Rezensionen 2003
Sabine Gruber, Die Zumutung.
München: C.H.Beck, 2003, 221 Seiten.
Ein Verlangen nach Hören, nach Antworten
Sabine Gruber hat mit ihrem neuen und zweiten Roman „Die Zumutung“ einen bestechenden Text über das Ich und sein Körpergedächtnis geschrieben. Die Sterblichkeit ist eine Gewissheit, mit der jeder Mensch mehr oder weniger bewusst durchs Leben geht. Doch Marianne, die Protagonistin des Romans, ist dem Tod näher als ihre Freunde, ihr Körper ist schon in jungen Jahren nicht intakt. Eine zunächst nicht geklärte Krankheit, die sich schließlich als Nierenschrumpfung herausstellt und in der Notwendigkeit regelmäßiger Blutwäsche an der Maschine mündet, dominiert Mariannes Lebensgefühl. Sie steht auf einem brüchigen Boden, sie kämpft mit lähmender Angst und einer zuweilen alles erfassenden Schwäche und macht sich doch jeden Tag aufs Neue auf, einen normalen und letztlich auch lebendigen Alltag zu leben. Die wiederkehrende Frage scheint zu sein, wie nahtlos sie sich mit ihrem Körper identifizieren will, ja muss.
Was die Schwäche der Hauptfigur in „Die Zumutung“ ausmacht, ist zugleich auch ihre Stärke. Marianne kennt die Perspektive des Todes. Und sie lebt diese Perspektive aus, spielt sie mit all ihren ernsten, aber auch offensichtlich humorvollen Seiten durch. „Als sie mich hinaustrugen“ (S. 10) ist das Leitmotiv, das sich durch den ganzen Roman zieht. Es ist dies das bewusste zu-Ende-Denken des eigenen Lebens, das mutige Hereinlassen des Todes, und zwar aus einem klar formulierten Grund: „Er arbeitet weniger schnell, wenn man mit ihm spricht“ (S. 7). Und so macht sich Marianne vertraut mit ihm, imaginiert in immer neuen Anläufen ihre eigene Bestattung. Derartige Inszenierungen kennt die Literatur durchaus, doch Sabine Grubers Ansatz hat nichts Morbides, Todessehnsüchtiges an sich. Der Tod gibt Perspektive auf unterschiedliche Lebensarten, er kennt kein Gefühl, aber er ist hellsichtig und registriert genau, was geschieht. „Wie die Wolken drängten sich die Trauernden aneinander“ (S. 10), und die tote Marianne sieht durch die Fassade der Menschen, die ihrer Beerdigung beiwohnen, hindurch, sie nimmt wahr und beschreibt, was vorgeht. Sie kennt die abschweifenden, in den eigenen Alltag hinausziehenden Gedanken der anwesenden Menschen genauso gut wie die Ehrlichkeit ihres Verlustgefühls, ihre Verwirrung nicht weniger als die in der Situation aufblitzenden Erkenntnisse.
Die mit der Wendung „als sie mich hinaustrugen“ eingeleiteten Beerdigungsszenen deuten auf die Weisheit dessen, der das, was die Lebenden anrührt und gefangen hält, hinter sich gelassen hat. Doch da ist nichts Mystifizierendes, schon gar nicht etwa Esoterisches in diesen Passagen. Vielmehr eröffnet dieser Erzählstrang dichte Wahrnehmungen, leicht und ungekünstelt, präzise und berührend. Wie sich die Erzählerin generell jeder Schönrederei über Krankheit als Schicksal und Chance enthält, so geht sie auch mit dem Tod nicht erhaben und bedeutungsvoll um. Sie führt eine bestechend einfache Perspektive vor, die wiederkehrenden Beerdigungsszenen durchsetzen den Romantext mit einem heiteren Ernst. Es sind vielfach poetische, oft schräge und manchmal geradezu witzige Miniaturen, die Sabine Grubers sonst realistische, am Alltag Mariannes orientierte Erzählung in einer wunderbaren Schwebe halten.
Marianne geht auf ein Fest und lernt Beppe, einen übergewichtigen und unbeholfen wirkenden Mann kennen. Ihr Gefährte Paul ist für längere Zeit in Rom und kommt nur selten in die gemeinsame Wohnung zurück. Beppe wirbt hartnäckig um Marianne und gewinnt ihre Liebe, weil er über die Fähigkeit des wachen, ungeteilten Zuhörens verfügt. Marianne erzählt Beppe – und damit auch den Lesern – ihre Körpergeschichte, die Geschichte ihrer Erkrankung und letztlich auch die Geschichte ihrer Sehnsucht nach Einverstandensein mit dem, was ihr widerfährt. Im Prozess des Erzählens nähert sich Marianne wieder ihrem fremd gewordenen Körper an, gewinnt ihn gewissermaßen zurück. Subtil wird allmählich eine Erotik des Sprechens und Zuhörens offen gelegt, ein zentrales Beziehungsmotiv des Romans. Marianne hat Freunde, die sie lieben, aber sie wehren ihr wichtigstes Anliegen unwillkürlich ab, keiner ihrer Freunde vermag wirklich hinzuhören, zuzuhören. Und so muss Marianne die Liebe der Menschen in Frage stellen. Die Freundin Erna, der ehemalige Liebhaber Leo, der gegenwärtige Geliebte Paul, der Schriftsteller Holztaler und andere sind mit ihrem eigenen, gesunden Leben beschäftigt. Sie planen neue Liebschaften und neue Romane, sie verlieren sich in Nebensächlichkeiten, geben sich scheinbar ungeheuer wichtigen Beschäftigungen hin. Sabine Gruber gelingt es, die unterschiedlichsten Charaktere vorzuführen und zu durchleuchten, ohne sie jedoch zu diffamieren. Mariannes Freunde sind durchschnittlich egozentrisch und damit durchaus auch liebenswürdig, sie denken und handeln wie Menschen das im allgemeinen eben so tun. Beppe aber richtet sich auf Marianne aus und hört stundenlang zu. Es ist ausgerechnet dieser Mann, der selbst nicht an körperlicher Liebe interessiert ist, der Mariannes Erotik und Sexualität weckt.
Sabine Gruber webt die verschiedenen Erzählstränge ineinander und erzählt so komplex und überzeugend die Geschichte einer Frau, die angesichts zunehmender Bedrohung durch ihre Krankheit hart an der Grenze des Zumutbaren lebt und erst allmählich wieder an Terrain - vielleicht ein gewisses Zutrauen ins Leben und in ihre eigene Kraft - gewinnt. Die Entwicklung vollzieht sich im Kontext des ganz normalen Lebens im künstlerisch-intellektuellen Milieu einer Stadt. Der Blick der Erzählerin auf die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten der Lebenden, der Gesunden und vielfach Unbewussten ist glasklar und kritisch, aber nicht ohne Verstehen. In der deutlichen Distanzierung gegenüber der sie umgebenden Kunstszene, in Abgrenzung auch zu den Freunden und in der gleichzeitigen Öffnung gegenüber Beppe erlangt Sabine Grubers Hauptfigur ein Stück Selbstgewissheit zurück. Mariannes Gratwanderung kommt ernst, aber nicht tragisch daher, sie ist eingebettet in Alltag - Essen, Schlafen, Trinken, Freunde-Treffen, Arbeiten - und trotz allen Ernstes auch leicht und stellenweise ironisch. Vor allem aber ist da viel Humor im Detail. Dieser Humor, der sich mitunter zu witzigen und skurrilen Sequenzen zuspitzt, bereichert Sabine Grubers schon von früheren Texten her bekannte Fähigkeit zu geschliffenen Miniaturen und kleinen, poetisch aufgefädelten Beobachtungen.
„Die Zumutung“ ist in Summe ein ausgewogenes und genau kalkuliertes Lebensbild, das zum Nachdenken herausfordert, aber nicht nur. Der Roman unterhält, indem er den Faden der Spannung von Anfang bis Ende niemals verliert. Die Dialoge stimmen, die Brüche und Neuanfänge kommen zur rechten Zeit, die Konstruktion des Romans ist vielschichtig, aber keineswegs schwer. Ein leicht und luftig formulierter Text, der gerade deshalb im rechten Sinne auf die ernsten, existentiellen Dinge des Lebens zugreift.
Wimmer Erika