Rezensionen 2002

Joseph Zoderer, Der Schmerz der Gewöhnung. 
München: Hanser, 2002, 289 Seiten.

Ein Buch über das Fremd-Sein.

"Der Schmerz der Gewöhnung" ist der bisher umfangreichste Roman von Joseph Zoderer. Vielleicht auch der gewichtigste.
Jahre nach dem Tod seiner kleinen Tochter zieht sich Jul, ein deutscher Südtiroler, nach Sizilien zurück, nach Agrigento, wo er durch die gespenstisch gezeichnete Stadt irrt und in einem schäbigen Hotelzimmer über sein Leben reflektiert. Nicht zufällig hat er sich in diese Stadt verkrochen, denn aus ihr ist der (längst tote) Vater seiner Frau Mara, der Großvater seiner Tochter, in den dreißiger Jahren als faschistischer Funktionär nach Südtirol gekommen. Ihm spürt er nach.
Diese Vergangenheit - eines Mannes, den Jul nicht gekannt hat - , Juls eigenes Leben, seine Schwierigkeiten mit seiner Frau, deren Schwierigkeiten mit dem Leben in Südtirol, wo sie doch aufgewachsen ist - das alles ist im von Schmerzen geplagten Kopf der Hauptfigur zugleich präsent. Alle diese Erfahrungen sind Erfahrungen der Fremdheit, des Misslingens von Kommunikation - allein die immer wieder herauf beschworene Tochter scheint Jul nicht, allein ihr scheint er nicht fremd gewesen zu sein. Extrem des Fremdseins ist der Aufenthalt in der sizilianischen Stadt, die in konsequentem Kontrast zur Pustertaler Heimat gestaltet ist.
In einer kurzen Rezension lässt sich das höchst komplexe, raffiniert gestaltete Geflecht der Kontrastierungen und Gleichsetzungen nicht annähernd vollständig analysieren; jedenfalls nützt der Autor die Möglichkeiten der gewählten Erzählsituation souveräner denn je, um die Erfahrung von Fremdheit über seine Hauptfigur hinaus verallgemeinernd als Grunderfahrung unserer Zeit zu vermitteln.
Dazu tragen (oft fast versteckte) Parallelisierungen nicht wenig bei, etwa zwischen den auf Fotos immer wieder auftauchenden Uniformen der Faschisten und den Trachten von Schützen und Musikkapellen. Stellen, an denen der Linke Jul an sich selber faschistoiden Nationalismus entdeckt, gehören zu den erzählerischen Höhepunkten des Buches, zumal der Streit mit italienischen Gästen in einem Berggasthaus, eine Stelle, an der erzählerisch sehr geschickt der Umgang der Angehörigen von zwei Nationen miteinander in Parallele gesetzt wird zum atavistischen Aggressionsverhalten von Hunden. (Dass das Leitmotiv 'Hund' im letzten Satz des Buches wieder kehrt, gibt dem Vergleich zusätzliches Gewicht.)
Das Hervorheben dieser Passage könnte zur irrigen Deutung führen (die der Werbetext des Verlags fördert), Zoderers Buch sei ein Südtirol-Roman (was schon "Die Walsche" nicht gewesen ist). Wäre es ein solcher, müsste man den Tod des kleinen Mädchens, der Tochter der Italienerin und des Deutschen, als ein (penetrantes) politisches Symbol, als Symbol für die Unmöglichkeit des Zusammenlebens der beiden Nationen verstehen. Das wäre ein Missverständnis (dem der Roman in Nord- wie in Südtirol freilich ausgesetzt sein wird); derart schlichte Symbolik ist Zoderers Sache nicht.
Der Pessimismus des Buches betrifft nicht dieses politische Problem - das freilich den sehr präzise erfassten Hintergrund des Romans bildet - , sondern die existenzielle Schwierigkeit des Zusammenlebens und des Zusammenfindens von Menschen. Der allein durch das fremde Agrigento irrende Jul hinterlässt einen intensiveren Eindruck als Jul, der deutsche Mann einer Italienerin, mit der er sich nicht mehr versteht (wobei der Sprachwechsel der jungen Frau zum Deutschen und die Irritation des Manns durch ihre gelegentliche Rückkehr zum Italienischen zu den genau beobachteten Details des Romans gehört). Subtil werden sprachliches und kulturelles Fremdbleiben und Fremdheit im Persönlichen und Persönlichsten miteinander in Verbindung gebracht, nicht im Sinn einer kausalen Erklärung, sondern als verschiedene Facetten einer Grundbefindlichkeit.
Zoderers Kunst des Formulierens - mit im Grunde sehr einfachen Sätzen und Bildern - ist in diesem Buch besonders in den Landschaftsbeschreibungen zu finden, auch in der erschreckenden Darstellung der Schmerzen der am Schluss zusammenbrechenden, wohl sterbenden Hauptfigur. Manche Stelle über das Verhältnis der Italiener zur Südtiroler Umwelt ist pointiert, die eine oder andere geradezu witzig.
Nicht jede Passage, nicht jedes Motiv ist gleich gelungen. Ganz unverständlich ist, warum der präzise Beobachter Zoderer das Wiener Café Raimund als "Raimund-Café" bezeichnet; sonst gibt es kaum ein Detail, das nicht exakt wäre. Dass Mara, die italienische Frau von Jul, die Tochter des Faschisten, nicht ganz so intensiv gestaltet ist wie die dominante Figur ihres Mannes (dessen Perspektive den Roman bestimmt) und selbst die Figur ihres (von Jul nur rekonstruierten) Vaters, stört das Gleichgewicht zwischen den Figuren - obwohl andererseits Zoderer gerade über sie einige der besten Formulierungen des Romans gelingen, etwa: "Mara blickte wie von außen auf diese Menschen" (in Südtirol).
Insgesamt ist die Konstruktion des Romans aber so klar wie komplex, so unaufdringlich wie funktional. Die Lebendigkeit des Kindes, an das Jul immer wieder denkt, etwa ist nicht, wie ich zuerst gedacht hatte, ein Element, das sich verselbstständigt hätte, sondern ein Motiv, das der Roman als Gegengewicht zu seiner Skepsis gegenüber den Möglichkeiten des Zusammenlebens von, des Kommunizierens zwischen Menschen braucht.
Ein solches Gegengewicht ist auch der - verallgemeinerbare und dann doch wieder Hoffnung gebende - Satz: "Er liebte an Mara die Fremde oder das Fremde."
Über diesen Roman lässt sich sehr viel sagen, aber wenig Eindeutiges - der beste Beweis für seine Qualität.

Sigurd Paul Scheichl

Nach oben scrollen