Rezensionen 2003
Claudia Paganini, Panopticon.
Hall: Berenkamp, 2003, 112 Seiten.
Panopticon ist das fünfte Buch von Claudia Paganini. Unter ihrem Mädchennamen Claudia Mathis veröffentlichte die Theologin und Schriftstellerin die Erzählung Wie ich aufgestanden bin (Berenkamp, 2001), ein Sachbuch über Gipfelkreuze (Dem Himmel nah, Berenkamp, 2002) und den Lyrik- und Kurzprosaband Schwarzer Schnee (Mathis, 2001). Nach ihrer Heirat folgte Froh gelebt und leicht gestorben (Berenkamp, 2003), ein weiteres Sachbuch über Marterln und Grabinschriften.
Panopticon ist eine Dystopie (negative Utopie). Wie in George Orwells 1984 gibt es in diesem Roman Überwachungskameras, sind nicht ideologie-konforme Ideen der Vergangenheit dem Vergessen anheim gefallen, wie in Aldous Huxleys Brave New World gilt eine neue Zeitrechnung, werden unangepaßte Individuen dem Ideal einer reibungslos funktionierenden Gesellschaft geopfert, und wie im Truffaut-Film Fahrenheit 451 (nach dem Science Fiction-Roman von Ray Bradbury) entspricht der technische Entwicklungsstand unserem gegenwärtigen: Immer noch haben Psychopharmaka unerwünschte Nebenwirkungen, gibt es nichts besseres als Formaldehyd zum Konservieren, werden Schuhe naß, wenn man im Schnee damit herumläuft.
Die Protagonistin ist eine junge Ärztin, die an ein verbotenes Buch, die Bibel, gerät, darin Gott und eine neue Form zu denken entdeckt, deshalb mit den geltenden Normen und Gesetzen in Konflikt gerät und zur Strafe verbannt wird.
Das Panopticon, auf das sich der Titel bezieht, wurde 1791 vom Englischen Philosophen Jeremy Bentham erfunden. Seine Zeichnungen zeigen einen Turm, umgeben von einem Gebäude aus wabenartigen Zellen, in denen sich Gefangene bzw. Kranke, Schüler, menschliche Forschungs-Objekte etc. befinden, die auf diese Weise keinen Kontakt zueinander herstellen, aber von einem hinter Jalousien verborgenen Beobachter im zentralen Raum beobachtet werden können. Diese Art der Unterbringung sollte auch bewirken, daß die Beobachteten ihr Verhalten "freiwillig" bestehenden Normen anpaßten. Dieses Panopticon wird in Michel Foucaults Abhandlung Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1975) zu einer Metapher für moderne Unterdrückungspraktiken mit Hilfe von Information. Das aus dem genannten Werk übernommene Motto signalisiert, daß es in Paganinis Roman hauptsächlich darum geht.
Neben den bereits erwähnten Kameras, die in Panopticon nur in öffentlichen Räumen angebracht sind, werden Schlafüberwachungsgeräte eingesetzt. Die Bürger sind verpflichtet, ihre Träume aufzuschreiben, von oben verordnete Unterhaltung zu konsumieren und laufend an Teambesprechungen, Therapiegruppen und Befindlichkeitsrunden teilzunehmen, die ideologiekonformes Denken und Fühlen garantieren sollen. Da von der Religion, den Geisteswissenschaften und Künsten ausgelöste Gedanken und Emotionen nicht kontrollierbar sind, hat man diese Disziplinen abgeschafft. Kunst darf ausschließlich therapeutischen Zwecken dienen. Oberste Ziele der Politik sind die psychische Gesundheit des einzelnen und ein störungsfreies Zusammenleben.
Das alles führt dazu, daß zwischenmenschliche Beziehungen generell durch Verstellung und Falschheit gekennzeichnet sind, daß der Wunsch nach Freiräumen bei Personen mit ausgeprägterer Individualität und einer Aversion gegen Fremdbestimmung übermächtig wird. Daß die Protagonistin in den Berichten über die Berufung der Propheten Ezechiel und Moses (Ezechiel I, 1-21, Exodus II-IV) ein höheres Wesen entdeckt und einen interpretierbaren Diskurs kennenlernt (der sich von jenen der approbierten ein-geleisigen, naturwissenschaftlichen und technischen Schriften radikal unterscheidet), ( 82) bedeutet für sie in erster Linie die Eroberung von solchen Freiräumen. (Religionen, Geisteswissenschaften und Künste sind zweifellos auch deshalb verboten.) Darum entscheidet sich Nathalie, obwohl sie sich berufen fühlt, nicht für das Engagement wie die beiden Propheten, sondern für den Rückzug des Mystikers, und verzichtet in letzter Konsequenz auf eine Operation, mit der sie ihr Gehör retten könnte.
Auch die Gegenwarts-Satire kommt in diesem Roman nicht zu kurz. Den Zwang zum positiven Denken, zur popularity, dem Glauben an die Allmacht der Psychohygiene, Psychologie und Psychiatrie, die zu Praktiken wie verlogenen Befindlichkeits-Runden bzw. zur Zwangspsychiatrierung nicht normgerechter Individuen führt, gibt es nicht nur in den USA, sondern mittlerweile auch schon in Europa in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Köstlich ist z.B. die Darstellung einer Befindlichkeitsrunde, in der Böswillige, ohne sich rechtfertigen zu müssen, die absurdesten Unterstellungen vorbringen dürfen, wenn die Anschuldigung formal nicht als Sachverhalt präsentiert wird, sondern als Äußerung der eigenen Gefühle:
"Mein Tag ist eigentlich sehr gut gelaufen," sagt sie, "trotzdem fühle ich eine große Traurigkeit. Ich habe mich gefragt `Warum´? oder auch `Woher´?. Woher kommt diese Traurigkeit? Und ich denke, sie hängt mit Ihrem Verhalten zusammen. [...] Wie Sie zu schreiben begonnen haben, während wir anderen zusammen den Film ansahen. Das hat mich so traurig gemacht, weil es gezeigt hat, dass Sie uns, die Gruppe und eigentlich auch sich selbst nicht wirklich ernst nehmen." (16)
Paganini schreibt sehr klar, und das führt dazu, dass der Leser u.U. an Wendungen hängen bleibt, die in weniger präziser Sprache nicht weiter auffallen würden. So war ich einige Male irritiert von einem mich paranoid anmutenden Hang zur Selbstbeobachtung: "Voll Hohn und Schmerz zieht sich meine Stirn in Falten, und ebenso unwillkürlich setze ich mich auf" (94) noch dazu an einem Punkt der Erzählung, an dem die Protagonistin aus einer Art Ohnmacht erwacht, oder "mechanisch lege ich ein paar Scheiter nach," (95) "und indem mein Blick weicher wird," (91) "auf diese Weise nähre ich meine Magengeschwüre, denke ich mit einem bitteren Beigeschmack." Vielleicht jedoch soll hier ganz bewußt auf die Paranoia einer ständig unter Kontrolle stehenden Person hingewiesen werden. Sehr gelungen erscheinen mir die Schilderung der Berufungsvision, die vage die Episode von Moses und dem brennenden Dornbusch evoziert (87-88, Exodus III) und die Versuche, den Erwerb neuer Methoden des Denkens und Erkennens in sinnliche Wahrnehmung zu übersetzen: Sie spricht von Hören, Sehen, Begreifen. (61, 90) Wenn man bedenkt, daß die Autorin erst 25 ist und daß sich das Ergebnis eines so anspruchsvollen Projekts so erfreulich liest, darf man weiteren Büchern mit gespannter Erwartung entgegensehen.
Tschörner Sylvia