Rezensionen 2006

Birgit Unterholzner, Die Blechbüchse
Erzähungen
Innsbruck: Skarabaeus Verlag 2006


Die Menschen in Birgit Unterholzners Erzählband „Die Blechbüchse“ sind ständig in Bewegung: sie ahnen, sobald sie verweilen, holt die Vergangenheit sie ein. Aber wie ihr entkommen? Die Erinnerung springt auch auf einen fahrenden Zug und es braucht nicht unbedingt einen Stau im morgendlichen Berufsverkehr, wie in der Titelerzählung die „Blechbüchse“ damit die Bilder Zeit haben, sich zu formieren. Die Ich-Erzählerin ist sich bewusst, dass die Vergangenheit entweder als blinder Passagier oder als gestrenge Kontrollorin überall hin mitfährt und stellt sich ihr:
„Wie eine Reisende, die nach geraumer Zeit eine Stadt erneut aufsucht, das Alte nach und nach wieder erkennt, die Enttäuschung über verflogene Schönheiten schwerlich verbergen kann, so bewege ich mich in den Räumen meiner Kindheit.“

Nein, es ist Birgit Unterholzners Protagonistinnen nicht gegeben, die Augen vor den Grauzonen der Erinnerung zu verschließen und sich gemütlich in einem unreflektierten Leben einzurichten. So treten sie auch als Reisende keine gut organisierten, detailliert geplanten Pauschalreisen an, sondern lassen sich mutig auf neue Erfahrungen ein, selbst auf die Gefahr hin, dass die Reise zu einer Irrfahrt werden könnte.
Zitat aus der Erzählung „Dialoge in Prag“:
„Bevor sie die Reise antraten, sagten sie, Ohne Risiko fahren wir nicht. Sie sagten es beide und sahen sich dabei lange in die Augen. Es war wichtig zu fahren, so viel spürten sie, und es würde ein Wagnis werden.“  
Kein Risiko lässt sich wirklich abschätzen, sonst wäre es ja keines mehr, und so machen auch Therese und Franka auf ihrer Pragreise Erfahrungen, mit denen sie nicht gerechnet haben.   Therese steht bei der Suche nach der Vergangenheit vor einer verschlossenen Tür, während Franka eine aufstößt und sich dabei auch der Freundin öffnet. Sie erkennen: miteinander verreisen, heißt noch lange nicht, einander nahe sein, der Weg, den es nun zurückzulegen gilt, führt von der einen zur anderen und ist extrem fordernd: der Blick in die menschliche Seele ist eben weit beschwerlicher als eine Stadtbesichtigung.   
Suche und Flucht vereinen sich in allen diesen Geschichten zu einem dynamischen Ablauf. So rennt Eva Maria in der gleichnamigen Erzählung seit fünfzehn Jahren, drei Monaten und nunmehr zwölf Tagen durch die Stadt, auf der Suche nach ihrem Kind, das man ihr entführt hat, und kehrt jeden Tag wieder ins Heim zurück, wo sie sich als pflegeleichte Person erweist.
Birgit Unterholzners Protagonistinnen sind aber nicht sinnlos Flüchtende und Getriebene. Wenn sie sich auf eine Suche begeben, so finden sie meistens auch -   im besten Fall zu sich selbst. Sobald sie aufbrechen, bricht etwas auf und heraus, auch auf der sprachlichen Ebene. Die Autorin lässt sich von der Leidenschaft ihrer Figuren anstecken und mitreißen. Das ist faszinierend zu lesen und sorgt für Spannung. Man möchte wissen, wie es Marie in der Geschichte „Das Lächeln der Thaifrau“ ergeht, die ihren Mann Thomas in Thailand besucht und dabei mit einer thailändischen Rivalin konfrontiert wird. 
Man möchte wissen, ob die Icherzählerin in der Geschichte „Komm zu mir“ ihre geliebte Ana findet und welches Geheimnis sich hinter deren Verschwinden verbirgt. 
Und man möchte vor allem mehr über die Autorin wissen, die diese Geschichten geschrieben hat. Man kann sie sich eigentlich nur als eine unermüdlich Reisende und Beobachtende vorstellen, als Frau voller Neugierde auf die Welt und die Menschen.

Irene Prugger

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