Rezension 2010

Arno Heinz, Schwindelfrei im Lichtmeer. Erzählung. Mit Vignetten des Autors
Innsbruck: Kyrene 2009

„Sie haben nicht das Recht, abseits zu stehen“, mahnen ominöse Stimmen den Protagonisten in Arno Heinz‘ Erzählung Schwindelfrei im Lichtmeer, als dieser sich gerade in der Belletristik-Abteilung einer Buchhandlung befindet und einen Gedichtband von Erich Fried aufschlägt. Die Stimmen fordern ihn dazu auf, eine verdächtige Person beim Buchstaben T der Belletristik-Abteilung zu observieren. „Es war SIE, die Frau, die ihm aufgefallen war, die er aus irgendeinem Grund anziehend gefunden hatte und der er aus seiner gewohnten Umgebung der Fachbücher in die fremde Welt der Belletristik gefolgt war.“ Rasch fügt sich der Angesprochene in sein Schicksal und in die Rolle eines Geheimagenten. Denn „diese Art der Agententätigkeit“, so die Stimmen, sei „ideal für Mitglieder der heutigen Multi-Optionsgesellschaft, eine Öffnung der Arbeitszeit nach oben in freiwillige, aber aus moralischer Sicht obligatorische Sozial- und Arbeitsdienste, eine selbstverständliche Lebensform, die uns im Innersten ergreift und über uns hinausgeht, entsprechend dem Willen des modernen Menschen zur Steigerung, zum Vorwärts, zum Mehr-Machen und Mehr-Sein, über den Schwebezustand zwischen Wirklichkeit und Wunsch hinaus, immer neue Grenzen zu überschreiten und am liebsten schon dort zu sein, wo man noch nicht ist und sich noch nicht dazu entschieden hat, zu sein“.

Lichtgestalter von Beruf, mehrfach geschieden, Rationalist, reist er, ein moderner Nomade, durch Europa, von einem Projekt zum nächsten, Flughäfen, Konferenzräume, Hotelzimmer sind ihm Arbeitsstätte und Zuhause. Die Maximen der modernen Gesellschaft hat er längst verinnerlicht. Ein Jahr lang, von Dezember bis Dezember, durch das Wachsen und Abnehmen des Lichtes, begleitet ihn die Erzählung bei seinem rätselhaften Auftrag von einem Ort zum nächsten, verfolgt seinen Weg in zunehmende Isolation und Paranoia. Allerorts wittert er Verschwörung und fürchtet „hinters Licht geführt zu werden“, Angst ist ein Grundtenor der Erzählung. Angst (unter anderem vor dem Irrationalen) ist es wohl auch, die es dem Protagonisten unmöglich macht, sich auf Begegnungen mit verschiedenen Frauen – ein Leitmotiv der Erzählung – einzulassen.

Erzählt werden Episoden aus dem Alltagsleben des Helden, lose zusammengehalten durch den Handlungsfaden des Spionageakts. Immer wieder fällt er in Schlaf und beginnt zu träumen – werden die Schilderungen alltäglicher Situationen durchbrochen von bildhaften, verdichteten Textpassagen. Die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion, Bewusstem und Unbewusstem, Tag und Nacht scheint dabei zunehmend an Bedeutung zu verlieren, durchlässig zu werden. Daneben finden sich manchmal ironische sowie gesellschafts- und vor allem sprachkritische Betrachtungen und Reflexionen des Erzählers. Das Spektrum der Themen ist dabei weit gesteckt, da geht es um Kontrolle und den gläsernen Menschen, Terrorangst und Verschwörungstheorien, die Informationsgesellschaft, und, der Autor erweist sich hier als Kenner, immer wieder um Licht und Architektur.

Ästhetisch gleicht der Ton der Erzählung dem Akt des Zappens beim Fernsehen: Es mischen sich die verschiedensten Textgenres, Stile und Themen, Vielstimmigkeit charakterisiert die Erzählung. Sie erinnert an das unentwegte Angesprochensein durch die Medien. Gegen ihr Ende hin spielt der Protagonist mit dem Gedanken, es dem Staubsaugervertreter James Wormold aus Graham Greenes Roman Unser Mann in Havanna gleichzutun und seine Auftraggeber mit fingierten, erschwindelten Informationen zu füttern. Doch hatte Greenes Romanheld im britischen Geheimdienst noch eine institutionelle Macht als Gegenüber, so stellt sich im vorliegenden Fall die Frage: „Wer hat hier das Kommando?“.

Gefangen ist die Hauptfigur im Spiel der Bedeutungen, mit ihr der Leser. Voller Anspielungen auf Literatur und Film, Philosophie- und Kunstgeschichte steckt die Erzählung. Andererseits führt diese Dichte an Zitaten und Anspielungen, Informationen und Themen dazu, dass die poetische Aussage verschwimmt und am Ende der Lektüre wenig haften bleibt.

Schatten und Licht sind die tragenden Motive der Erzählung. Nicht zufällig taucht wiederholt Platons Höhlengleichnis im Text auf, geht es dem Autor wohl – zumindest auf einer wesentlichen Ebene des Textes – um Fragen nach Möglichkeiten der Erkenntnis. Dabei scheint Licht nicht unbedingt Garant für Wahrheit zu sein, braucht es die Nachtseiten. So lässt sich der Text auch als Plädoyer für die Freiheit der Phantasie lesen: „Das Gedicht / wird richtiger, / die Welt / wird falscher“ liest der Protagonist zu Beginn der Erzählung aus Erich Frieds Gedichtband Warngedichte (1964) und lässt dann das Buch irgendwo liegen.

Iris Kathan

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