Rezensionen 2002

Raoul Schrott, Khamsin. 
Frankfurt/Main: S. Fischer, 2002, 64 Seiten.

"Auf und davon nach Timbuktu"

Sollte Thomas Bernhards opus magnum, der Roman "Auslöschung", ins Arabische übersetzt werden, würde sein Titel ›ibada‹ lauten. Auf solche Gedanken kann man kommen, wenn man "Khamsin" liest, dieses schmale Buch, das die gleichnamige Erzählung und den Essay "Die Namen der Wüste" enthält. ›Khamsin‹ ist einer dieser Namen, jener, den die Nitalbewohner für ihre Wüste hatten.

1. "Als sie nordwärts auf ein paar Hügel "zuhielten" ... "
2. "... ihr Wagen, der unter einer "Auskragung" des Felsens lag."
3. "Es war eine teilnahmslose Stille, dumpf wie hinter einem "Schott" ..."
4. "Der Hunger war ein Tier, das man in sich trug. Er spürte, wie es eingerollt und plump sich langsam zu regen begann, hornig den verknöcherten und verknorpelten Rücken mit seinen ledrigen Schuppen an der Bauchdecke wetzte, die weiche Unterseite und ihre Borsten an der Kerbe des Brustbeins, die zentimeterlangen Grabkrallen unter seinen Rippen, den dicken, gepanzerten Kopf mit seinen verkümmerten Zähnen, der ihm bis zum Hals reichte, dieses Tier, das sich wand und krümmte, sich einen Bau in seinem Körper grub, ihn von innen ausschabte, Schicht um Schicht, bis an die Stränge der Nerven und die dünne Epidermis, die sich über dem härter werdenden Bauch spannte und ein einziger Schmerz war. Für Winchester war es wie eines der Gürteltiere, die er nachts früher oft gejagt hatte."

1. bis 3. - das sind einige der schönsten Formulierungen und Wörter der Erzählung, die man gerne wie in der Volksschule mit offenem Mund von der Tafel abschreiben möchte. ›Wadi‹, ein anderes dieser Wörter, wirft einen unwillkürlich und so zusagen "Durch die Wüste" in die Karl-May-Phase zurück. Weil man schon erwachsen ist, liest man Schrotts Kalligrafie bloß und ist froh, dass es nicht nur Karl May gibt. Enwindet man sich der Sprachmagie, entdeckt man 4.: eine packende, kenntnisreich und makellos erzählte wahre Wüstengeschichte des Jahres 1941, deren einer Protagonist eben Winchester heißt.
"›Er ist auf und davon nach Timbuktu‹, lautet eine Redensart, was bedeutet: ›Er ist durchgedreht (oder im Drogenrausch), ›Er hat seine Frau (oder seine Gläubiger) im Stich gelassen‹, ›Er ist auf unbestimmte Zeit fortgegangen und kommt wahrscheinlich nicht mehr zurück‹, oder ›Ihm ist nichts Besseres als Timbuktu eingefallen.‹", schreibt Bruce Chatwin, Raoul Schrotts Verwandter im Geist. "Timbuktu" ist der erste Eintrag in Schrotts Essay und spricht vom Londoner Saturday Club, der Ende des 18. Jahrhunderts u.a. Mungo Park dorthin entsendete. Dieser befuhr den Niger, in dem er 1806 ertrank: Der amerikanische Erzähler T.C. Boyle weiß davon eine "Wassermusik" zu singen, einen süffigen Schmöker hat er darüber geschrieben. Raoul Schrott versteht unter seinen Expeditionen ad fontes selbstredend anderes. Bei ihm kann man ins Detail gehen. Freilich, ob René Caillié, der ebenfalls ›auf und davon nach Timbuktu‹ ging, nun "eine Anhäufung schiefer Lehmhäuser" (Schrott) oder einen "Haufen häßlicher Lehmhäuser" (Chatwin) vorfand, ist im Grunde egal. Boyle seinerseits stellt ohnedies fest: "Ich pflege in ›Wassermusik‹ absichtlich Anachronismen, erfinde Sprachen und Terminologien, und die Originalquellen dienen mir als Material für Abschweifungen und Ausschmückungen. Wo immer die historischen Tatsachen den Bedürfnissen meiner Phantasie Barrieren bauten, habe ich sie, in vollem Wissen und mit reinem Gewissen, in einer Weise umgestaltet, die meinen Absichten entsprach."
Der Venezianer Marco Polo berichtet übrigens von Wüstenmusik: "Wunderbar in der Tat und kaum glaublich sind die Geschichten, die von diesen Geistern der Wüste berichtet werden; sie sollen auch zuweilen die Luft mit den Klängen von Musik erfüllen." Wo? In jenen Wüsten der heutigen Provinz Sinkiang, die hinter der Stadt Lop liegen. "Erzähl mir eine Geschichte, egal, ob sie wahr ist", forderte eine der drei Frauen vom ruhelosen Erzähler und Helden Raoul Louper in Schrotts Novelle "Die Wüste Lop Nor"; "Erzähl mir eine Geschichte und mach', dass sie wahr ist", bat eine andere. Man kann es ihnen nachempfinden, denn diesen Geschichten, von denen "Khamsin" eine exemplarische ist, lauscht man gerne. "Der Ursprung der Zivilisation liegt in der Wüste", heißt es bei Schrott. Dort kreuzen sich, mag es scheinen, auch die Wege der Weltliteratur. Es ist kein neues, sondern altes Wissen, das weiter erzählt werden muss. Und Raoul Schrott, soviel steht fest, ist ein Mann des alten Wortes, kein Neutöner.

Zum Weiterlesen und -hören:
Raoul Schrott, Die Wüste Lop Nor. Novelle. Hanser Verlag, München 2000 (123 S.), als CD im Hörverlag, München 2000 (65 min.) - T. C. Boyle, Wassermusik. Roman. Rowohlt TB, Reinbek bei Hamburg 2001(20. Aulf., 712 S.) - Bruce Chatwin, Der Traum des Ruhelosen. Hanser Verlag, München 1996 (250 S.) - Bettina Feldweg (Hg.), Den Dünen entgegen. Geschichten für alle, die die Wüste lieben. Malik, München 2001 (319 S.)

Bernhard Sandbichler

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