Rezensionen 2002

Seidl-Todt, Aurelia, ... und es blättern aus den Bäumen.
Lyrik. Innsbruck: TAK, 2002.

„… und es blättern aus den Bäumen“. Irgendwie mutet hier alles „falsch“ an: dieser Titel, bei dem man gerne das Verb korrigieren möchte (sagt man denn nicht es blättert?), das hübsche Passfoto der Autorin, die ausgewogene Struktur, die das Inhaltsverzeichnis verrät.
Der Untertitel heißt: LYRIK. Nicht „Gedichte“, sondern Lyrik. Das klingt knapper, weniger musikalisch. Und da erwacht die Neugier.

Das Buch ist in vier Teile unterteilt, welche mehr oder weniger alle gleich lang sind: „im Windschatten der Zeit“, „…und es blättern aus den Bäumen“, „Tauziehen“, „und kannst es wenden wie du willst“.
Absolutes Hauptthema ist die Zeit, ein roter Faden, der den gesamten Band durchzieht. Das ewige Fließen der Zeit, gegen die man zwar ankämpfen, aber nicht gewinnen kann. Bereits das erste Gedicht empfiehlt, nicht allzu viel Gas zu geben, sondern im Windschatten der Zeit zu fahren. Auch das einleitende Gedicht des dritten Teiles („Tauziehen“) erinnert den Leser oder die Autorin daran, dass man dieses Spiel verlieren muss, so sehr man sich auch dagegen sträubt:

da täuscht kein
Makeup hilft kein straffer
BH denn du landest
im Bach springst du da
rüber und steigst du auf
Bäume schlägst du hart
auf rien ne va plus.

Die Beispiele, die man zitieren könnte, sind endlos. Diese Angst vor der Zeit überrascht, wenn man an das Alter der Autorin denkt (1948 geboren). Dabei ist diese Angst ein globales Gefühl aller Zeiten, und insbesondere unserer modernen Zeit, wo Mann wie Frau nicht mehr nur den Tod, sondern vor allem die Spuren des Alter(n)s fürchten. Wenn in „Tauziehen“, „Zeit für Raben“ oder „eingeschneit alles“ die Resignation sich noch in Grenzen hält, so hört man aus „Gründlich“ schon Angst heraus. Trotzdem lehnt sich die Autorin immer wieder gegen den Feind auf: „für langsames Sterben / bleibt noch Zeit genug“ meint sie in „wieder haben“. Und aus diesem Motto scheint dieses Buch geboren zu sein.

Ein weiteres Thema ist die mit jeder Faser ihres Seins erlebte Natur, die etwas Allgegenwärtiges, Großes und gleichzeitig auch „Natürliches“ ist.

[…] doch etwas war anders
heute früh hat die Amsel
ihre Stimme wiedergefunden
und ich aus der Hüfte
neuen Schwung

Diese große Liebe zur Natur verleiht vielen Werken eine ungeheure Intensität, führt aber dort, wo die Metaphern allzu üppig eingesetzt werden, auch aufs Glatteis: das sind die wenigen eher schwachen Gedichte dieses Bandes.

Seidl-Todt schreibt sehr persönliche Gedichte, aber keine „Frauengedichte“, die Gedichte könnten gleichermaßen von einer Frau wie von einem Mann geschrieben sein, was den Stil betrifft: straff, unsentimental. Gerne benutzt die Autorin das zusammenfassende, abschließende Partizip Perfekt, wie zum Beispiel in „der Durchreisende“: „dem Vieh das Heu eingeholt / dem Bauer die Scheune gefüllt / den Raben wieder geräumt das / Feld […].
Die Dichterin verzichtet auf sämtliche Satzzeichen, behält aber die Groß- und Kleinschreibung bei, mit Ausnahme der Tatsache, dass ein Gedicht ohne Weiteres auch klein beginnen kann (wie z.B. der Titel).
Diese Stilmittel sorgen dafür, dass der Leser sich konzentrieren muss, er kann nicht einfach die Sätze mal schnell überlesen, weil er ansonsten den Faden verliert. Andererseits aber ist der Stilbruch nie so extrem, dass die Gedichte hermetisch oder unverständlich würden. Mit ein bisschen Konzentration versteht man den Satzbau. Um den Sinn zu verstehen, verlangt die Autorin aber auch ein bisschen Kopf (und Herz?).

Eine einfache Sprache also, sagten wir. Dies gilt auch für die Bilder und Symbole, welche direkt dem Alltag entnommen sind. Wie Roland Jordan im Buchumschlag hervorhebt, versucht die Autorin, „Gegenstände des unmittelbaren Erlebens (…) und selbst der scheinbar grauen und gräulichen Alltäglichkeit (…) in Sprache zu fassen.“ Dies führt dazu, dass die zahlreichen Symbole, die Seidl-Todt verwendet, selten gekünstelt wirken, sondern immer realistisch und damit eine erhöhte Wirkung erzielen. Einen Raben als Todessymbol herzunehmen ist nicht sehr originell, in seinem natürlichen Kontext aber wirkt er absolut überzeugend:

das Licht im Rücken eilt
voraus mein Schatten lang
wo länger noch die blind
vertrauten Wege und ihr
die ihr im Vorübergehen
mein Leben längst berührt
heraussteigt aus Erinnern
fremde Statisten – so
wandelt ihr durchs Feld
seid verwunschne Raben […]

Die Österreicherin Seidl schreibt bestes Deutsch, nur die oft eingeschobenen „mein Bester“, „meine Liebe“ stören die Reinheit dieser Sprache, was aber durchaus positiv zu verstehen ist, denn sie lockern sie auf, wodurch die Autorin eine aseptische Sprachschule vermeidet. Sie sorgen dafür, dass die Gedichte noch persönlicher wirken als sie es ohnehin schon sind. Wie bei allen guten Gedichten ist das Persönliche aber so verfasst, dass es nie peinlich anmutet, sondern zum Öffentlichen wird.
Dies gilt auch für ein zweites auflockerndes, sehr persönliches Thema, das den Band durchzieht: ihre Liebesgeschichte, wo sich diskrete Erotik und Gefühl, auch Verlustgefühl, abwechseln, aber nie einer leicht zu erwartenden Sentimentalität Platz lassen.

immer wieder zurücklassen
dich abstreifen vor der Tür
und so tun als hätt es dich
nie gegeben

Überraschend wirken im Rahmen dieser an sich doch eher sanften Gedichte, die Gedichte „vielleicht nur Zufall“ und „noch einmal Zufall“: das respektlose Sinnen über das Autokennzeichen GOTT 1, das vor ihr im Morgenverkehr herfährt („als ob es einen zweiten gäb“) erinnert an die Beerdigung von W.D. Schnurre, wo ein „gewisser Gott oder Klott“ begraben wird.

Ein interessanter Lyrikband also, wo zwar auf den ersten Blick alles „falsch“ anmutet, wie wir eingangs sagten, der Inhalt aber absolut stimmt.

Marlene Kuppelwieser

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