mit dem Kronprinzen [Maximilian], Dank und Enthusiasmus für die Vorrede und für das ganze Werk; große Wirkung, tiefer Eindruck; – gnädiger als je; Analyse der Vorrede und Beweise großer Huld.«

Derartige Strebsamkeit sollte, so möchte man meinen, dem orientalischen Bohemien Fallmerayer eigentlich widerstreben. 1837, als die Lebensumstände den »Professor der Allgemeinen Geschichte am K. B. Lyceum zu Landshut«, der sich zuerst mit seiner umfänglichen Studie über die »Geschichte des Kaisertums von Trapezunt«, 18273), einen guten Ruf erworben hatte, für Jahre von jeglicher Lehrverpflichtung entbanden, hatte er sich ins Tagebuch geschrieben: »möchte [...] viel Geld um wie ein Afghane mit Niemanden etwas zu schaffen zu haben [...] Ich hätte nie geglaubt, dass ich nach dem arbeitsamen zehnjährigen Landshuterleben ohne Beschäftigung den Tag hinbringen könnte! Im Orient habe ich diese Kunst gelernt.«

Wie solche Kunst aussieht? »Geht doch nach Byzanz, da braucht ihr nichts zu wissen!«, rät Fallmerayer dem Bildungsbürger des Okzident in Teil 2. »Wir haben eine Tyrannei der Bildung, des Progresses, der Doctrin, des feinen Tones und sind vor Allem genöthigt ›Esprit‹ zu haben und die neueste Wandelscala akademischer Geschmackssentenzen und Salondekrete über Wortconstruction, Bedeutung und Syntax zu kennen, um zu jeder Stunde ›auf der Höhe des Moments‹ zu seyn. Ach, welche Pein!« Fallmerayer, so suggerieren Text und Biografie des Autors, befand sich lieber auf der Höhe des Berges Athos, wo »es keine Akademie [gibt], keine Autoren, keine fortschreitende Bildung und Niemand liest ein Buch« – was für den gesamten Orient gilt, mithin auch für den Hagion-Oros.

Nun, nicht jeder vermag sich derartig Eigenbrötlerisches zu leisten, und die Mönche vom Heiligen Berg Athos halten sich ja auch für Auserwählte, die untereinander freilich gleich sind: »Der Einsatz ist ja für alle gleich und morgen – das weiß der Diener – kann er an Reichthum und Macht über euch [europäische LeserInnen] stehen, was im hierarichisch gegliederten Zustande der abendländischen Gesellschaft unmöglich ist.« Die Zeit hier ist überhaupt stehen geblieben, und »käme jetzt St. Athanasius, der Hagion-Oros-Reformer, wieder aus dem Grabe in seine Laurakolonie zurück, er fände seine Mönche noch auf derselben Stelle geistiger Gymnastik, wo er sie vor 900 Jahren verlassen hat. Selbst die halbvollendete Phrase, bei der ihn der Tod überraschte, könnte er zu Jedermanns Verständniß im Style seiner Zeit ergänzen.«

Schier unglaublich, was sich dort abspielt, ist für uns heutige wie für Fallmerayers damalige LeserInnen, die er – im Stil des gebildeten Essays – gern direkt anspricht: »Glauben Sie wohl, daß man sich unter diesen Umständen auf dem Hagion-Oros viel kümmere, was Hr. Prellerus in Dorpat über die Fragmente des alten Grammatikers Praxiphanes diputire, oder daß man Dr. Wall aus Oxford lese, von dessen großem Werke über die Erfindung des ABC eben erst ein Theil der Einleitung in drei Oktavbänden zu nicht mehr als 1500 Seiten erschienen ist?«

Da dürfen wir dem Autor schmunzelnd beipflichten: Nein, das kümmerte die Athos-Mönche wohl einen feuchten Kehricht. Und auch wir wenden den Blick vom Westen zum Osten und lesen heute anstelle von Prellerus und Dr. Wall viel lieber, was Fallmerayer über den Athos zu erzählen weiß.

Bernhard Sandbichler

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(1)Gerard Manley Hopkins. Journal (1866–1875) und Frühe Tagebücher (1863–1866). Aus dem Englischen von Peter Waterhouse. Salzburg/Wien: Residenz 1994, S. 59
(2)München: Der HörVerlag 2005
(3)Eine Nachdruckauflage der Ausgabe München 1827 (Hildesheim/New York: Georg Olms Verlag 1980) ist lieferbar

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